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Archiv "Warum kommt der Patient gerade jetzt" (25.04.1997)

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enn endlich zur Kenntnis genommen wird, daß rund 40 Prozent der hausärztli- chen Klientel eine somati- sche Eintrittskarte vorzeigt, hinter der sich ein psychisches Problem ver- birgt, und wenn Gesprächsziffern im Übermaß abgerechnet werden, müs- sen auch einfache psychotherapeuti- sche Zusammenhänge allgemeinärzt- lich erörtert werden.

In fast jedem Krimi geht der Tä- ter zum Tatort zurück. Warum kommt ein/e Patient/in immer wieder, und warum gerade jetzt, warum nicht vor einem Jahr oder in zwei Jahren? War- um beharrt er/sie – bei den sogenann- ten schwierigen Patienten – so auf sei- nem/ihrem Symptom? Warum helfen die vielen organischen Durchuntersu- chungen häufig so wenig?

Man kann Läuse und Flöhe ha- ben. Gut, die Läuse sind ausgeschlos- sen, und jetzt? Bei den Juristen heißt es: In dubio pro reo. Auch bei uns hat der/die Patient/in recht; er/sie kommt nicht aus Jux und Dollerei.

Was ist mit den Flöhen?

Hier gilt es, den Menschen in sei- ner lebensgeschichtlichen Entwick- lung zu sehen: Was stimuliert in der Gegenwart eine Verletzung, eine see- lische Behinderung, die in der Ver- gangenheit traumatisch war, aber nicht ausheilen konnte, und jetzt, nach außen nicht sichtbar, durch äußere Bedingungen aber wieder be- lebt wird? Eine Verletzung, die auch vom Patienten nicht ursächlich er- kannt wird, weil die Psyche zur Zeit der Schädigung – meist in jungen Jah- ren – durch Vorwärtsstrategie kom- pensatorisch und verdrängend damit umgeht. In der Kindheit galt es, viele Lebensprobleme zu bewältigen. Für das psychische Trauma blieben keine Kraft, kein Raum, kein Verständnis der Umwelt, oder einfach keine Mög- lichkeit, Punkt.

Wann geht die Psyche zum „Tat- ort“ zurück?

Hierzu ein „Fall“: Von einem nie- dergelassenen Arzt wird eine 40jähri- ge Frau zu einem Psychotherapeuten, einem Arzt für Psychiatrie, überwie- sen, wegen eines „untergründigen Schmerzes in der Wangengegend“.

Dieser war so heftig, daß sie einen Zahnarzt damit so nervte, daß dieser ihr die Zähne des ganzen Oberkiefers

zog. Dies geschah wider besseres Wis- sen, weil er an den Zähnen nichts Krankhaftes finden konnte und auch der Patientin gegenüber beteuerte, daß diese „Sanierung“ gegen ihre Schmerzen nichts bewirken werde, was auch der Fall war. Die Patientin forderte, daß auch die Zähne des Un- terkiefers rauskämen – und der Haus- arzt bestand auf einer Überweisung zum Psychotherapeuten. Auf die Fra-

ge, wann diese Schmerzen besonders schlimm seien, schildert sie ein „emp- ty nest syndrome“, wie das heute heißt: Ihre beiden Kinder sind er- wachsen, die letzte Tochter verließ kürzlich das Elternhaus. Ihr Ehe- mann ist als Vertreter viel und lange unterwegs. Immer wenn sie vom Ein- kaufen ins leere Haus käme, seien ih- re Beschwerden besonders groß. Hier besteht der Schmerz also im Allein- sein, mit dem die Patientin nicht fertig wird. Sie greift nicht zum Glas – im Schwäbischen wird das Wort „Schop- pen“ für das Kinderfläschchen und gleichfalls für den Schoppen Wein be- nutzt –, sondern ihr Körper springt für

ihre seelische Not ein. Wo kommt Al- leinsein/Verlust im früheren Leben der Patientin vor?

Die Mutter der Patientin stirbt an Brustkrebs, als die Patientin sieben Jahre alt ist. Die letzte bedeutsame, schmerzliche, körperliche Begegnung zwischen Mutter und Tochter ereignet sich wenige Tage vor dem Tod der Mutter: Die sterbenskranke Frau war nach Hause entlassen, wo Großmutter für die drei gekocht hat und die Pati- entin nach dem Essen auffordert, beim Abtrocknen zu helfen. Die Pati- entin erwidert motzend und vom dro- henden Verlust schmerzlich bewegt, sie habe dazu keine Lust. Daraufhin beugt sich die Mutter mit letzter Kraft vor und gibt der Patientin eine Ohr- feige. Resultat: ein untergründiger Schmerz im Wangenbereich.

Alleinsein, sei es durch Tren- nung, Verlust oder Tod in der Umge- bung der Patientin, wird also psy- chisch immer einen innerlichen Bezug zum traumatischen Geschehen in der Kindheit dieser Patientin haben. Auf meine Frage, wie es ihr ergangen sei, als ihre Kinder sieben Jahre alt wur- den, erinnert sie sich an eine schwere depressive Krise, die sie damals mit ihrer Vorgeschichte so aber nicht in Zusammenhang brachte.

Manchmal ereignen sich solche Einbrüche auch erst in der Enkelge- neration, wenn die Enkel das Alter erreichen, in dem die Patientin/der Patient in ihrer/seiner Kindheit solche

„seelischen Fixierungen“ erlitten.

In unserem Fall „erinnert der Körper“, er eilt der Psyche zur Hilfe.

Der Verlust, das Alleinsein, wird als

„Körpersymptom Schmerz“ zum Arzt getragen. Aufdeckung dieser Zusam- menhänge und nachträgliche Trauer- arbeit, die jeder Hausarzt durch Ge- spräche über „das Trauma“ leisten kann, ist die „Behandlung der Wahl“.

Balintgruppen, in denen solche Patienten vorgestellt werden, bieten den Diskussionsrahmen für mögliche Hilfe und Unterstützung in der loh- nenden Arbeit mit dieser großen Pati- entengruppe, für die jeder Kollege zu- nehmend ein „drittes Ohr“ ent- wickeln kann. Statt mit Erschöpfung zu kämpfen, kann die Arbeit so auch wieder Spaß machen.

Dr. med. Hans-Joachim Rannow, Lüneburg

A-1112 (28) Deutsches Ärzteblatt 94,Heft 17, 25. April 1997

P O L I T I K GLOSSE

Zeichnung: Jörg Spielberg, Kempten

? Warum .

kommt der

Patient

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