in Mensch aus der Familie wird pflegebedürftig. Jetzt, wo er Hilfe braucht, möchte ihn nie- mand allein lassen. Doch ahnt der An- gehörige, der sich für die persönliche Pflege entscheidet, was auf ihn zu- kommt? Viele Probleme, die in dieser Situation entstehen, können durch vorherige Information vermieden werden. Der Arzt muß nicht nur dar- über entscheiden, wie er sich seinen eigenen Angehörigen gegenüber in einer solchen Situation verhält, son- dern seine guten Tips sind auch bei Patienten gefragt.
In der Bundesrepublik sind im häuslichen Bereich 1,1 Millionen Menschen pflegebedürftig. Davon be- nötigen mehr als 100 000 Menschen Tag und Nacht Fürsorge. Für einen pflegebedürftigen Menschen bedeutet die Betreuung durch einen Angehöri- gen vor allem auch seelische Unter- stützung, wenn er sich in eine völlig neue Situation einleben muß. Der An- gehörige selbst fühlt sich verpflichtet:
„Das ist doch selbstverständlich“
oder: „Das bin ich meinem Vater schuldig“ lauten die Begründungen für das eigene Engagement. Zudem erleichtert die Inanspruchnahme von Pflegegeld die Entscheidung, den Be- ruf ganz oder teilweise aufzugeben.
Der Angehörige – meistens Tochter oder Ehefrau – übernimmt die Pflege zunächst ohne Vorbehalt. Erst im Lau- fe der Zeit spürt sie, wie sehr die eige- ne Person, die eigenen Lebenswün- sche und -ziele eingeschränkt werden.
Falsche Erwartungen
Der Zeitraum der Pflegebedürf- tigkeit wird zu Anfang oft falsch ein- geschätzt: was zunächst nach einer kurzen Überbrückungszeit aussieht, stellt sich schon bald als Aufgabe oh-
ne absehbares Ende heraus. Der pfle- gende Angehörige verschiebt seine ei- genen Zukunftspläne immer wieder, bis sie schließlich in einer fernen Zu- kunft als Phantome verschwinden.
Die Zeitintensität der Pflege kann den Angehörigen zuweilen ganz in Anspruch nehmen; die eigene Person muß immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden.
Eine andere wichtige Frage ist:
Bis zu welchem Grad der Pflegebe- dürftigkeit kann der Angehörige die anfallenden Arbeiten verrichten? Die Konfrontation mit Ausscheidungen fällt vielen – auch nach einer Einge- wöhnungsphase – sehr schwer. Ein möglicherweise aufkommender Ekel wird unterdrückt; Scham, solches überhaupt zu empfinden, läßt keinen Platz für derartige Gefühle.
Hinzu kommt eine Überlagerung verschiedenster Gefühle, die durch die Pflege einer Person aus dem eng- sten Familienkreis entsteht. Werden im Alltagsleben menschliche Bezie- hungen durch Rollenzuweisungen vereinfacht, so werden sie in der Pfle- gesituation erheblich in Frage gestellt und nicht selten umgekehrt. Dem Va- ter, dem mit einer gewissen Achtung begegnet wurde, muß nun bei banalen und gegebenenfalls intimen Alltags- verrichtungen geholfen werden. Der Körper des Ehepartners, der einst Begehren auslöste, verursacht nun womöglich sogar Abscheu. Die Ge- fühle des pflegenden Angehörigen werden beträchtlichen Schwankun- gen und Wandlungen unterworfen, die dem Pflegebedürftigen, meist un- bewußt, zur Last gelegt werden.
Die Spannungen, die daraus ent- stehen, verlaufen unterschwellig. Sie entladen sich zuweilen in unkontrol- lierbaren Wutausbrüchen: „Wenn ich nicht zweimal am Tag mit meiner Mutter rumbrülle, überstehe ich es
nicht“, so ein typischer Ausspruch der überlasteten Tochter. Der Teufels- kreis: Nach dem Anbrüllen stellen sich sofort wieder Schuldgefühle ein, die eine vermehrte Bemühung um die eben noch beschimpfte Person zur Folge haben. Die Aggression entstand aber gerade, weil die pflegende Per- son in einem Netz aus Verpflichtun- gen gefangen ist.
Die eigene Person befragen
Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten müssen aber kein un- überwindbares Hindernis darstellen, einen Angehörigen in der häuslichen Gemeinschaft zu betreuen. Die Fami- lie ist immer noch der größte Pfle- gedienst der Gesellschaft: 80 Prozent der behinderten Menschen in Deutsch- land werden zu Hause gepflegt, und es gibt viele Gründe – humanitäre wie auch finanzielle –, diesen Sektor im Pflegenetz weiter auszubauen.
Wenn es darum geht, eine Pflege zu übernehmen, kann der Arzt bereits im Vorfeld mit seinen Patienten Sach- verhalte klären, die einer Selbstver- ständigung dienen. Wer die Pflege übernehmen will, muß sich und ande- ren gegenüber folgende Fragen ehr- lich beantworten.
– Kann und will ich die Pflege, jenseits moralischer Verpflichtung und gesellschaftlichem Druck, wirk- lich übernehmen?
– Wo ist meine persönliche Grenze in bezug auf Scham- oder Ekelgefühle?
– Welche zeitliche Belastung für welchen zu erwartenden Zeitraum kommt auf mich zu?
– Wieweit helfen andere Ange- hörige bei der Pflege? (Auf detaillier- te Aufgabenzuweisung pochen.) A-3280 (36) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 51–52, 21. Dezember 1998
T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE
Häusliche Pflege
Zwischen Liebe und Überdruß
Psychische Belastungen bei pflegenden Angehörigen sind groß;
sie müssen jedoch kein Hindernis sein,
einen Angehörigen in der häuslichen Gemeinschaft zu betreuen.
E
– Wie groß ist die Einschränkung meiner persönlichen Freiheit? Muß ich die Arbeit aufgeben, die Wohnung umbauen oder umziehen? Kann ich damit leben?
Wenn sich der Angehörige für die Pflege entscheidet, sollte der Arzt darauf hinweisen, wie wichtig ein ge- nau umrissener Zeitraum für die Frei- zeit ist. Die Akzeptanz auf seiten des Pflegebedürftigen ist allemal höher, wenn er von Anfang an weiß, daß die pflegende Person ihm zu bestimmten Zeiten nicht zur Verfügung steht.
In aller Regel werden auch von den ortsansässigen Pflegeversicherun- gen Beratungsgespräche angeboten.
Der Arzt kann die entsprechenden Termine als besonderen Service seiner Praxis in Form eines Merkzettels an seine Patienten weiterreichen. Es ist empfehlenswert, eine solche Beratung selber einmal in Anspruch zu nehmen.
Nicht nur können die dort gewonne-
nen, zusätzlichen Informationen an die Patienten weitergegeben werden, sondern der Arzt steht wahrscheinlich selber einmal vor dem Problem, ob und wie er seine Eltern pflegen soll.
Alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen
In der Beratung ist ebenfalls die Frage zu klären, ob und in wel- chem Maße ein ambulanter Pflege- dienst hinzugezogen wird. Die 11 000 Pflegedienste in der Bundesrepublik Deutschland bieten ihre Dienste auch als professionelle Ergänzung der pri- vaten Betreuung an. So ist es bei- spielsweise möglich, Tätigkeiten, die der Angehörige ungern verrichtet, auf den ambulanten Dienst zu verlagern.
Über eine finanzielle Unterstüt- zung durch die Pflegeversicherung in- formiert der ambulante Dienst oder
eine Beratungsstelle der gesetzlichen Krankenkassen.
Ein Heimaufenthalt gilt vielen Angehörigen als absolutes Tabu. Da- bei kann er möglicherweise die – auch für den Pflegebedürftigen – bessere Lösung darstellen. Wenn die Bezie- hung zwischen dem Pflegebedürftigen und dem Pflegenden durch eine Über- lastung den Leidensdruck des Ge- pflegten unerträglich macht, kommt zu der vorhandenen Behinderung noch die, mehr oder minder verdeckte, Ab- lehnung und Aggression der Person hinzu, die ihm vielleicht am nächsten steht. Erst eine Versorgung im Heim verschafft dem Angehörigen den Freiraum, sich auf den Hilfsbedürf- tigen angemessen einzustellen.
Die Überlastungen, die durch ei- ne nicht genügend durchdachte Pfle- gesituation entstehen können, werden allmählich immer offenkundiger. Das Notruf-Telefon des Fördervereins Gerontopsychiatrie e.V. „Bonner In- itiative gegen Gewalt im Alter“
schrillt häufiger, als den Initiatoren lieb ist (Förderverein: Münsterstraße 21, 53111 Bonn, Telefon 02 28/69 68 68).
Psychische und physische Gewalt ge- gen alte Menschen in ihren eigenen vier Wänden geht oftmals von deren Nächsten aus. Was aus Liebe und Zu- neigung begonnen wurde, landet in der Sackgasse von Wut und Aggressi- on. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Geduld, die pflegebedürftige Men- schen in Anspruch nehmen. Die gut- meinenden Helfer werden so selber hilflos, und es kommt im extremsten Fall sogar zur Gewaltanwendung.
Durch die demographische Ver- schiebung werden in zunehmendem Maß Probleme der häuslichen Pflege akut. Die Angehörigen stolpern oft- mals lediglich durch Naivität in eine Situation, die sie dann nicht mehr be- wältigen können. Der Arzt, der häufig Einblick in die Krankheitsgenese der Familienmitglieder hat, kann bereits in einem frühen Stadium auf Problem- felder und entsprechende Beratungs- stellen hinweisen. In jedem Fall sollte er klarstellen, daß nur, wenn die Situa- tion für den pflegenden Angehörigen erträglich gestaltet wird, dieser dem Pflegebedürftigen die menschliche und seelische Unterstützung zukom- men lassen kann, die jener dringend benötigt. Reimund Freye A-3282 (38) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 51–52, 21. Dezember 1998
T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE
Münchener Universitätsgesellschaft
Unbürokratische Hilfe
Ihr 75jähriges Bestehen feierte im vergangenen Jahr die Münchener Universitätsgesellschaft. Der Arbeitsbericht 1997 wurde vor kurzem veröf- fentlicht. Daraus geht hervor, daß die Gesellschaft im Berichtsjahr 12,9 Mil- lionen DM der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München zur Ver- fügung stellen konnte – „das höchste Ergebnis seit ihrer Gründung“. Die Mittel stammten aus Spenden und Beiträgen der Mitglieder.
Folgende Projekte wurden unter anderem gefördert:
Förderung der Kooperation zwischen der LMU und der Harvard Medical School zur Verbesserung der medizinischen Ausbildung Einrichtung von Multimedia-Arbeitsplätzen
Anschaffung von wissenschaftlicher Literatur für Forschung und Lehre
Forschungspreise für junge Nachwuchswissenschaftler Einladungen international renommierter Gastwissenschaftler Stipendien für Studierende aus Prag, St. Petersburg, Moskau und
Jerusalem
Finanzierung von Forschungsprojekten
Studentische Lehrfahrten, Symposien und Gastvorlesungen Damit die Gesellschaft auch weiterhin die LMU München unbürokra- tisch unterstützen kann, ist sie auf Mitgliedschaften (Jahresbeitrag 20 DM) und Spenden angewiesen. Weitere Informationen: Münchener Univer- sitätsgesellschaft e.V. – Gesellschaft von Freunden und Förderern der Uni- versität München, Königinstraße 107, 80802 München, Tel 0 89/38 91-22 29,
Fax 39 90 56. Kli