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in Viertel aller Kinder, die nach der Geburt als nicht risikobelastet ein- gestuft wurden, befindet sich bis zum neunten Lebensjahr in einer ent- wicklungsfördernden Therapie (Ergo- therapie, Sprachtherapie, Kranken- gymnastik und anderes mehr). Diese Ergebnisse einer neuen Studie präsen- tierte Prof. Dr. med. Hans-Georg Schlack vom Kinderneurologischen Zentrum Bonn auf dem 29. Herbst- Kongress der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in Bad Orb. Angesichts des kaum mehr überschaubaren Wirrwarrs von Heil- und Hilfsmitteln rund ums Kind sei eine sorgfältige Indikati- onsstellung wichtig, die zwischen einer Varianz der Entwicklung und einer tatsächlichen Störung, die ohne Therapie zu Entwick- lungsschäden führt, unterschei- det. Wenig hilfreich seien hier et- wa voreilige Diagnosen von Er- zieherinnen in den Kindergärten, die Eltern auf vermeintliche Ent- wicklungsrückstände ihrer Kin- der aufmerksam machen und so den Druck auf die behandelnden Ärzte erhöhen, ohne ausreichen- de Diagnostik eine Therapie an- zuordnen.Entwicklungsfördernde Thera- pien stellen inzwischen einen be- deutenden Kostenfaktor in der Gesetz- lichen Krankenversicherung dar. Prof.
Dr. med. Hermann Schulte-Wisser- mann, Kinderklinik des Klinikums Kre- feld, verwies auf seriöse Schätzungen, nach denen 50 000 Kinder eines Jahr- gangs in Deutschland solche Therapien erhalten. Veranschlage man für jedes behandelte Kind Ausgaben in Höhe von 2 000 DM pro Jahr, so entstehen al- lein für die Behandlung von Kindern im Vorschulalter Gesamtkosten in Höhe von 600 Millionen DM jährlich. Hier
habe sich inzwischen eine wahre „För- der-Industrie“ entwickelt, wo neben vielen seriösen Anbietern auch eine Reihe zweifelhafter Therapien zu fin- den sei.
Der BVKJ begrüßt es, dass mit den seit 1. Juli 2001 gültigen Heilmittelricht- linien die Verordnung von Heilmitteln von bestimmten Kriterien abhängig ge- macht wird. Für notwendig erachtet man auch die in den Richtlinien ver- bindlich festgelegte enge Zusammenar- beit zwischen verordnenden Ärzten und Heilmittelerbringern in Form einer ge- genseitigen schriftlichen Information.
Mit der Definition des Regelfalls erhal- te der Vertragsarzt eine gewisse Rechts- sicherheit und werde vor ungerechtfer- tigten Regressforderungen der Kran- kenkassen geschützt. Allerdings habe es der Bundesausschuss für Ärzte und Krankenkassen versäumt, „den Sach- verstand der Kinder- und Jugendärzte in der Endphase der Beratungen einzube- ziehen“, beklagte Dr. med. Wolfram Hartmann vom BVKJ. So enthielten die Heilmittelrichtlinien unscharfe Formu- lierungen über die Notwendigkeit von
Verordnungen, sodass jedem Kind ein Anspruch auf eine entwicklungsför- dernde Therapie zugebilligt würde.
Zudem könne nicht jede Verhaltensauf- fälligkeit eines Kindes mit einer be- stimmten Therapie behoben werden.
Schlack wies darauf hin, dass mit einer Stunde Ergotherapie pro Woche nicht die Folgen ungünstiger sozioökonomi- scher Rahmenbedingungen für ein Kind ausgeglichen werden könnten.
In der Eröffnungsansprache zum Kongress kritisierte BVKJ-Präsident Dr. med. Klaus Gritz den Kurs des Bun- desgesundheitsministeriums bei der ge- sundheitlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Wie- derholt habe man darauf hinge- wiesen, dass schon in wenigen Jahren eine flächendeckende päd- iatrische Versorgung nicht mehr möglich sein wird, wenn nicht un- verzüglich zusätzliche Weiterbil- dungsstellen auch in den Praxen niedergelassener Kinderärzte ge- schaffen würden. Hier sieht der BVKJ eine einseitige Förderung der Allgemeinärzte zum Nachteil der pädiatrischen Versorgung.
Gritz wies auch auf Versäumnisse der Gesundheitspolitik bei der Prävention hin. Obwohl sich hier durch gezielte und früh ansetzen- de Maßnahmen bis zu 30 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen einspa- ren ließen, würden die Vorschläge des BVKJ für eine Erweiterung des Früher- kennungsprogramms mit Hinweis auf zusätzliche Kosten zurückgewiesen.
Auch auf dem Gebiet des Impfwesens könne man auf ein stattliches Sünden- register verweisen. Trotz immer noch guter wirtschaftlicher Verhältnisse er- scheine Deutschland im internationa- len Vergleich beim Impfen als ein Ent- wicklungsland. Thomas Gerst P O L I T I K
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A2860 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 44½½½½2. November 2001
Kinder- und Jugendärzte
Kritik am Therapiewildwuchs
Zu viele Kinder werden nach Ansicht des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte wegen vermeintlicher Entwicklungsstörungen therapiert.
Varianz kindlicher Entwicklung oder tatsächliche Störung – die Entscheidung fällt nicht immer leicht. Foto: Peter Wirtz