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Archiv "Zukünftige Aufgabe der Medizin: Gefragt ist die soziale Kompetenz des Arztes" (11.06.1999)

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ie Haltung einer breiten Öf- fentlichkeit der Medizin ge- genüber ist in steigendem Maße zwiespältig. Die meisten Menschen verlangen von der Medizin alles, sind aber nicht bereit, eigenes zu leisten. Sie erwarten Heilung auch dann, wenn sie nicht mehr möglich ist.

Kritik ist schnell zur Hand, wenn eige- ne Erwartungen nicht erfüllt werden, nicht erfüllbar sind. So wird die Medi- zin vielfach zugleich überschätzt und unterschätzt.

Ist der Wunsch der gegenwärti- gen Bundesgesundheitsministerin, den Hausarzt als „Lotsen“ im Ge- sundheitssystem einzusetzen, erfüll- bar? Die Idee ist bestechend. Sie be- ruht auf der tatsächlichen Sozialkom- petenz der niedergelassenen (haus- ärztlichen) Mediziner.

Erhalten sie auch die notwendige Unterstüt- zung?

Vor hundert Jah- ren verfügten die Ärz- te, verglichen mit heu- te, nur über einen Bruchteil des heuti- gen Fachwissens. Aber sie verfügten in der Regel über einen ho- hen Grad sozialer Kompetenz. Nicht nur kannten sie das sozia- le Umfeld, in dem sie Krankheiten behan- delten, sondern, was vielleicht wichtiger ist, die Ärzte waren unbe- stritten im Zentrum

der mit Krankheit zusammenhängen- den Informationen.

Es ließe sich über die zweifellos provokante These trefflich streiten, daß heute mit einem Übermaß an Fachwissen und technologischer Bril- lanz eine weitgehende Absenz pro- funder Kenntnisse der sozialen Lage der Patienten einhergeht.

Die vorauseilende Anspruchskurve

Ursache von Entstehung und Verlauf der Krankheiten sind ebenso wenig etwas Einheitliches, wie der Be- griff „Soziale Lage“. „Beides sind vielmehr komplexe Dinge. Als Ein-

wirkungen der sozialen Lage auf den Gesundheitszustand des Menschen, als soziale Ursache der Krankheiten müssen alle krankheitserregenden oder -begünstigenden Umstände be- zeichnet werden, welche das Gesell- schaftsleben, die Kultur erzeugt hat, im Gegensatz zu jenen, welche die Natur hervorbringt“, schrieben Mosse und Tugenreich bereits 1913 in ihrem Reader „Krankheit und soziale La- ge“. Also schon damals ein Hinweis auf soziale Kompetenz.

Der Mediziner und Soziologe Manfred Pflanz hat vor längerer Zeit eine These geäußert, die bis heute nur unzureichend erforscht wurde. Er wies nämlich darauf hin, daß gerade die Diskrepanz zwischen Anspruchs- niveau und Verwirklichungsmöglich-

keiten als pathogener Faktor ernst zu nehmen sei.

Nicht die objektive soziale La- ge ist dabei bestimmend, sondern die subjektive Wahrnehmung und Einstellung der Betroffenen. Dem steigenden Wohlstand eilt immer eine Anspruchskurve voraus. Die moder- ne Arbeitswelt wird meines Erachtens diese Diskrepanz noch erhöhen.

Je komplizierter das Gesund- heitssystem wird, desto sinnvoller mag die analytische Unterscheidung zwischen Krankheitsverhalten und Krankheitsbetragen sein. Krankheits- verhalten umfaßt das gesamte soziale Verhalten, das in der sozialen Lage eingebettet ist. Krankheitsbetragen dagegen bedeutet eingegrenztes, auf

das Gesundheitssystem eingerichtetes Teilverhalten, ein zum Teil bürokra- tisch vorgegebenes, normiertes Be- tragen.

Ärztliche Gebührenordnungen und Krankenkassentarife haben ei- nen Rahmen dafür gesetzt, welche Betragensweisen honoriert werden – dies in doppeltem Sinn – und welche Verhaltensweisen sich damit entwe- der von selbst verbieten oder zu völli- ger Eigenverantwortung und Belie- bigkeit des Betroffenen führen.

Ergänzend: Soziales Orientierungswissen

Zur zukünftigen Aufgabe der Medizin wird gehören, daß sie sich vermehrt dem Krank- heitsverhalten im je- weiligen sozialen Rah- men zu widmen hat.

Dies bedeutet zwar keineswegs ein Aufkünden der na- turwissenschaftlichen Grundlagen, wohl aber eine systemati- sche Ergänzung des heute und zukünftig produzierten medizini- schen Verfügungswis- sens durch vermehr- tes soziales Orientie- rungswissen. Das So- ziale an zukünftiger Medizin wird zum Ga- rant des Humanen in der Medizin.

Wir sind allesamt Zeugen, daß das gesamte Gesundheitswesen einer alles durchdringenden Ökonomisie- rung unterliegt. Längst sind nicht mehr alle möglichen medizinischen Dienstleistungen für alle, die deren bedürfen, bezahlbar. Versteckte und zum Teil offene Rationierung ist die Folge, was Verteilungskämpfe nach sich zieht und finanzielle Berechnun- gen in Bereichen, wo sich im Grunde qualitative Prozesse abspielen, die sich weitgehend einer Quantifizie- rung entziehen. Natürlich gibt es öko- nomische Perspektiven, unter denen Heilung betrachtet werden kann, dies aber niemals ausschließlich.

Es ist insgesamt auf die Beson- derheit hinzuweisen, die den Ärzten A-1549

P O L I T I K KOMMENTAR

Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 23, 11. Juni 1999 (33)

D

Zukünftige Aufgabe der Medizin

Gefragt ist die soziale Kompetenz

des Arztes

(2)

im Gesundheitssystem zukommt, ja aufrechterhalten werden muß.

Selbstredend ist das Gesundheitswe- sen im Bereich allgemeiner Dienst- leistungen anzusiedeln. Ohne ethi- sche und soziale Grundlegung ist sein Funktionieren nicht zu regeln, sind viele Ansprüche nicht zu befriedigen.

Die erwünschte, möglicherweise er- forderliche Effizienz im Gesund- heitswesen ist durch ein Diktat wei- terer Ökonomisierung nicht zu errei- chen.

Der Arzt ist auf die Klärung tatsächlicher gesundheitspolitischer Optionen angewiesen, die wiederum

nach expliziter Klärung ethischer Grundvoraussetzungen rufen. Die Regelung dieser offenen Fragen ist vordringlich gesamtgesellschaftlich, nicht ohne, geschweige denn ge- gen, sondern nur mit den Ärzten, aber auch den Patienten zu er- bringen.

Von alters her war soziale Kom- petenz neben der „Compassion“

Grundlage, warum ein Arzt sich zur Heilung seiner Mitmenschen berufen fühlte. Es sind, neben anderem, vor- nehmlich strukturelle Bedingungen, in die heute die Ärzte eingebunden sind, die zum Verlust sozialer Kom- petenz führen können.

Aufgrund ihrer immer schwieri- ger werdenden Berufsausübung ist mit allem Nachdruck zu fordern, daß die unverzichtbare soziale Kompe- tenz des einzelnen Arztes in der Gesamtgesellschaft in Ausbildung und Honorierung die angemessene Beachtung finde. Wer an sozialer Kompetenz spart, spart am falschen Ort.

Prof. Dr. phil. Peter Atteslander

A-1550

P O L I T I K KOMMENTAR/AKTUELL

(34) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 23, 11. Juni 1999

ie Begrenzung der Arzneimit- telausgaben ist ein Dauerthe- ma für die Bundesgesund- heitsministerin, die Spitzenverbände der Krankenkassen sowie die Kassen- ärztliche Bundesvereinigung (KBV).

Entwürfe für eine Positivliste werden von seiten der Pharma-Unternehmen beargwöhnt. Der Weg zu einer an- gemessenen Arzneimittelversorgung der Bevölkerung kann nur über eine Versachlichung der Diskussion führen – ein mühsamer Weg!

Die zunehmend knappen Mittel im Gesundheitswesen wirken sich auf die Verordnungsmengen aus: Die Fol- ge sind Richtgrößen beziehungsweise Verordnungsbudgets, bei deren Über- schreitung der Regreß droht. Die ad- ministrative Zumessung der verfügba- ren Verordnungsmengen basiert auf historisch ermittelten Zahlen. Die

Arzneimittelrichtgrößen für Pneu- mologen beispielsweise liegen in Deutschland je nach Kassenärztlicher Vereinigung bei 150 bis 200 DM mit Minimal- und Maximalwerten von 100 bis 350 DM. Die Frage, ob Pneumolo- ge oder Hausarzt den Patienten die notwendigen Medikamente verordnet hat, bleibt dabei unberücksichtigt.

Ebenso unbeantwortet bleibt die Fra- ge, inwieweit Verordnungen aufgrund von Ko-Morbidität erfolgen.

Dringend erforderlich ist eine sachliche Diskussion

Patienten mit typischen pneumo- logischen Diagnosen – Asthma bron- chiale, COPD et cetera – werden nur zu einem kleinen Teil in der pneumo- logischen Praxis behandelt. Die Pneu-

Arzneimittel-Verordnung

Wieviel ist genug?

Am Bedarf orientierte Richtgrößen für Arzneimittel lassen sich ermitteln. Ein Pneumologe rechnet es vor.

D

Tabelle

Diagnosegruppen der pneumologischen Praxis

Diagnosegruppe Prozent

ASL = Asthma leicht 19,4

ASM = Asthma mittel 19,95

ASS = Asthma schwer 5,85

CBL = chronisch obstruktive Lungenerkrankung leicht 8,0 CBM = chronisch obstruktive Lungenerkrankung mittel 12,15 CBS = chronisch obstruktive Lungenerkrankung schwer 7,1

TBA = TBC aktiv 1,2

TBK = TBC Kontrolle 3,0

SAS = Schlafapnoe 5,05

TUM = Tumor 2,65

AKUD= Sammeldiagnose für diverse (Pneumonie, akute Bronchitis etc.) 12,2

ILL = interstitielle Erkrankung leicht 1,2

ILM = interstitielle Erkrankung mittel 1,3

ILS = interstitielle Erkrankung schwer 0,95

»Die erwünschte, möglicherweise erforderliche Effizienz im Gesundheitswesen

ist durch ein Diktat weiterer Ökonomisierung

nicht zu erreichen.«

(3)

mologen mit klar definiertem Diagno- sespektrum verfügen jedoch über das Privileg, Zusammensetzung und Schweregrad ihrer Behandlungsfälle zu kennen. Die vom Bundesverband der Pneumologen durchgeführte Par- allelabrechnung im IV. Quartal 1996 ergab, daß zwei Drittel ihrer Patien- ten an Asthma bronchiale/chronisch obstruktiven Lungenerkrankungen (COPD) leiden. Insgesamt lassen sich 14 Diagnose-

gruppen bilden, deren Anteile am Patientengut der Praxis be- kannt sind. Klar definiert ist auch das Arzneimit- telspektrum, das diesen Patienten verordnet wird (Tabelle).

Die Medi- kamenten-Com- pliance pneu- mologischer Pa- tienten läßt je- doch zu wün- schen übrig. Vor allem bei inhala- tiven Steroiden

führt die „Cortison-Angst“ zu bekla- genswert niedriger Anwendung. Da- neben muß ein „Schwund-Faktor“

berücksichtigt werden, will man die zu verordnenden Medikamentenmen- gen abschätzen, denn Medikamente werden verloren, et cetera. Um Ver- ordnungsmengen abzuschätzen, wird ein „Compliance-Faktor“ mit 50 Pro- zent und ein „Schwund-Faktor“ mit zehn Prozent postuliert. Die Annah- men für die Compliance bei der Tbc- und Schmerztherapie oder der sehr teuren Alpha-1-Antitrypsin-Substitu- tion (jährliche Kosten zirka 40 000 DM) werden mit 80 bis 100 Prozent höher angesetzt.

Das Spektrum der Medikamente, mit dem die Pneumologen in der tägli- chen Praxis überwiegend arbeiten, ist überschaubar. Neben den Original- Präparaten stehen inzwischen auch zahlreiche Generika zur Verfügung.

Zum Teil haben sich die Preise von Originalpräparaten und Generika be- reits stark angenähert.

Für jede der 14 Diagnosegrup- pen läßt sich ein Medikationsmuster

erstellen, das indikations- und leitli- niengerecht eine Annäherung an den tatsächlichen Verordnungsbedarf der Patienten erlaubt. So belaufen sich die Quartalskosten der Medikation bei mäßiggradiger chronisch-ob- struktiver Ventilationsstörung unter Berücksichtigung von Compliance- und Schwundfaktor sowie leitlinien- gerechtem Einsatz von Spasmolyti- ka, Antibiotika und anderem auf

42,04 DM beziehungsweise 37,67 DM, je nachdem, ob Originalprä- parate oder Generika eingesetzt werden.

Wenn Diagnose für Diagnose ein Medikationsschema erstellt wird, das an den Schweregrad angepaßt ist und bei dem ein „Mix“ von 50 : 50 für die Verordnung von Originalpräparaten und Generika angenommen wird, er- geben sich klare Richtwerte für die Fallkosten pro Diagnose (Grafik).

Auf Volkskrankheiten übertragbar

Summiert man den Verordnungs- bedarf – gewichtet nach Diagno- sehäufigkeiten – bei einem 50 : 50-Ein- satz von Originalpräparaten und Ge- nerika sowie einer Compliance-Rate von 50 Prozent, ergibt sich eine „Bot- tom-up“-Richtgröße von 162,35 DM pro Patient und Quartal. Spielräume für Einsparungen durch den strikten Einsatz von Generika erscheinen ver- gleichsweise gering.

Es ist – zumindest für die pneu- mologische Praxis – möglich, auf der Basis von Leitlinien und unter Einbe- ziehung der Häufigkeit von Diagnose und Schweregrad der Erkrankung adäquate Arzneimittel-Richtgrößen zu ermitteln. Die Anwendung dieses

„Näherungsverfahrens“ könnte auch auf Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus, Hypertonie, Hypercholeste- rinämie, COPD oder Asthma bron- chiale übertra- gen werden. Es würde erlauben, für den größten Teil des ärztli- chen Verord- nungsvolumens die „adäquate Menge“ abzu- schätzen, ohne daß man sich weiterhin auf die Basis „histori- scher“ Verord- nungsmengen stützen muß.

Eine indika- tions- und leit- liniengerechte Therapie der pneumologi- schen Patienten – beim Lungenfach- arzt oder beim Hausarzt/Internisten – mit den derzeit verfügbaren Verord- nungsvolumina erscheint ausgeschlos- sen. Die geltenden Richtgrößen sind auf eine niedrige Medikamenten-Com- pliance abgestellt, die es zu überwin- den gilt. Das Arzneimittelbudget, wie es der Gesetzgeber festgelegt hat, ent- hält starke Anreize für den Arzt, die Compliance seiner Patienten nicht zu fördern. Denn je größer die Com- pliance, desto höher der Verordnungs- bedarf, desto schärfer die Regreßbe- drohung des Arztes, der schließlich die Medikamente, die er seinen Patienten verordnet hat, selbst bezahlen muß.

Wenn aber wissenschaftliche Fachgesellschaften, Krankenversi- cherungsträger und Pharmaher- steller einvernehmlich leitlinienge- rechte und diagnosebezogene Ver- ordnungsvolumina ermitteln, muß der Gesetzgeber das Arzneimittel- budget adäquat zumessen – oder aber begründen, warum er eine insuf- fiziente Pharmakotherapie zulassen will. Dr. med. Thomas Hering A-1552

P O L I T I K AKTUELL

(36) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 23, 11. Juni 1999 Grafik

1 000 900 800 700 600 500 400 300 200 100

0 ASL ASM ASS CBL CBM CBS TBA TBK SAS TUM AKUD ILL ILM ILS

68,26 200,49

278,32

39,86 144,63

390,93 607,65

0,0 2,64 1,97

926,93

83,55 54,2

140,56

Fallkosten nach Diagnosen

Annahme: Original und Generika Mix 50 : 50

Referenzen

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