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Archiv "Diagnose total" (01.10.1986)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

FEUILLETON

Diagnose total

Kunst im Unterricht

für medizinische Psychologie

J

n einem Kurs für Medizini- sche Psychologie gaben wir den Studenten die Gelegen- heit zur Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk, der Installa- tion „Diagnose total" von Bernd Cibis. Ein Versuch sollte gewagt werden, sich von einem Kunst- werk, das den „nicht mehr schö- nen Künsten" zuzurechnen ist, anregen und provozieren zu las- sen. So sollte Gelegenheit gege- ben werden, sich auch einmal kritisch mit den Denkweisen in der modernen Medizin auseinan- derzusetzen.

Die Installation „Diagnose total"

ist aus Gegenständen des alltäg- lichen Lebens und hauptsäch- lich aus Medizintechnik zusam- mengesetzt. Jedoch soll nicht die Funktionsweise der techni- schen Geräte dargestellt wer- den, denn sie „funktionieren"

nicht. Im Gegenteil, die Geräte scheinen abgenützt, sind ver- formt oder mit Farbe besprüht.

Erkennbar ist ein dreiteiliger Aufbau: einem mittleren Haupt- teil sind zwei Flügel zugeord- net, vom Künstler „Versorgungs- und Entsorgungseinheit" sowie

„Kontroll- und Steuerungsein- heit" genannt. In der Mitte sind eine Fülle von Schläuchen und Kabel zu erkennen, welche Sei- tenflügel und Zentrum zusam- menschließen. Sie senken sich auf eine hellerleuchtete Nachbil- dung eines menschlichen Kör- pers herab, der in ein feinma- schiges Gitternetz, „Diagnose- maske" genannt, eingeschweißt ist. Ein mit Folie bespannter schwarzer Kasten, die „Liege",

schließt die Anordnung nach un- ten ab. Die Objektkomposition ist auf den im Zentrum liegen- den, hell leuchtenden mensch- lichen Körper ausgerichtet. Hier laufen alle Fäden zusammen.

Der Bezug zur Außenwelt wird durch die technische Vorrich- tung gewährleistet. Versorgung und Entsorgung werden von Ap- paraten durchgeführt und kon- trolliert. Für die Diagnose ist es notwendig, ein abgeschlossenes System zu schaffen. Jeder Ein- fluß von außen muß ausgeschal- tet werden, um alles in den Griff zu bekommen. Der Körper liegt vollkommen ruhig, gleichsam

Oben: Blick in die Installation

„Diagnose total"

des Würzburger Künstlers Bernd Cibis, ein Gewirr von Schläuchen, Kabeln und Appa- raturen wirkt beklemmend und erschreckend auf den Betrachter;

links: Gesamtan- sicht des Werkes, das in den Jahren 1982/83 entstand und im medizinischen Unterricht genutzt wird

bewußtlos. Nur wenn jede Eigen- dynamik fehlt, ist ein genaues Meßergebnis möglich. Der Kör- per ist deshalb in ein feinmaschi- ges Gitternetz eingeschlossen und räumlich in einzelne Raster zergliedert. Dadurch wird eine bis in Einzelheiten gehende Er- fassung möglich. Die wissen- schaftliche Forschung kann so bis in die Feinstruktur des menschlichen Organismus vor- dringen. Jedoch bleibt dieses Vorgehen notwendig auf das Meßbare beschränkt. Für die Medizin bedeutet dies: Nur phy- sikalische und chemische Para- meter dürfen zur Anwendung

Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 40 vom 1. Oktober 1986 (69) 2709

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Diagnose total

kommen und können Geltung haben. Mit dieser methodischen Selbstbeschränkung sind For- schungsergebnisse von jeder Person wiederholbar und kön- nen so verifiziert werden.

Der Mittelteil der Installation wird nach unten durch einen schwarzen Kasten abgeschlos- sen, der an ein Totenbett oder ei- nen Sarkophag erinnert. Die Ge- danken des Betrachters werden auf das Sterben gelenkt. Der hell leuchtende Körper schwebt frei über dem Abgrund des Todes.

Der Mensch, vor allem der Kran- ke, ist gefährdet, er ist verletzbar und von der Vernichtung be- droht. Aber der Tod hat ihn noch nicht ergriffen, denn er wird von der technischen Apparatur ge- halten. Manche Betrachter mag wohl ein Gefühl der Beklem- mung und der Hilflosigkeit be- schleichen, wenn er oder sie die- sem Kunstwerk gegenüberste- hen. Durch die Beschränkung auf eine bestimmte Sichtweise deutet sich an, daß wesentliche Dimensionen des Humanen ver- lorengehen. Das Unbehagen beim Anblick des krebsge- schwürartigen und undurch- dringlichen Kabelgewirrs kann jedoch Anstoß geben, die Denk- weise der technischen Welt zu befragen und trotz der scheinba- ren Unendlichkeit des Machba- ren auch dessen Begrenztheit erfahren.

Abbild einer Technik ohne den Menschen

Dem ersten Schrecken auf die bedrohliche Hilfloäigkeit des Pa- tienten folgen nicht selten Wut und Kritik über die Provokation durch den Künstler: „Ist es denn wirklich so? Unsere Kranken- häuser sind doch keine Folter- kammern!" Die Darstellung mag übertrieben sein, darin liegt das Wesen der Provokation. Aber das technische Denken kennt ei- gentlich keinen Unterschied von Folterkammer und Versuchsla-

bor. Diesen Unterschied gibt es nur für ein humanes Denken.

Wut und Betroffenheit sind spe- zifisch menschliche Reaktionen

und lassen ein Gespür für die nicht-technischen Aspekte der Situation erkennen. Das rein technische Denken befaßt sich nicht mit Menschen, sondern mit Funktionen. Und darin liegt auch eine Chance für die sinnvolle Überwindung des ausschließlich technischen Denkens. Eine Überwindung ist gemeint, wel- che nicht zerstört oder ab- schafft, sondern den techni- schen Möglichkeiten den ihnen gemäßen Platz zuweist. Ohne diese Zuweisung hat der Mensch vor der Technik kapituliert und hat sich dieser untergeordnet — genauso wie es das Kunstwerk darstellt: der Mensch fehlt, aus- genommen als passives Opfer;

der Sitz an der „Kontroll- und Steuerungseinheit" ist verwaist;

ein oberster Kontrolleur wird nicht mehr benötigt, die Geräte steuern sich selbst und entwik- keln Eigendynamik, die sich dem menschlichen Zugriff entzogen hat. Und welchen Sinn haben die technischen Möglichkeiten, wenn sie nicht von Menschen für die Begegnung mit dem Kranken genutzt werden, wenn niemand mehr da ist, der verstehen kann, was es heißt, krank zu sein? Oh- ne den Partner des Kranken sind die Geräte selbst „krank", sie sind unansehnlich und auf den Oberflächen zerschunden, wie vom Künstler dargestellt.

Trotz all der provokativen Kritik werden Auswege gewiesen:

Auch wenn der Mensch hinter Gittern und Kabeln verborgen bleibt, auch wenn Versorgung, Entsorgung und Steuerung von ihm ferngehalten sind, auch wenn der Körper ausgehöhlt, gleichsam entseelt scheint, so strahlt er dennoch und erfüllt mit seinem Leuchten den Raum. Es ist ein eigenes und eigentüm- liches Leuchten, das sich hier von den übrigen Gegenständen unterscheidet; man weiß nicht so recht, woher es kommt. Es ist

ein erlebtes und empfundenes Leuchten, kein Spektrum von Wellenlängen. Der Patient leuch- tet aus sich. Eine Dimension der Wirklichkeit wird angedeutet, welche technisch nicht erfaßbar ist und sich der Totaldiagnose verweigert. Der Mensch zeigt aus sich heraus ein „Leben", das von selbst entsteht und sich der Machbarkeit entzieht.

Zugang zu ärztlichen Aufgaben über die Kunst Es mag eine Subjektivität und Ei- genheit gemeint sein, welche die neuzeitliche Wissenschaft, die Psychologie eingeschlossen, oft beharrlich ignoriert und die so der Kunst bedürfen, um sich ausdrücken zu können. Die Indi- vidualität des Menschen ist kei- neswegs eine antiquierte Er- scheinung von prähistorischem Dämonenglauben, sondern wird in einem Zeitalter der Roboter, der künstlichen Intelligenz und der Simulation geradezu zum Gradmesser und zum Kriterium für die „Echtheit" der Begeg- nung. Das jeweilige Selbst ent- scheidet, ob es sich verstanden und adäquat behandelt fühlt. Die Aufgabe für den Arzt kann ver- mutlich das pathische Moment im Sinne Viktor von Weizsäckers sein: Das Leiden und Mitleiden, das Mitempfinden und Betrof- fensein, um den anderen und, den kranken Menschen in sei- nem Leiden verstehen zu kön- nen; alle anderen Aufgaben dürften Roboter und Funktions- systeme übernehmen.

Anschrift der Verfasser:

Privat-Dozent

Dr. med. Karl-Ernst Bühler Institut für Psychotherapie und Psychosomatik

Dr. phil. Eckard Wolz-Gottwald Lehrstuhl für Philosophie I Universität Würzburg 8700 Würzburg 2710 (70) Heft 40 vom 1. Oktober 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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