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Archiv "Deklaration von Helsinki: Umstrittenes Dokument" (15.02.2002)

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ie wohl bekannteste Deklara- tion des Weltärztebundes (World Medical Association, WMA) ist die Deklaration von Helsinki. Zwar ist sie kein rechts- verbindliches Dokument, doch ihre Regeln werden in fast jedem Land angewandt, und ihr Einfluss auf die ärztliche Ethik in der Forschung am Menschen ist unbestritten. Ent- standen ist sie, wie Dr. med. Otmar Kloiber, Dezernent in der Bundes- ärztekammer, vor kurzem auf einer Tagung der Deutschen Gesell- schaft für Pharmazeutische Medi- zin in Köln berichtete, „vor dem Hintergrund tragischer Ereignisse der frühen 60er-Jahre“. Das Schlaf- mittel Contergan hätte zu schwe- ren Embryopathien geführt, und die Frage nach der Arzneimittelsi- cherheit und -prüfung sei plötzlich in das Bewusstsein der Ärzteschaft gedrungen. 1975 sei in der Revision von Tokio verlangt worden, die Forschungsprotokolle Ethikkom- missionen zur Beratung, Stellung- nahme und Orientierung zuzulei- ten. Damit sei ein neues institutio- nelles Instrument in die Planung von Humanexperimenten einge- führt worden.

Zu den wichtigsten Zielen der Deklaration gehören die wissen- schaftliche Qualität des For- schungsvorhabens, die Erfordernis der Einwilligung nach Aufklärung (informed consent) sowie die Aus- gewogenheit von Nutzen und Risi- ko. Darüber hinaus unterschied die

„alte“ Fassung zwischen therapeuti- scher und nichttherapeutischer For- schung am Menschen. Die Version von 1964 geriet jedoch zunehmend unter Kritik. „Insbesondere die un- terschiedliche Bewertung von kli-

nischer und nichttherapeutischer Forschung erschien nicht mehr relevant, ja sogar falsch, und die Bestimmungen über den ,informed consent‘ erschienen für viele For- schungssituationen unangemessen oder sogar prohibitiv“, sagte Kloiber.

Etliche Forscher hätten in der Deklaration eine Behinderung der Grundlagenforschung, aber auch der Forschung an Nichteinwilli- gungsfähigen gesehen. Auch das Prinzip, dass das „Interesse der Wissenschaft und der Gesellschaft niemals Vorrang vor den Erwägun- gen hat, die das Wohlbefinden der Versuchspersonen betreffen“, stieß auf Kritik. Stattdessen solle der Dienst an der Gemeinschaft in Form des Wissenszuwachses dem Individualwohl vorangestellt wer- den. Der Weltärztebund habe sich, so Kloiber, in einer mehrjährigen Diskussion mit diesen Kritikpunk- ten auseinander gesetzt.

Die deutsche Delegation habe auf die „Beibehaltung der Substanz und der Prinzipien der Deklarati- on“ gedrängt. Grundlage dieser Auffassung sei das Göttinger Papier aus dem Jahr 1999 gewesen, das die Ergebnisse eines internationalen Symposiums unter Leitung von Prof. Dr. iur. Erwin Deutsch und Prof. Dr. iur. Jochen Taupitz fest- hält. Die Göttinger Konferenz habe

„sehr wohl erkannt, dass eine Präzi- sierung der Nutzen- und Risikoab- wägung, der Maßgeblichkeit der mutmaßlichen Einwilligung, der Forschung an Nichteinwilligungs- fähigen und der Rekrutierung der Teilnehmer“ vorgenommen werden müsse, betonte Kloiber.

Der Weltärztebund sei diesen Vorschlägen gefolgt, berichtete T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 7½½½½15. Februar 2002 AA409

Deklaration von Helsinki

Umstrittenes Dokument

Über die Neufassung vom Oktober 2000 und eine vor kurzem beschlossene „Note of Clarification“gehen die Meinungen auseinander.

Die Deklaration von Helsinki wurde vom Weltärztebund im Jahr 1964 beschlossen. Im Oktober 2000 wurde sie revi-

diert. Fotos: Archiv

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Kloiber. Prof. Dr. med. Elmar Doppel- feld, Vorsitzender des Arbeitskreises medizinischer Ethik-Kommissionen in der Bundesrepublik Deutschland, sieht dennoch erhebliche Diskrepanzen zwi- schen dem „Göttinger Papier“ und der Deklaration vom Oktober 2000. Die strikte Trennung zwischen klinischer und nichtklinischer Forschung sollte aufgegeben werden. Anders als von der Bundesärztekammer gefordert, so Kloiber, seien nicht zusätzliche Kriteri- en für die nichtklinische Forschung for- muliert worden, sondern es seien viel- mehr „additional principles for medi- cal research combined with medical care“ niedergelegt worden. Mit der Überarbeitung der Deklaration wur- den im Wesentlichen drei Ziele ver- folgt: „1. Es sollte eine Handreichung zur Bewältigung der mit dem Human- experiment verknüpften ethischen Di- lemmata entstehen. 2. Es sollte ein Vor- schlag für die Gestaltung der Rahmen- bedingungen aufgezeigt werden, und 3. sollte der Schutz der Probanden oder Patienten gefestigt werden.“ Der

Weltärztebund habe sich dazu ent- schlossen, den Schutz der Kontroll- gruppen in klinischen Versuchen nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau anzusiedeln. Die Behinderung der Grundlagenforschung sollte heraus- genommen, die Aufgaben der Ethik- kommissionen sollten präzisiert und die Ausbeutung schwacher Bevölke- rungsgruppen sollte verhindert wer- den. Kloiber bezeichnete die im Okto- ber 2000 verabschiedete Deklaration als ein sozial verantwortliches und patientenorientiertes, „ethisch striktes Dokument“.

Taupitz bewertet den überwiegen- den Teil der Veränderungen in der De- klaration von Helsinki ebenfalls positiv.

Die Forschung an Nichteinwilligungs- fähigen sei jedoch in einer Weise gere- gelt, „die die internationale Diskussion auf den Kopf stellt“. So bemängelt Tau- pitz vor allem, dass entgegen internatio- nal vorgetragener Bedenken jetzt auch nichttherapeutische Forschung möglich sei. Zu beanstanden sei, dass dabei keinerlei Anbindung an den mutmaßli- chen Willen des Betroffenen vorgese- hen sei und auch keine absolute Grenze vorgesehen werde. Nicht einmal eine besonders strenge Nutzen-Risiko-Ab- wägung werde gefordert.

Einsatz von Placebos

Umgekehrt sei der individuelle Heil- versuch und der klinisch therapeutische Versuch bei Nichteinwilligungsfähigen offenbar überhaupt nicht mehr erlaubt, und zwar selbst dann nicht, wenn die begründete Hoffnung bestehe, dass

durch den entsprechenden therapeuti- schen Versuch das Leben des Patienten gerettet, seine Gesundheit wiederher- gestellt oder sein Leiden verringert werde. Taupitz kritisiert auch, dass eini- ge Bestimmungen völlig unklar seien.

Außerdem sei die Chance vertan wor- den, zu Themen moderner Forschung Stellung zu beziehen, wie zum Beispiel zur Forschung an Embryonen und Fe- ten (dazu DÄ, Heft 38/2001).

Auf Kritik stieß auch die am 7. Ok- tober 2001 in Ferney-Voltaire vom Vor- stand des Weltärztebundes beschlosse- ne „Note of Clarification“. Sie sei ent- standen, weil die Formulierungen zum Einsatz von Placebos und zur Fortset- zung der Behandlung mit dem besten erwiesenen Verfahren nach dem Ab- schluss der klinischen Versuche auf Protest bei der pharmazeutischen In- dustrie und bei Regulierungsbehörden gestoßen seien, erläuterte Kloiber. Die Kritiker hielten die geforderte „best proven method“ für die Kontrollgrup- pe für nicht sinnvoll, nicht immer machbar und manchmal auch für unnötig.

Der WMA-Vorstand beschloss, die Interpretationsspielräume zum § 29 zu erweitern, so Kloiber. Danach ist der Einsatz von Placebos zulässig, „wenn dies aus wissenschaftlichen Gründen notwendig ist oder wegen der Geringfü- gigkeit der behandelnden Befindlich- keitsstörung verzichtbar erscheint“. Die- se „Note of Clarification“ stößt auf teil- weise scharfe Kritik (dazu der Kommen- tar „Note of Clarification – Kaum zu ver- antworten“ von Taupitz in diesem Heft).

Taupitz vermutet, dass der Wunsch des Weltärztebund-Vorstandes „nach einer heimlichen Inhaltsänderung (noch dazu von einem Gremium, das die Deklarati- on selbst nicht beschlossen hat) zu der ,Klarstellung‘ geführt hat“. Diese Auf- fassung wird von Doppelfeld geteilt:

„Die Deklaration darf nur von der Ple- narversammlung geändert werden. Der Vorstand kann lediglich Empfehlungen abgeben.“

Taupitz befürchtet, dass die Deklara- tion an Bedeutung verlieren könnte:

„Lange Zeit war die Deklaration auf in- ternationaler Ebene das einzige einiger- maßen umfassende und spezifische Re- gelwerk zur medizinischen Forschung am Menschen. Inzwischen hat sie Kon- kurrenz bekommen, und die Konkur- renz wird noch zunehmen.“ So könne beispielsweise die Menschenrechtskon- vention zur Biomedizin des Europara- tes wohl als das kommende Grundge- setz biomedizinischer Forschung im eu- ropäischen Raum angesehen werden.

Kloiber zieht dagegen ein positiveres Fazit: „Wir haben kein perfektes Papier geschaffen, aber einen weltweiten Kon- sens gefunden.“ Gisela Klinkhammer T H E M E N D E R Z E I T

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A410 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 7½½½½15. Februar 2002

Die Regeln der 1964 in Helsinki beschlossenen Deklaration werden in fast jedem Land ange- wandt.

Die Deklaration von Helsinki und die Note of Clarification unter: www.aerzteblatt.de, Rubrik DÄ-plus/Zusatzinfo.

Weitere Informationen: www.bundesaerztekammer.de

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 7½½½½15. Februar 2002 AA411

ie Deklaration von Helsinki exi- stiert seit Oktober 2000 in einer Neufassung, die sich von der vorherigen Version grundlegend un- terscheidet. Zu dieser Neufassung hat der Vorstand des Weltärztebundes auf seiner 160. Sitzung am 7. Oktober 2001 in Ferney-Voltaire (Frankreich) eine

„Note of Clarification“ zu Nr. 29 be- schlossen.

Nr. 29 der Neufassung vom Oktober 2000 ist eine Vorschrift des Abschnitts

„C. Besondere Grundsätze für medizi- nische Forschung in Verbindung mit medizinischer Versorgung“; sie behan- delt demnach Versuche mit Patienten.

Die Vorschrift besagt in ihrem Satz 1, dass die „Vorteile, Risiken, Belastun- gen und Wirksamkeit eines neuen Ver- fahrens ... gegen die-

jenigen des derzeit besten prophylakti- schen, diagnosti- schen und therapeu- tischen Verfahrens abgewogen werden“

sollten. In Satz 2

heißt es: „Dies schließt den Gebrauch von Placebos ebenso wenig aus wie das Unterlassen einer Behandlung, sofern kein erprobtes prophylaktisches, dia- gnostisches oder therapeutisches Ver- fahren existiert.“

Der erste Satz erfasst die Planung des Versuchs, der zweite Satz die An- wendung bei den Studienteilnehmern.

Zur Behandlung hieß es früher in Nr.

II 3 Satz 1, dass „alle Patienten – einschließlich diejenigen einer eventu- ell vorhandenen Kontrollgruppe – die beste erprobte Behandlung erhalten“

sollten.

Das konnte kaum wörtlich genom- men werden, weil das besteVerfahren durch die Studie gerade erst ermittelt werden soll und voraussehbarerweise nicht beide Gruppen (Studien- und Vergleichsgruppe) gleichermaßen das beste Verfahren erhalten werden.

Außerdem erhalten die Teilnehmer der Studiengruppe, bei denen das neue Verfahren angewandt wird, auf keinen Fall die beste erprobte Behandlung.

Immerhin klang aber schon darin an,

was dann in Nr. II 3 Satz 2 alte Fassung ausgedrückt wurde, dass nämlich eine Placebo-Gabe nur dann zulässig ist, wenn es kein erprobtes Verfahren gibt.

Genau diese Forderung enthält auch Nr. 29 Satz 2 der Neufassung, sodass sich insofern gegenüber der früheren Fassung keinerlei Änderung ergeben hat.

Gleichwohl wird gerade dieser Teil der Nr. 29 von der „Note of Clarifica- tion“ aufgegriffen. Es heißt in der

„Klarstellung“ nämlich, dass eine Pla- cebo-Gabe selbst bei Vorhandensein einer erprobten Therapie auch dann zulässig sein soll, „wenn der Zweck des Versuchs es aus zwingenden und wis- senschaftlich überzeugenden methodi- schen Gründen erforderlich macht, die

Wirksamkeit oder Sicherheit der pro- phylaktischen, diagnostischen oder therapeutischen Methode [in einem placebo-kontrollierten Versuch] zu be- stimmen, oder eine prophylaktische, diagnostische oder therapeutische Me- thode bezogen auf eine leichte Erkran- kung untersucht wird und die Patien- ten, die die Placebos verabreicht be- kommen, keinen zusätzlichen Risiken eines schweren oder irreversiblen Nachteils ausgesetzt werden“.

Alternativ zwingende methodische Gründe oder das Fehlen des Risikos eines schweren oder irreversiblen Nachteils für die Versuchsteilnehmer sollen also eine Placebo-Gabe recht- fertigen können. Das bedeutet, dass das Risiko eines schweren oder irre- versiblen Nachteils dann eingegangen werden darf, wenn zwingende metho- dische Gründe dies erforderlich ma- chen, und dass weniger schwere oder reversible Nachteile auch aus nicht zwingenden methodischen Gründen in Kauf genommen werden dürfen. Bei- de Formen der Patientengefährdung

sollen gerade auch dann zulässig sein, wenn anstelle der Placebo-Gabe eine erprobte Therapie zur Verfügung stün- de. Damit wird das Wohl der Versuchs- teilnehmer in kaum verantwortbarer Weise dem wissenschaftlichen Er- kenntnisgewinn untergeordnet, wer- den den Patienten in der Placebo- Gruppe unter Umständen erhebliche Risiken zugemutet, die durch Anwen- dung einer vorhandenen erprobten Therapie möglicherweise vermeidbar wären.

Diese „Auslegung“ ist mit dem Wortlaut von Nr. 29 der Deklaration von Helsinki nicht mehr zu vereinba- ren. Sie widerspricht auch der herr- schenden Auffassung in Deutschland, wobei grundsätzlich gegen eine aner- kannte Methode zu testen ist und davon nur dann abgewi- chen werden sollte, wenn es um mindere Leiden geht, die so wenig ausgeprägt sind, dass die Place- bo-Gabe keine besonderen Gefahren für den Patienten zur Folge hat. In die- ser Richtung wird auch aus internatio- nal vergleichender Sicht argumentiert, dass eine placebokontrollierte Studie bei Vorhandensein einer effektiven Therapie ethisch nicht vertretbar sei, wenn die Patienten durch ihre Teilnah- me „erheblichen Risiken“ ausgesetzt werden. Über diese Fälle geht die

„Note of Clarification“ des Weltärzte- bundes weit hinaus. Hintergrund ist offenbar die Forderung insbesondere aus den USA, die Wirksamkeit/Unbe- denklichkeit eines neuen Arzneimit- tels beziehungsweise Verfahrens grund- sätzlich in placebokontrollierten Ver- suchen zu testen. Die deutsche Praxis sollte dem und damit auch der „Klar- stellung“ des Weltärztebundes nicht folgen. Diese enthält vielmehr einen weiteren Schritt auf dem bereits von der Neufassung der Deklaration von Helsinki eingeschlagenen Weg, den so- zialen „benefit“ gegenüber dem indivi- duellen Nutzen in den Vordergrund zu rücken. Prof. Dr. iur. Jochen Taupitz

KOMMENTAR

Note of Clarification

Kaum zu verantworten

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