DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
THEMEN DER ZEIT
A
uf dem Gebiet der Gesund- heitsökonomie und der sozial- wissenschaftlichen Durch- leuchtung der Systeme der sozia- len Sicherung hat die Bundesre- publik Deutschland — im Gegen- satz zu anderen Wissensgebieten und Anwendungstechnologien — im Vergleich zu den USA keinen Nachholbedarf mehr. Im Gegen- teil: Im zunehmenden Maße orien- tierten sich nordamerikanische Wissenschaftler, die das Fach Health Economics an den Hoch- schulen und Universitäten der Vereinigten Staaten von Amerika vertreten, immer mehr an den ge- sundheitsökonomischen For- schungsergebnissen und ver- schiedenen Entwicklungsrichtun- gen an den bundesdeutschen Hochschulen und privaten For- schungsinstituten.Diese Auffassung vertrat Prof. Dr.
rer. pol. Philipp Herder-Dorneich, Ordinarius für Sozialpolitik an der Universität Köln, zugleich Direktor des mit der Universität verbunde- nen Forschungsinstituts für Ein- kommenspolitik und Soziale Si- cherung, bei der Präsentation ei- ner detaillierten Dokumentation über „20 Jahre Forschung im Dienste der Gesundheitspolitik 1965/85" an der Kölner Universi- tät.
Noch in den sechziger und frühen siebziger Jahren hatten die USA auf dem Gebiet der wissenschaft- lichen Wohlfahrtsökonomik und der noch in Anfängen steckenden ökonomisch orientierten Gesund- heitslehre und der Gesundheitser- ziehung (Health Education) einen absoluten Vorsprung vor der eu- ropäischen Forschung. Pioniere waren in den USA Kenneth J. Ar- row (1963), B. A. Weisbrod (1961) oder T. E. Chester (1969) und M. S.
Feldstein (1967) in Großbritan- nien. Allerdings sind diese wis- senschaftlichen Arbeiten im Sta- dium der (puristischen) Wohl- fahrtsökonomie, Cost-Benefit- Analyse und der Managementleh- re auf dem Gebiet des Gesund- heits- und Krankenhauswesens steckengeblieben, nicht zuletzt
Die Gesundheits- Ökonomie
hat sich etabliert
Zwanzig Jahre
bundesdeutsche Forschung
auch deswegen, weil das Sozial- versicherungssystem in den USA traditionell nur rudimentär entwik- kelt ist; in Großbritannien vor al- lem wegen des dort seit 1947 in- stallierten nationalen Gesund- heitsdienstes (National Health Service) das Gesundheitswesen unter zentralverwaltungswirt- schaftlichen Vorzeichen struktu- riert und gesteuert wird und inso- fern auch nur begrenzte (private) Forschungsinteressen weckte.
Die Anfänge
Nach ersten Anfängen einer spo- radischen Forschung an einzel- nen bundesdeutschen Universitä- ten und ihnen angegliederten For- schungsinstituten (insbesondere am Lehrstuhl für Sozialpolitik der Universität Köln und am von Pro- fessor Dr. rer. pol. Elisabeth Lief- mann-Keil geleiteten Volkswirt- schaftlichen Institut der Universi- tät des Saarlandes in Saarbrücken sowie am Lehrstuhl für National- ökonomie und Finanzwissen- schaften der Universität Inns- bruck; Direktor: Prof. Dr. Clemens August Andreae) sind systemati- sche Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Gesundheitsökonomie erst Mitte der sechziger Jahre in Gang gesetzt worden, so beson-
ders auch seit der Gründung des Forschungsinstituts für Einkom- menspolitik und Soziale Siche- rung (EINSS) im Jahr 1964 an der Universität Köln, dessen Vorläufer die Arbeitsstelle für sozialpoliti- sche Forschung e. V., Köln, war.
Maßgeblicher Gründer und erster wissenschaftlicher Direktor war der damalige Ordinarius für So- zialpolitik, Prof. Dr. rer. pol. Wilfrid Schreiber (t 1975), der geistige Vater der „dynamischen Rente"
(1957).
Schreiber hatte als Mitglied der von der Bundesregierung 1964 berufenen Sozialenquöte-Kom- mission zusammen mit den Pro- fessoren Walter Bogs, Hans Achinger, Wilhelm Meinhold und Ludwig Neundörfer die Federfüh- rung des Spezial-Kapitels über die gesetzliche Krankenversiche- rung übernommen und darin maß- gebliche gesundheitsökonomi- sche Pionierarbeit geleistet.
Gleichzeitig mit der Vorlage der Sozialenquöte (1966) veröffent- lichte Herder-Dorneich eine um- fassende Grundlagenarbeit (Habi- litationsschrift) mit dem Titel „So- zialökonomischer Grundriß der gesetzlichen Krankenversiche- rung" (Köln 1966).
Inzwischen ist die gesundheits- ökonomische Entwicklung und Forschung an den Universitäten und Hochschulen stürmisch ver- laufen. Nahezu zehn Hochschulin- stitute und ebenso viele Spezial- lehrstühle (zumeist für Sozialpoli- tik oder Nationalökonomie und Fi- nanzwissenschaft) haben inzwi- schen die Gesundheitsökonomik
„entdeckt" oder sich darauf kon- zentriert. Allerdings, und dies be- zeichnete Herder-Dorneich als ei- nen Nachteil: Gesundheitsökono- mie ist lediglich ein Forschungs- gegenstand, aber (noch) kein etabliertes Lehr- und Prüfungs- fach (schon gar nicht im Bereich der medizinischen Ausbildung, in dem allenfalls im Fach Sozialme- dizin und Epidemiologie gesund- heitsökonomische Fragestellun- gen zuweilen anklingen).
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 34 vom 21. August 1985 (27) 2397
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Gesundheitsökonomie
Die Gesundheitsökonomie als rei- nes Grundlagenforschungsfach und Instrument zur praktischen Politikberatung hat sich nach Her- der-Dorneichs Worten in erster Li- nie darauf beschränkt, Fragen der sozialen Sicherung zu entideolo- gisieren und Reformkonzepte und -strategien zu operationalisieren.
In den letzten Jahren ist die Ge- sundheitsökonomie zu einer um- fassenden „Theorie der sozialen Steuerung und sozialen Ord- nungspolitik" — mit abweichen- den Richtungen und konzeptio- nellen „Schulen" auch an ande- ren Hochschulen. Zu nennen ist die Gruppe puristischer Markt- wirtschaftler, die Reformkonzepte auf der Basis reiner Marktmodelle und „radikal"-ökonomischer Lö- sungsansätze auch und gerade im Gesundheitswesen präferieren, so die Professoren Dr. Frank E.
Münnich (Universität München) und Dr. Peter Oberender (Univer- sität Bayreuth), beide Initiatoren einer losen Gruppierung von 30 Sozialwissenschaftlern und Natio- nalökonomen, die im Frühjahr 1984 in der „Frankfurter Allgemei- nen Zeitung" einen Aufruf zur
„Neubesinnung" der Gesund- heitspolitik auf marktwirtschaft- licher Basis (Stichwort: „Wende") veröffentlichten.
Die eigentliche ordnungspoliti- sche Herausforderung für Wissen- schaft, Verbände und Politik wa- ren die ungelösten Fragen der Steuerung, der Neustrukturierung überkommener Gestaltungsfor- men und der Bekämpfung der Fol- gen der Kostenexplosion Anfang bis Mitte der siebziger Jahre. Dies hat auch die Organisationen und Verbände der Ärzteschaft, der Zahnärzteschaft und der pharma- zeutischen Industrie bewogen, ei- gene Beratungs- und Forschungs- institute zu gründen. Das ist auch ganz offensichtlich eine Folge der von der sozialliberalen Bundesre- gierung 1977 gestarteten Kosten- dämpfungsgesetze mit ihren In- terventionsspiralen und der unter dem damaligen Bundesarbeitsmi- nister Dr. Herbert Ehrenberg
(SPD) installierten „Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen", als (vorgebliches) Gestaltungsinstru- ment der Selbstverwaltung.
Die Braintrusts der Verbände Die interdisziplinäre, verbandsbe- zogene gesundheitsökonomische Forschung, bei der Mediziner, Volkswirte, Betriebswirte, Sozial- politiker, Finanzwissenschaftler und Statistiker sowie andere Aka- demiker zusammenwirken, be- gann 1974 mit der Gründung des Kölner „Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung" (ZI), das als gemeinnützige Stiftung und gemeinsame Forschungsein- richtung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung in Köln und der 18 Kassenärztlichen Vereini- gungen der Länder vorwiegend interdisziplinar arbeitet. 1976 folg- te der Bundesverband der Orts- krankenkassen mit seinem Bera- tungsinstitut „Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen"
(WIdO) in Bonn-Bad Godesberg;
1979 gründeten die Kassenzahn- ärztliche Bundesvereinigung und die Bundeszahnärztekammer in Köln das „Forschungsinstitut für die zahnärztliche Versorgung — FVZ —". Unter der Ägide des ehe- maligen Staatssekretärs im schleswig-holsteinischen Sozial- ministerium und CDU-Gesund- heitspolitikers, Prof. Dr. med. Fritz Beske, ist in Kiel im Jahr 1976 das
„Institut für Gesundheits-System- Forschung" (GSF) aus der Taufe gehoben worden. Diese Institute — zu denen noch weitere Einrich- tungen der Auftragsforschung zu zählen wären, die sich auch ein „gesundheitsökonomisches Bein" zugelegt haben — haben al- lesamt eine Reihe von Gutachten und vielfach auch ansehnliche Schriftenreihen „produziert".
Die sieben Großkonzerne der for- schenden pharmazeutischen In- dustrie haben die Medizinisch Pharmazeutische Studiengesell- schaft e. V. (MPS) vor mehr als 24 Jahren eingerichtet. Die Arbeitge- berverbände besitzen in dem An-
fang der fünfziger Jahre gegrün- deten Institut der deutschen Wirt- schaft (IW) in Köln ein sozial- und wirtschaftspolitisches For- schungsinstitut mit publizisti- schem Appendix. Die Gewerk- schaften unterhalten auf Bundes- ebene ebenfalls seit den frühen fünfziger Jahren das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Insti- tut des Deutschen Gewerkschafts- bundes GmbH (WSI) in Düssel- dorf, das u. a. mit einer (damals Furore machenden) Denkschrift
„Die Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland.
Analyse und Vorschläge zur Re- form" (Köln 1971) hervortrat. Auch haben sich wiederholt überregio- nale und internationale Fachge- sellschaften mit gesundheitsöko- nomischen Grundsatz- und Ta- gesfragen befaßt. Die angesehene (1250 Mitglieder zählende) Gesell- schaft für Wirtschafts- und Sozial- wissenschaften (Verein für Social- politik) stellt die Jahrestagung im Herbst in Saarbrücken unter das Motto „Ökonomie des Gesund- heitswesens". Erstmals werden neben renommierten Wissen- schaftlern aus dem In- und Aus- land auch Politiker und Praktiker des Verbandswesens zu Wort kommen. Harald Clade
ZITAT
Sonderopfer
„Jeder verantwortungsbe- wußte Arzt ist sicher immer wieder zu vermehrter Ar- beitsleistung bereit — auch wenn sie nicht auf jeden Heller und Pfennig bezahlt oder genau auf die Stunde über Freizeitausgleich ab- gegolten werden kann. Sei- ne Patienten brauchen die- se Sonderopfer, doch sei- nen Dienstherren ist er sie nicht schuldig."
Die Süddeutsche Zeitung (10. Au- gust 1985, in einem Kommentar von Sibylle Steinkohl) zur Über- stundenregelung an Universitäts- kliniken
2398 (28) Heft 34 vom 21. August 1985 82. Jahrgang Ausgabe A