A2362 Deutsches Ärzteblatt⏐Jg. 105⏐Heft 45⏐7. November 2008
P O L I T I K
D
er Weltärztebund (World Medical Association, WMA) möchte den Einsatz von Placebos in klinischen Studien aus ethischen Gründen weiter einschränken und hat deshalb die Deklaration von Helsinki revidiert. Es wird jedoch befürchtet, dass die Zulassungsbe- hörden – trotz eines Dementis der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) – die Dekla- ration künftig ignorieren.Die WMA hatte sich erstmals auf der 18. Generalversammlung im Ju- ni 1964 in der finnischen Haupt- stadt zu ethischen Grundsätzen für die medizinische Forschung am Menschen geäußert. Die Deklarati- on von Helsinki wurde zum be- kanntesten Dokument des Weltärz- tebunds. Seit 1964 ist die Deklarati- on fünfmal revidiert worden, zu- letzt im Oktober 2000. Danach hat es noch zwei Klarstellungen (Notes of Clarification) gegeben. Sie be- treffen die Verwendung von Place- bos in klinischen Studien und die Versorgung der Patienten nach dem Abschluss der Studie. Beide fanden
jetzt Eingang in die neue Revision der Deklaration von Helsinki, die kürzlich auf der Generalversamm- lung der WMA in Seoul verabschie- det wurde.
Die revidierte Fassung der De- klaration hält den Einsatz von Pla- cebos (oder den Verzicht auf eine Behandlung in einer Kontrollgrup- pe) nur dann für vertretbar, wenn es keine andere wirksame Behandlung gibt. Doch es werden auch Ausnah- men zugelassen. So dürfen Place-
bos weiterverwendet werden, wenn zwingende (compelling) und wis- senschaftlich schlüssige (scientifi- cally sound) methodologische Grün- de ihren Einsatz erfordern, um die Wirksamkeit oder Sicherheit einer Intervention zu bestimmen, und wenn die Patienten in der Placebo- oder Kontrollgruppe nicht dem Ri- siko einer schweren oder irreversi- blen Schädigung ausgesetzt sind.
Die Deklaration fordert extreme Sorgfalt ein, um einen Missbrauch dieser Option zu vermeiden. Den- noch stellt sich die Frage, ob der Zu- satz nicht doch ein Hintertürchen
öffnen könnte. Gegenüber „Science“
(2008; 322: 516) räumte Eva Bå- genholm, die Leiterin der Ethik- kommission der WMA und Präsi- dentin der schwedischen Ärztekam- mer, ein, dass nicht alle Beteiligten über diesen Zusatz glücklich seien.
Das trifft auch auf die zweite Än- derung zu. Der Weltärztebund for- dert, dass Patienten nach dem Ab- schluss einer klinischen Studie nicht nur über die Ergebnisse informiert werden müssen, sondern dass sie
von den sich aus der Studie ergeben- den Vorteilen profitieren sollen. Pa- tienten sollen folglich die Behand- lung – sollte sie sich als vorteilhaft erwiesen haben – auch nach Ab- schluss der Studie erhalten. Nach ei- ner möglichen Interpretation der neuen Deklaration müssten die Pati- enten lebenslang weiter mit Medi- kamenten versorgt werden, was zu erheblichen Kosten führen könnte.
Hier fürchtet selbst Jeffe Blackmer, ein Ethiker der kanadischen Ärzte- schaft (Canadian Medical Associa- tion), also kein Vertreter der Indus- trie, eine Behinderung künftiger Forschung.
Die Industrie selbst scheint die- sen Punkt gelassen zu sehen. Ein Grund könnte in einer bevorstehen- den Entscheidung der FDA beste- hen, die nach Informationen von Science den Herstellern künftig die Möglichkeit eröffnen möchte, ihre klinischen Studien – außerhalb der USA – unter Umgehung der Dekla- ration durchzuführen. Sie wären dann nur an die Prinzipien gebun- den, auf die sich Zulassungsbehörde und Industrie noch auf einer Inter- national Conference on Harmoniza- tion – Good Clinical Practice (GCP) verständigen wollen. Bioethiker be- fürchten, dass die ethischen Anfor- derungen der GCP weit hinter die Deklaration von Helsinki zurückfal- len könnten. Die FDA hat kein kla- res Dementi abgegeben. Es sei nicht geplant, den Schutz der Patienten in klinischen Studien zu verringern, was aber auch bedeuten könnte, dass eine Verschärfung im Sinne der Deklaration nicht vorgesehen ist.I Rüdiger Meyer
DEKLARATION VON HELSINKI
Besserer Schutz von Patienten in klinischen Studien
Der Weltärztebund hat auf seiner letzten Generalversammlung in Seoul eine revidierte Fassung der Deklaration verabschiedet.
Sie betrifft unter anderem den Einsatz von Placebos.
Die Deklaration von Helsinki wurde vom Welt- ärztebund im Jahr 1964 beschlossen.
Im Oktober 2000 wurde sie revidiert.
Mit der Neufassung beschäftigte sich das Deutsche Ärzte- blatt in Heft 7/2002.
Fotos: Archiv
Die Deklaration wurde zum bekanntesten Dokument des Weltärztebunds.
Weitere Informationen:
www.aerzteblatt.de/plus4508