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Archiv "Präventivmedizin kritisch betrachtet" (29.04.1994)

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THEMEN DER ZEIT

Infektionskrankheiten wären be- deutungslos, könnten durch geeigne- te medizinische, soziale oder andere Maßnahmen die Infektionswege be- ständig unterbrochen werden.

Schutzimpfungen zur aktiven Immu- nisierung waren und sind bei der Be- kämpfung zahlreicher Seuchen (zum Beispiel Polio, Diphtherie, Tetanus u. a.) außerordentlich erfolgreich.

Sie müssen konsequent durchgeführt und gegebenenfalls wiederholt wer- den, damit die erzielten epidemiolo- gischen Erfolge bewahrt bleiben.

Brauchbare Schutzimpfungen stehen nicht für alle Infektionserkrankun- gen zur Verfügung. Wirksames Ver- meidensverhalten ist eine weitere Präventivmaßnahme, die aus unter- schiedlichsten Gründen oft nicht konsequent eingehalten wird. Trotz guter Präventionsmöglichkeiten tre- ten viele infektiöse Erkrankungen deshalb weiterhin auf (Beispiele:

Malaria, AIDS).

Unerwünschte Arzneimittelwir- kungen (zum Beispiel Antirheumati- ka-Ulzera, Elektrolytstörungen durch Diuretika) könnten durch Verzicht auf die geplante Behandlung vermie- den werden. Für medikamentöse Therapien sind Alternativen aber nicht immer vorhanden. Wenn die Wirkmechanismen der Medikamente bekannt sind (zum Beispiel Prosta- glandinsynthesehemmung durch NSAR, renale Elektrolytverschie- bungen durch Diuretika), können Medikamentennebenwirkungen zum Beispiel durch vorsorgliche Substitu- tion therapiebedingt fehlender Fak-

AUFSÄTZE

toren ausgeglichen werden (Prosta- glandine bei NSAR-Therapie, Kali- um bei diuretischer Therapie und drohender Hypokaliämie). Wenn Ätiologie und Pathogenese von Er- krankungen beziehungsweise die Entstehungsmechanismen für Ne- benwirkungen von Medikamenten bekannt sind, kann nach Wegen ge- sucht werden, Krankheitsursachen zu beseitigen beziehungsweise Mangel- zustände auszugleichen oder die Krankheitsauslöser zu meiden.

Bedeutung von Risikofaktoren

Die Ursachen der meisten Krankheiten sind letztlich nicht ge- klärt. Begleiterscheinungen von Er- krankungen dürfen nicht mit deren Ursache verwechselt werden. Durch epidemiologische Untersuchungen (oder in Zukunft vermehrt durch La- boruntersuchungen) wird versucht, die Assoziation mit sogenannten Ri- sikofaktoren oder besser Risikoindi- katoren aufzudecken (Beispiel: Lun- genfibrose und Asbestexposition, Rauchen und Bronchialcarcinom, Alter und NSAR-Ulkus). Im günstig- sten Fall spielen Risikoindikatoren eine zentrale Rolle in der Pathogene- se der Erkankung und können elimi- niert werden. Meistens besteht aber lediglich eine mehr oder weniger en- ge Korrelation zwischen Auftreten oder Schweregrad einer Erkrankung und dem Risikoindikator. Der signa- lisiert dann lediglich die höhere

Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Erkrankung, begründet aber keinesfalls die Diagnose.

Gesundheitliche Verhaltensän- derungen mit dem Ziel der Vermei- dung von Risikofaktoren (zum Bei- spiel Gewichtsreduktion, um der Arthrose vorzubeugen) werden durch Verbote, durch Aufklärung oder durch Anleitung zu „vernünfti- gem" Handeln eingeleitet. Risikofak- toren können aber auch unabänder- bar sein (zum Beispiel Alter, Ge- schlecht). Dann verstärken sie die Dringlichkeit zur Anwendung anders gearteter Präventivmaßnahmen (zum Beispiel Prostaglandin-Substitution beim älteren NSAR-Patienten, Hor- monsubstitution bei der drohenden Osteoporose). Besonders erfolgreich sind diejenigen Vorsorgemaßnah- men, die keine Verhaltensänderung beim Patienten voraussetzen (zum Beispiel fixe Arzneimittelkombinati- on von nebenwirkungsträchtigem Medikament und Prophylaktikum).

In der Kosten-Nutzen-Analyse sind diese Maßnahmen kalkulierbar, meist kostenneutral und oft sogar ko- stensparend.

Vorsorgeuntersuchungen kön- nen nur bedingt als Präventivmaß- nahmen bezeichnet werden. Sie die- nen zuerst einmal der Frühdiagnose einer klinisch noch nicht manifesten Erkrankung. Auch mit guten Test- verfahren sind falsch positive Tester- gebnisse bei Krebsvorsorgeuntersu- chungen nicht selten. Der sogenann- te prädiktive Wert mancher „routine- mäßig" angewendeter Tests ist kaum größer als zehn Prozent, das heißt rund 90 Prozent der Ergebnisse sind falsch positiv (zum Beispiel Haemoc- cult-Test, Mammographie?). Neue Verfahren (zum Beispiel Osteoden- sitometrie) werden bezüglich ihrer Leistungsfähigkeit in der Vorsorge- diagnostik anfangs oft zu euphorisch beurteilt, und ihre Leistungsfähigkeit wird überschätzt. Aus positiven Be- funden resultieren oft unangenehme, invasive und risikoreiche Folgeunter- suchungen, unnötige Ängste und ho- he Kosten. Wenn ein negativer Test häufiger wiederholt wird, beispiels- weise um Sicherheit zu gewinnen, nimmt die Wahrscheinlichkeit zu, daß ein falsch positives Testergebnis mit all seinen Konsequenzen auftritt.

Präventivmedizin kritisch betrachtet Wolfgang Bolten Prävention in der Medizin wird oft mißverstanden. Ihre Möglichkeiten und Me- thoden werden häufig fehleingeschätzt, überstrapaziert oder auch vernachläs- sigt. Falsch verstandene Prävention verursacht einerseits unnötige Kosten, an- dererseits werden Möglichkeiten der Kosteneinsparung durch wirksame Prä- ventionsverfahren nicht ausgeschöpft. Der Gedanke der Prävention fließt oft unreflektiert in die Planung der medizinischen Individualversorgung ein.

Grundlage der kompetent durchgeführten Prävention ist die kritische Beurtei- lung der Leistungen und Probleme solcher Maßnahmen.

Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994 (33) A-1205

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THEMEN DER ZEIT

Bei seltenen Erkrankungen ist ein Massenscreening deshalb nicht zu empfehlen. Bei häufigen und schwe- ren Erkrankungen kann dagegen der Zeitgewinn durch die Frühdiagnose für die effektive Behandlung aus- schlaggebend sein, wenn die früh ein- setzende Therapie die Wahrschein- lichkeit der Heilung der Erkrankung erhöht.

Ohne potentielle therapeutische Interventionsmöglichkeit bei positi- vem Testergebnis werden Vorsorge- untersuchungen — außer zu wissen- schaftlichen Zwecken — fragwürdig.

Dem aufgeklärten hilfesuchenden Patienten kann jedoch — selbst bei fraglicher Bedeutung des Tests oder fehlender Behandlungsmöglichkeit — eine gewünschte Vorsorgeuntersu- chung keinesfalls verweigert werden.

„Individuelle Erfahrungen"

Der praktisch tätige Arzt findet die Richtigkeit spezifischer Thera- pie-Entscheidungen im günstigsten Fall durch den Erfolg seiner Behand- lung beim individuellen Patienten be- stätigt. Diesen Maßstab legt er auch an die Beurteilung präventivmedizi- nischer Maßnahmen an. Präventivin- terventionen lassen sich auf diese Weise aber nur dann beurteilen, wenn das zu erwartende Ereignis — wie zum Beispiel die Krankheit oder

die Nebenwirkung eines Medika- mentes — ohne die Präventivmaßnah- me häufig beobachtet wird, jedoch unter der präventiven Maßnahme (zum Beispiel Schutzimpfung bei In- fektionskrankheiten, Apoplexpro- phylaxe durch Hypertoniebehand- lung) auffällig häufig ausbleibt.

Bei sinkender Durchseuchung der Bevölkerung nach erfolgreichen Immunisierungsmaßnahmen sinkt deshalb die Impfbereitschaft, zwangsläufig steigt — anfangs unbe- merkt — die Erkrankungsfrequenz.

Bei seltenen oder selten symptomati- schen Erkrankungen und seltenen, aber schweren Arzneimittelneben- wirkungen versagt die Kontrolle durch eigene Erfahrung. In der Pra- xis trifft der Arzt solche Ereignisse mit oder ohne Prävention scheinbar gleich häufig an. Seine Bereitschaft

AUFSATZE

zur präventiven Intervention sinkt wegen der subjektiven Bedeutungslo-

sigkeit dieser medizinischen Maß- nahme.

Am Beispiel der Prophylaxe von Antirheumatika-(NSAR-)Nebenwir- kungen wird diese Problematik deut- lich. Zur NSAR-Verordnung werden in Deutschland bei circa der Hälfte der Patienten mit positiver Gastroin- testinalanamnese gleichzeitig Antaci- da und in einem weiteren Viertel H2- Blocker verordnet, um den häufig er- fahrbaren „dyspeptischen" Begleit- symptomen vorzubeugen. Dabei wür- de es reichen, und es wäre kosten- günstiger, nur die tatsächlich betrof- fenen Patienten mit einer NSAR- Dyspepsie zu behandeln. Prophylak- tisch eingesetzt verhindern Antacida und H2-Blocker die Entstehung von NSAR-Magenulzera nicht. Die dies- bezüglich wirksame Prostaglandin- Komedikation hat ihrerseits keinen nennenswerten Einfluß auf dyspepti- sche Beschwerden und ist deswegen beim Hausarzt weniger gefragt. Die Bedeutung synthetischer Prostaglan- dine für die Prävention der NSAR- Ulzera und der bedrohlichen Blutun- gen und Perforationen wird aus der individualempirisch orientierten Per- spektive unterschätzt. Diese NSAR- Nebenwirkungen sind nämlich kli- nisch lange Zeit asymptomatisch. Sie werden erst bei kompliziertem Ver- lauf bemerkt und dann oft nicht ein- mal im Zusammenhang mit der NSAR-Therapie gesehen.

Die Bedeutung einer wirksamen Prophylaxe ist ebenso wie die Redu- zierung der Gesamt-Therapiekosten durch die prophylaktische Maßnah- me aus der alleinigen Perspektive der individuellen Erfahrung nicht abzu- schätzen.

Vorsorgemaßnahmen, bei denen die Einzelfallbetrachtung keinen er- fahrbaren Effekt zeigt, werden leider in Deutschland im Vergleich zu den USA seltener angewendet. Der ame- rikanische Arzt orientiert sich in sei- nem Verordnungverhalten eher an

„state of the art"- oder „Konsensus"- Daten und allgemein anerkannten Behandlungsmethoden. Dadurch schützt er sich auch gegen die dort üblicheren juristischen Auseinander- setzungen mit Patienten und Kosten- trägern.

Wirksame Vorsorgemaßnahmen sind dann sinnvoll eingesetzt, wenn durch sie die Zeit des zufriedenen Lebens verlängert werden kann. Prä- vention wird möglich, wenn Ätiologie und Pathogenese der Erkrankungen beziehungsweise Wirkmechanismen von nebenwirkungsbehafteten The- rapien bekannt sind. Aber auch ein- fach zu identifizierende Risikofakto- ren können zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit einer selektiven Präventivmaßnahme beitragen und die Entscheidung zur Intervention erleichtern. Je nach der Seuchenlage in der Bevölkerung wird das Bedürf- nis nach Schutzimpfungen unter- schiedlich sein. Der Erfolg von Impf- kampagnen darf nicht mit der Aus- rottung der Krankheitserreger gleichgesetzt werden und zum unkri- tischen Verzicht auf weitere Immuni- sierungsmaßnahmen führen. Bei kontrolliertem Umgang mit Präven- tivmaßnahmen können die Gesamt- kosten einer Erkrankung meist ge- senkt und die durchschnittliche Le- bensqualität der Bevölkerung kann verbessert werden.

Vorsorgeuntersuchungen dienen der Frühdiagnostik. Sie sollten bei Risikopatienten kritisch durchge- führt werden, wenn die Frage nach den Konsequenzen aus einem positi- ven (beziehungsweise falsch positi- ven) oder negativen (beziehungswei- se falsch negativen) Ergebnis beant- wortet ist. Mit zunehmender Verbes- serung der Therapiemöglichkeiten von früh zu erkennenden Erkrankun- gen werden Vorsorgeuntersuchun- gen wichtiger.

Deutsches Arzteblatt

91 (1994) A-1205-1206 [Heft 17]

Literatur:

Bolten, W., Häntzschel, H., Hengels, K.-J., Stockbrügger, R.: Management der NSHR-as- soziierten Gastropathie. Akt. Rheumatol 16 (1991) 171 — Schwabe, U., Paffrath, J.: Arznei- verordnungsreport 1993. Gustav Fischer Ver- lag, Stuttgart, Jena 1993 — Skrabanek, P., McCormick, J.: Torheiten und Trugschlüsse in der Medizin. Verlag Kirchheim, Mainz 1991

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Wolfgang W. Bolten Chefarzt der Rheumaklinik Wiesbaden II

Leibnizstraße 23 • 65191 Wiesbaden

A-1206 (34) Deutsches Ärzteblatt 91, Heft 17, 29. April 1994

Referenzen

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