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Archiv "Der freiwilligen Rentenversicherung wird die Grundlage entzogen" (20.01.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Aktuelle Politik

Das Haushaltbegleitgesetz hat einen tiefen Einschnitt in das Rentenrecht gebracht; ge- nauer: für die freiwillige Mitgliedschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die meisten der Betroffenen — Freiberufler, Selbständige, von der Versicherungspflicht befreite Ange- stellte und Hausfrauen — haben dies mögli- cherweise noch gar nicht bemerkt. Wer kann den ständigen Än derungen am Rentenrecht überhaupt noch folgen? Die auf weite Sicht für

die Struktur der Rentenversicherung wohl wichtigste Bestimmung des Haushaltbegleit- gesetzes, nach der freiwillig Versicherte über die Rentenversicherung keinen Schutz mehr gegen das Risiko der vorzeitigen Erwerbsmin- derung erwerben können, leitet das Ende der freiwilligen Versicherung ein. Ein wesentliches Stück der Rentenreform von 1972, die Öff- nung der Rentenversicherung für jedermann, wird damit faktisch rückgängig gemacht .. .

Im Juli 1983 hat Bundesar- beitsminister Blüm erstmals angekündigt, daß er die Ren- tenversicherung „schlanker machen" wolle. Die Renten- versicherung müsse auf den Kern ihrer Mitglieder, die Ar- beitnehmer, konzentriert werden. So sagte Blüm da- mals. Mit dem eilbedürftigen Haushaltbegleitgesetz, das weder im Kabinett, noch im Parlament sorgfältig beraten werden konnte, hat Blüm sei- nen Willen durchgesetzt. Die Koalitionsfraktionen haben für die freiwillig Versicherten nur eine Art Besitzstands- klausel erreichen können.

Dadurch wird die Agonie der freiwilligen Versicherung ver-

längert, ihr Ende freilich nicht verhindert. Worum geht es?

In der Rentenversicherung muß gespart werden. In die- sem Jahr ist die Zahlungsfä- higkeit bedroht; im Herbst wird die Rentenversicherung Kassenkredite aufnehmen müssen, um die Renten pünktlich zahlen zu können.

Danach greifen dann die be- schlossenen Sanierungsmaß- nahmen. Kommt es zu der er- warteten günstigen Konjunk- turentwicklung, so könnten die Reserven wieder aufge-

füllt werden. Das reicht aber bestenfalls bis in die neunzi- ger Jahre hinein. Danach ver- schlechtert sich fortlaufend die Altersstruktur der Bevöl- kerung; immer weniger Er- werbstätige haben immer mehr Rentner durchzuzie- hen. Für diese Zeit muß vor- gesorgt werden.

Wenn Blüm davon spricht, die Rentenversicherung schlanker zu machen, so will er auch sparen. Aber er will die Rentenbilanz auch da- durch entlasten, daß er be- stimmte Gruppen aus der Rentenversicherung drängt, und zwar unabhängig davon, ob bereits Anwartschaften angesammelt worden sind oder nicht. Sparen durch das Aussondern von Risiken, das ist Blüms Methode.

Überzogene Rechtsprechung wird nicht korrigiert

Bei den Erwerbs- und Berufs- unfähigkeitsrenten bestand für Blüm ein Handlungsbe- darf, um ein Bonner Mode-

Der freiwilligen

Rentenversicherung wird die Grundlage entzogen

Risiko der Erwerbsminderung nicht mehr abgesichert Nur eine Besitzstandsklausel

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 3 vom 20. Januar 1984 (17) 81

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Freiwillige Rentenversicherung

wart zu verwenden. Rund die Hälfte der neu zugehenden Ren- ten werden wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit gezahlt.

Der Verdacht liegt nahe, daß es sich in vielen Fällen um vorge- zogene Altersrenten handelt.

Das belastet die Rentenversi- cherung schwer. Das liegt vor al- lem an der Arbeitslosigkeit, aber auch an der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, nach der die Rentenversicherung nicht nur jenen Versicherten, die dauerhaft arbeitsunfähig sind, Renten wegen Erwerbsun- fähigkeit zu zahlen hat, sondern auch Versicherten, die noch 5 oder 6 Stunden arbeiten kön- nen, denen aber kein "zumutba- rer" Teilzeitarbeitsplatz nachzu- weisen ist.

Die überzogene Rechtspre- chung des Bundessozialge- richts wird aber nicht korrigiert.

Statt dessen ist nun im Haushalt- begleitgesetz festgelegt wor- den, daß Anspruch auf Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrente nur hat, wer in den letzten fünf Jahren wenigstens 36 Pflichtbei- träge gezahlt hat. Diese Bedin- gung können freiwillig Versi- cherte nicht erfüllen. Blüms Be- gründung dafür: Wer nicht er- werbstätig ist, kann auch nicht erwerbsunfähig sein; wer kei- nen Lohn bezieht, soll auch kei- ne Lohnersatzleistung bekom- men.

Das ist aber nur auf den ersten Blick plausibel. Tatsache ist, daß auch die meisten freiwillig Versi- cherten erwerbstätig sind, die Hausfrauen ausgenommen. Der Freiberufler, der aus Gesund- heitsgründen seinen Beruf nicht mehr ausüben kann, braucht wie der Arbeitnehmer ein Er- satzeinkommen. Blüm hat auch nicht recht, wenn er behauptet, daß in der Rentenversicherung nur der Lohnausfall versichert sei. ln der Reichsversicherungs- ordnung steht nichts von der Lohnersatzfunktion; versichert ist vielmehr die Erwerbsfähig- keit. Geht diese verloren, so

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

kommt die Rentenversicherung ins Obligo. Natürlich läßt sich darüber reden, die Rentenversi- cherung so auszugestalten, daß im Falle der Minderung der Er- werbsfähigkeit der tatsächliche Einkommensverlust teilweise ausgeglichen wird. Eine solche Umstellung setzt freilich voraus, daß die im Vertrauen auf die Ge- setze erworbenen Ansprüche gesichert werden.

Wie hält es die Regierung mit dem Vertrauensschutz?

Über solche Erwägungen haben sich Blüm und die Bundesregie- rung hinweggesetzt. Wenn es nach der Regierung gegangen wäre, so hätten am Jahreswech- sel zum Beispiel alle Hausfrauen ihren Invaliditätsschutz verlo- ren. Die erwerbstätigen freiwil- lig Versicherten hätten ihn nur mit jährlich acht Mittelbeiträgen (1984 etwa 4000 Mark) retten können. Der Bundestag hat das · korrigiert. Die Neuregelung des Rechts der Berufs- und Erwerbs- unfähigkeitsrenten mag da- durch einer verfassungsrecht- lichen Nachprüfung standhal-

ten, aber prinzipiell ist nichts ge-

genüber dem Regierungsent- wurf verbessert worden, eher im Gegenteil.

Künftig gilt folgendes:

..,.. Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit werden nur noch gewährt, wenn der Versi- cherte in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminde- rung mindestens drei Jahre lang Beiträge für eine versicherungs- pflichtige Tätigkeit gezahlt hat.

..,.. Für freiwillig Versicherte, die bis Ende 1983 wenigstens 60 Beiträge gezahlt und damit eine Anwartschaft auf Berufs- und Er- werbsunfähigkeitsrente erwor- ben haben, gibt es eine Über- gangsregelung, mit der dem Vertrauensschutz Rechnung ge- tragen werden soll. Diese Versi- cherten können, wenn sie regel-

mäßig 12 Beiträge im Jahr be- zahlen, ihre Anwartschaften auf Berufs- und Erwerbsunfähig- keitsrenten aufrechterhalten. Es genügen dafür Mindestbeiträge.

Der Mindestbeitrag beträgt in diesem Jahr 84 Mark; insgesamt wären damit 1984 mindestens 1008 Mark zu entrichten. Die Zahl der Beiträge ist künftig wichtiger als die Höhe der Bei- träge. Diese Übergangsrege- lung läßt sich vertreten, wenn man nur an den finanziellen Auf- wand denkt. Wer nicht einmal die Mindestbeiträge aufbringen kann, sollte auf die Versiche- rung ganz verzichten. Mindest- beiträge bringen nur Miniren- ten.

Die Übergangsregelung führt je- doch durch die Verpflichtung zur regelmäßigen Beitragslei- stung zu einer Quasi-Pflichtver- sicherung. Das weckt den Ver- dacht, daß diese freiwillige Ver- sicherung schrittweise zur Pflichtversicherung ausgebaut werden soll. Dazu würde es nun- mehr genügen, die vorgeschrie- bene Mindestbeitragsleistung schrittweise zu erhöhen. Das ist eine unerfreuliche Perspektive, denn für viele freiwillig Versi- cherte stellt die Rentenversiche- rung nur eine Ergänzungssiche- rung dar, die nicht beliebig auf- gestockt werden kann.

..,.. Selbständig Erwerbstätige, die noch nicht die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten erfüllt ha- ben, erhalten noch einmal die Möglichkeit, sich für die Pflicht- versicherung zu entscheiden. Nach geltendem Recht muß der Antrag auf Beitritt zur Pflichtver- sicherung innerhalb von zwei Jahren nach Aufnahme der selb- ständigen Tätigkeit gestellt wer- den. Die neue Antragsfrist läuft am 30. Juni dieses Jahres ab.

..,.. Zur weiteren Komplizierung des Rechts trägt eine Sonderre- gelung für 1984 bei. Die freiwil- lig Versicherten, die 60 Beiträge entrichtet haben, behalten ihren Invaliditätsschutz bis zum 30.

82 (18) Heft 3 vom 20. Januar 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Blüms Dichtungen Zeichnung: P. Leger/Hannoversche Allgemeine

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Juni. Dieser erlischt jedoch, wenn bis zur Jahresmitte nicht sechs Mindestbeiträge entrich- tet worden sind. Die anderen sechs Beiträge müssen dann bis zum Jahresende bezahlt wer- den. In den Jahren danach ge- nügt es dann, wenn jeweils bis zum Jahresende 12 Beiträge entrichtet werden. Der Invalidi- tätsschutz reicht dann bis zum

Ende des nächsten Jahres. Die freiwillig Versicherten können also dabei bleiben, jeweils ge- gen Ende des Jahres ihre Dispo- sitionen für die Beitragsleistung zu treffen. Aber Achtung: für das

laufende Jahr gilt das nicht.

Das Risiko

der vorzeitigen Invalidität Von den Gesetzesänderungen werden also vor allem jene Ver- sicherten betroffen, die bis En- de 1983 noch keine 60 Beitrags- monate belegt hatten. Diese Versicherten können künftig über die Rentenversicherung keinen Schutz mehr gegen das Risiko der vorzeitigen Erwerbs- minderung erreichen. Die Bei- träge zählen nur noch für die Al- tersrente. Nun ist es natürlich richtig, daß diese Versicherten das Risiko der vorzeitigen Invali- dität auch privat absichern könnten. Es bleibt aber die Tat- sache, daß der freiwillige Bei- trag gegenüber dem Pflichtbei- trag abgewertet wird. Für die gleiche Beitragsleistung gibt es höchst unterschiedliche Lei- stungen.

Unverständlich ist auch, wie die Hausfrauen behandelt werden.

Frauen, die sich nach Jahren der Erwerbstätigkeit um Familie und Kinder kümmern wollen, verlie- ren früher oder später jeden In- validitätsschutz. Sie werden ausschließlich auf die Altersren- te verwiesen, selbst wenn sie schon zehn oder 15 Jahre Pflichtbeiträge geleistet haben.

Das läßt sich mit dem von Blüm und Geißler immer wieder ver- kündeten Grundsatz, daß die Ar-

beit der Hausfrau der Erwerbstä- tigkeit vergleichbar sei, schwer vereinbaren.

Die von Blüm durchgesetzte Neuregelung der Invalidenversi- cherung führt zu einer nicht be- gründbaren Ungleichbehand- lung der Pflichtversicherten und der freiwillig Versicherten. Glei- che Beitragsleistungen führen zu unterschiedlichen Versiche- rungsleistungen. Daß bereits heute mit freiwilligen Beiträgen keine Ansprüche auf Rente nach Mindesteinkommen und im Fal- le der vorzeitigen Erwerbsmin- derung auf Anrechnung von Zu- rechnungszeiten begründet werden können, läßt sich aus dem System begründen, das Streichen des Invaliditätsschut- zes dagegen nicht. Die Neure- gelung trägt auch nicht der Tat- sache Rechnung, daß Selbstän- dige, Freiberufler und Hausfrau- en in der Regel ihr Berufsleben als Arbeitnehmer beginnen und damit in die Pflichtversicherung

gezwungen werden. Anschlie- ßend glaubt man diese Versi- cherten diskriminieren zu kön- nen, indem man die geleisteten Pflichtbeiträge nachträglich ab- wertet und die freiwilligen Bei- träge geringer bewertet.

Dabei sind die zu erwartenden Spareffekte gering; sie schlagen allenfalls langfristig zu Buch.

Möglicherweise ergibt sich so- gar ein Bumerangeffekt. Wer die Höhe seiner Beitragsleistung selbst bestimmen kann, wird möglicherweise zu dem Ergeb- nis kommen, daß sich die Vor- sorge über die Institution Ren- tenversicherung nicht mehr lohnt, weil es keine Gewähr da- für gibt, später für die Beiträge äquivalente Leistungen zu er- halten. Der von Blüm angerich- tete Vertrauensschaden ist groß.

Er wird sich nicht reparieren las- sen, zumal weitere Einschnitte vorbereitet werden.

Walter Kannengießer Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 3 vom 20. Januar 1984 (19) 83

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