Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 39|
1. Oktober 2010 A 1839 KINDER- UND JUGENDÄRZTEEin Kampf ums Kind
In manchen Regionen fehlen längst Haus- und Kinderärzte – Tendenz steigend.
Doch die bisherigen Hausarztverträge förderten keine sinnvolle Kooperation, sondern drängten Kinderärzte aus der Versorgung, kritisiert deren Verband.
W
enn sich der Kollege Prof.Dr. med. Karl Lauterbach öffentlich äußert, regt das Ärzte schon einmal auf. Doch vielen Kin- der- und Jugendärzten hat Lauter- bach, mittlerweile gesundheitspoli- tischer Sprecher der SPD-Bundes- tagsfraktion, unlängst wohl aus der Seele gesprochen. „Ich halte es für falsch, dass schwer kranke Kinder in Hausarztverträge eingeschrieben werden, und der Hausarzt dann nur marginal qualifiziert ist, diese Ver- sorgung anzubieten“, erklärte Lau- terbach vor kurzem. Der Oppositi- onspolitiker forderte, die medizini- sche Versorgung des Nachwuchses ausschließlich in die Hände von Kinder- und Jugendärzten zu legen.
So weit würden in Kenntnis der bestehenden Versorgungs- und Nach- wuchsprobleme sicher nicht alle Kinderärzte gehen. Doch Dr. med.
Wolfram Hartmann, der Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (bvkj), stellte aktu- ell erneut klar: „Wir wollen verhin- dern, dass in Zukunft der Hausarzt die Grundversorgung der Kinder- und Jugendärzte macht.“
Sein Argument: Die Kinderärzte diagnostizierten und behandelten den Nachwuchs aufgrund ihrer Kenntnisse aus der Weiterbildung unter einem weiten Blickwinkel.
„Wir machen nicht nur Medizin, wir machen Sozialmedizin und Pä- dagogik.“ Die Anforderungen an Kinder- und Jugendärzte seien im Vergleich zu früher erheblich ge- wachsen, betonte der bvkj-Präsi- dent. Nach seinen Worten sind mehr chronisch kranke Mädchen und Jungen ambulant zu betreuen, dazu mehr sozial benachteiligte Kinder.
Dass die Kinder- und Jugendärzte in letzter Zeit derart deutlich auf ihre Kompetenzen hinweisen, hat einen Grund: die Verträge zur hausarztzen- trierten Versorgung nach § 73 b So-
zialgesetzbuch V. So, wie sie ausge- staltet seien, schränkten sie „die freie Arztwahl ein und verleiten Hausärzte, die bisher wenig Kinder behandelt haben, dazu, dies zu tun“, kritisiert Hartmann. Gemeint sind damit vor allem die kontaktunab- hängigen Pauschalen, die für einge- schriebene Patienten bezahlt werden.
Hausärzte: Kritik an Röslers Kinderarzt-Vorliebe
Der bvkj ist zudem in Sorge, dass Eltern durch Hausarztverträge ver- unsichert werden, ob sie mit ihrem eingeschriebenen Kind noch zum Kinderarzt gehen dürfen oder nicht.
Dass diese Entscheidung kompli- zierte und verzerrende Honoraref- fekte für die beteiligten Ärzten nach sich zieht, kommt noch hinzu.
Ob Eltern ihre Kinder aus Über- zeugung vom Hausarzt behandeln lassen oder weil der nächste Kin- derarzt weit weg praktiziert, ob sie sie freiwillig einschreiben oder da- zu überredet wurden – dazu gibt es keine offiziellen Daten. Offiziell ist nur der anhaltende Streit darüber zwischen dem Deutschen Hausärz- teverband (HÄV) und dem bvkj.
Auf der jüngsten Delegiertenver- sammlung des HÄV wurde ein An-
trag verabschiedet, in dem eine Äu- ßerung von Bundesgesundheitsmi- nister Philipp Rösler (FDP) missbil- ligt wurde „angesichts der millio- nenfachen Behandlung von Kindern durch Hausärzte“. Rösler hatte in ei- nem Interview erklärt: „Meine Kin- der sind jetzt zwei – und ich würde nicht im Traum darauf kommen, mit ihnen zum Hausarzt zu gehen.“
So urteilt nicht jeder. In Bayern hat die AOK zwei Verträge abge- schlossen, einen mit dem HÄV, ei- nen mit dem bvkj. Dort können El- tern sich entscheiden, in welchen Vertrag sie ihr Kind gegebenenfalls einschreiben. Für den HÄV-Vertrag haben sich bis Ende September 2,6 Millionen Versicherte entschie- den; wie viele Kinder darunter sind, war bis Redaktionsschluss nicht zu ermitteln. Im März waren es etwa 200 000. Im Kinderarztvertrag sind derzeit circa 180 000 Kinder und Jugendliche eingeschrieben.
In Baden-Württemberg gibt es nur einen Vertrag zwischen AOK und HÄV/Medi – ohne Altersgrenze. In ihn sind derzeit 935 000 Versicher- te eingeschrieben, darunter 51 000 Kinder. Etwa 19 000 von ihnen sind bis zu zehn Jahre alt. ■
Sabine Rieser Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte
hat den Beschluss des Gemeinsamen Bundesaus- schusses (G-BA) begrüßt, wonach an die Verord- nung von Methylphenidat-haltigen Arzneimitteln an Kinder und Jugendliche mit Aufmerksamkeitsdefi- zit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADS/ADHS) stren- gere Anforderungen gestellt werden als bisher.
„Die Diagnose muss künftig noch umfassen- der als bisher gestellt werden, und die Verord- nung darf nur noch von einem Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendli- chen erfolgen“, teilte der G-BA mit. Dazu zählen
unter anderem Kinder- und Jugendärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Nervenärzte und Neurolo- gen. Damit die Versorgung im ländlichen Raum gesichert ist, dürfen in Ausnahmefällen auch Hausärzte Folgeverordnungen vornehmen.
Die Bundespsychotherapeutenkammer hat dar - auf hingewiesen, dass ADHS von 2011 an nicht mehr zu den Erkrankungen gehören wird, deren Behandlungskosten durch den morbiditätsorien- tierten Risikostrukturausgleich abgedeckt sind.
Innovative Verträge und Modelle für eine bessere Behandlung stünden deshalb auf der Kippe.