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A2752 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4217. Oktober 2003
S T A T U S
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ls ich im September 2002 in Madhu/Sri Lanka an- kam, hatten soeben die Friedensverhandlungen be- gonnen. Von „Ärzte ohne Grenzen“ war ich über die Hintergründe des 19 Jahre an- dauernden Bürgerkriegs auf der Insel informiert worden:Seit 1983 kämpfte die tamili- sche Minderheit gegen die singhalesische Regierung um ihre Unabhängigkeit. Mehr als 65 000 Menschen kamen ums Leben, rund eine Million Men- schen wurde vertrieben. Seit Februar 2002 galt ein Waffen- stillstand.
Madhu ist ein katholischer Wallfahrtsort.Die große Basili- ka wird jährlich von Tausenden
Pilgern besucht und ist von ei- nem „heiligen Bezirk“ umge- ben, in dem nie Kampfhand- lungen stattgefunden haben.
Auf dieser kleinen „Insel des Friedens“, nur zehn Kilometer von der Front entfernt, hatten sich in Kriegszeiten bis zu 60 000 Vertriebene in kleinen Hütten zusammengedrängt.
„Ärzte ohne Grenzen“ ar- beitete seit 1991 in Madhu und betrieb ein ursprünglich für Pil- ger gebautes kirchliches Kran- kenhaus. Zusammen mit Ann, einer Allgemeinärztin aus Bo- ston, war ich drei Monate für dieses 30-Betten-Krankenhaus verantwortlich. Es gab einen Kreißsaal mit zwei Plätzen, der von einer schwedischen und ei-
ner tamilischen Hebamme ge- führt wurde. Die Patienten wa- ren in drei Sälen untergebracht.
Zudem gab es einen „emer- gency room“ mit drei Betten und einem Isolierzimmer. Der
„emergency room“ war ausge- stattet mit einer Kiste, in der sich Intubationsbesteck samt Zubehör befand. Ein per pedes betriebenes Absauggerät wur- de bei Bedarf vom Reinigungs- personal bedient. Diagnosti- sche Hilfsmittel standen nur in begrenztem Umfang zur Verfü- gung: ein kleines EKG-Gerät, Malariaschnelltests, Glucose- teststreifen, Urinteststreifen.
Gründe für einen Krankenhaus- aufenthalt waren:Malaria,Pneu- monien, Asthma, Gastroenteri- tiden (vor allem bei Kindern), Selbstmordversuche (Organo- phosphatingestion), großflächi- ge Abszesse. Einige mangel- ernährte Kinder wurden regel- mäßig stationär versorgt. An zwei Tagen pro Woche konnten wir Patienten ins nächstgelege- ne Distriktkrankenhaus verle- gen. Jede Verlegung war mit ei- nem großen Verwaltungsauf- wand verbunden, weil auf der Fahrt dorthin die ehemalige Front überquert werden muss- te, was nur an wenigen „Check- points“ möglich war. Beide Sei- ten verlangten Papiere in drei- facher Ausfertigung für jeden
Patienten. Notfalltransfers wa- ren nur nach Absprache mit beiden Seiten per Funk mög- lich.
Jeder Arzt leitete eine Wo- che das Krankenhaus, der an- dere übernahm die Sprech- stunden für ambulante Patien- ten in Madhu und den umlie- genden Dörfern. Täglich belu- den wir einen Geländewagen mit Verbandsmaterial, Medi- kamenten, Arzt, Apotheker, Übersetzer und zwei Kranken- schwestern. In abgelegenen Dörfern war der Andrang der Patienten oft sehr groß, weil es keine andere medizinische Hilfe gab.
Viele Patienten klagten über „whole body pain“, ei- nen nicht zu lokalisierenden Schmerz im ganzen Körper, der wahrscheinlich im Zusam- menhang mit einem Post- Stress-Syndrom steht. Thera- pieansätze mittels ausführli- cher Gespräche oder Analgeti- kagabe erbrachten meist nur vorübergehende Linderung.
Trotz anfänglicher Skepsis scheint der Friedensprozess in Sri Lanka voranzuschreiten. Im Vertrauen auf einen dauerhaf- ten Frieden hat „Ärzte ohne Grenzen“ die Arbeit in Madhu Ende März 2003 eingestellt.
Die katholische Kirche und das Rote Kreuz Sri Lanka werden einen Teil der Aktivitäten wei- terführen. Dr. Jürgen Fleisch E-Mail: fleischj@ohsu.edu
Ärzte ohne Grenzen
Einsatz in Sri Lanka
S T A N D P U N K T
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er Vorschlag des Marburger Bundes, die EuGH-Ent- scheidung zum Bereitschaftsdienst über einen Stufenplan„schrittweise“ umzusetzen, ist inakzeptabel. Ab sofort muss der Bereitschaftsdienst als volle Arbeitszeit angerechnet werden. Somit dürfen öffentlich angestellte
Ärzte maximal zehn Stunden pro Arbeits- tag beziehungsweise durchschnittlich maxi- mal 48 Stunden pro Arbeitswoche zu Tätig-
keiten im Krankenhaus herangezogen werden. Die öffentli- chen Landesämter für Arbeits- und Gesundheitsschutz sind verpflichtet, die Einhaltung dieser Arbeitsrechtsbestimmun- gen zu überwachen. Zuwiderhandlungen stehen unter Strafan- drohung. Selbstbewusste Krankenhausärzte werden mit dem Urteil auf ihren gesetzlichen Arbeitsrechtsansprüchen beste- hen. Die zur Aufrechterhaltung des bisherigen stationären Versorgungsumfangs erforderlichen zusätzlichen Fachärzte
stehen jedoch nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung, weil der Nachwuchs längst attraktive Tätigkeiten in Wirtschaft, Me- dien und im Ausland vorgezogen hat. Nur mit wettbewerbs- fähigen Arbeits-, Weiterbildungs- und Vergütungsangeboten sowie der sofortigen Abschaffung der AiP-Zeit könnten künftig langfristig jun- ge Ärzte dazu motiviert werden, wieder in deutschen Krankenhäusern tätig zu werden. Kurzfristig kann ein dramatischer Einbruch bei den stationären Versorgungsleistungen für gesetzlich Versicherte nur dadurch abgemildert werden, dass die öffentlichen Arbeit- geber die derzeit tätigen Krankenhausärzte dazu bewegen, freiwillig über den gesetzlich vorgegebenen Rahmen hinaus Mehrarbeit anzubieten und diese dann in freier vertraglicher Vereinbarung entsprechend übertariflich zu vergüten.
Dr. med. Wolfhart Priesack,Städtisches Krankenhaus Kiel
Mehrarbeit
„Ärzte ohne Grenzen“ war lange Zeit als einzige Nicht- regierungsorganisation im Tamilengebiet aktiv.
Foto:privat
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