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Archiv "Der Einbruch der Herrschaft in die Medizin" (08.08.1988)

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D

ie Präventivmedizin als Zielpunkt der bisherigen Entwicklung von der pal- liativen über die kurative und zuletzt die prothetische Medizin bedeutet einen qualitativen Sprung.

Erstmals ist das Gesundheitswesen nicht nur von mittelbarem Machtin- teresse — als Militärmedizin etwa oder als hygienische Abwehr von Epidemien oder zur Sicherung der.

Arbeitsproduktivität der Industrie- bevölkerung —, sondern wird ein di- rektes Herrschaftsmittel. In der Ge- sundheitsvorsorge enthüllt der So- zialstaat seine Räson der Herrschaft durch kollektive Daseinsvorsorge;

er bedient sich dazu der Sozialtech- niken der präventiven Medizin und ihres wissenschaftlichen Kerns, der Risikofaktorenforschung. Fragen wir also genauer, was diese modern- ste Gestalt der Medizin ist, welche Mittel sie benützt und welche Folgen sie für die Medizin selbst, für Wirt- schaft und Gesellschaft hat. Und schließlich will ich an ihr demon- strieren, warum gerade die Präven- tion Gesundheit zur beherrschbaren Sache verwandelt.

Präventive Medizin kann man definieren als öffentliche Gesund- heitssicherung mit sozialmedizini- schen Mitteln zur Abwehr von indi- viduellen und vor allem kollektiven Krankheitsrisiken im Vorfeld der kurativen und prothetischen Medi- zin. Soweit es ihr Ziel ist, den Ge- sundheitszustand etwa nach Alter, Geschlecht, Sozialschicht, Arbeits- und Berufslage bestimmter Risiko- gruppen nachhaltig zu verbessern, spricht man von Primärprävention oder Gesundheitsvorsorge; soweit bestimmte Risikofaktoren etwa für Herz und Kreislauf, Stoffwechsel, Schwangerschaft erforscht sind und in ihrem Wirkungskreis bei Indivi- duen oder Gruppen gehemmt wer- den sollen, spricht man von Sekun- därprävention oder Krankheitsfrüh- erkennung. Einige Sozialmediziner verstehen auch die Rehabilitation, also Maßnahmen zur Wiedereinglie- derung von wieder Gesundeten oder lebenserträglich therapierten und kompensierten Dauerkranken in die Gesellschaft, als tertiäre Prävention.

Neben dem sozialmedizinischen Zweck der Hebung und Sicherung

.der Volksgesundheit treten heute zunehmend andere, nichtmedizini- sche Ziele hervor: Prävention ist von wirtschaftlicher Bedeutung, wenn mit ihrer Hilfe für die Gesetzliche Kranken- und Altersversicherung Kostenersparnisse in der stark ex- pansiven kurativen Medizin in freier Praxis und Klinik erreicht werden sollen. . . . Sie verfolgt weiter einen gesellschaftlichen Zweck, wenn sich Gesundheitspolitiker mit ihr eine Steigerung der Lebens-, Leistungs- und Glücksfähigkeit, also der kör- perlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindlichkeit der Bevölkerung im Sinne der Weltgesundheitsorga- nisation versprechen .. .

Paradigmenwechsel in der Medizin

Die primären Folgen für die Medizin selbst, die sekundären für Wirtschaft, Gesellschaft und Staat sind offensichtlich. In der experi- mentellen, klinischen und epidemio- logischen Medizinforschung dringen sozialmedizinische, d. h. sozialstati- stische und sozialempirische (medi- zinsoziologische) Methoden vor und verändern das Objekt der Medizin.

Es ist der schon vorgeführte Para- digmenwechsel von der klassischen kurativen, der naturwissenschaft- lichen Medizin, deren Gegenstand

-der einzelne Patient und sein kör- perlicher Organismus ist, über die technische Medizin, die Körper, Seele und Umwelt des lädierten und defizitären Menschen durch organi- sche, psychische oder soziale Pro- thesen kompensiert und komplet- tiert, zu einer sozialen Medizin, die mit massenstatistischen Gesetzlich- keiten die Lebenslagen von Kollek- tiven inspiziert und bei Bedarf in sie interveniert.

Außerdem unterwirft die ge- sundheitsökonomische Logik der Prävention die Medizin deren Ko-

sten-Nutzen-Kalkülen: Es scheint kostengünstiger, die Gesundheit rechtzeitig vor Schäden zu bewah- ren, als bereits eingetretene Krank- heiten zu heilen. Daraus entspringt der von den Gesundheitspolitikern oft aggressiv vorgetragene Vorrang der präventiven vor der kurativen und technischen Medizin.

Zudem führt das gesellschafts- politische Programm eines „Rechts auf Gesundheit" in die Dialektik al- ler sogenannten sozialen Grund- rechte.

Wer Rechte auf Arbeit, Bil- dung, Wohnung, ein gesichertes Al- ter oder hier auf Gesundheit vergibt, löst schnell wachsende Anspruchs- wellen aus, die das Sozialbudget überlasten, ja sprengen. Um diese Explosion der Bedürfnisse einzu- dämmen, wird soziale Kontrolle durch Laien oder Experten oder Ämter nötig .. .

Gemeinsam ist dem Westen wie dem Osten die Verformung des Arztberufes zu einer Agentur für ge- sellschaftspolitische Zwecke: Er wird, indirekt oder direkt dazu ange- halten, zum Kontrolleur und Thera- peuten eines öffentlichen Gesund- heitsideals.

Die Gesundheitserziehung ist heute schon der Vorbote; der Zwang zur „gesunden Lebensfüh- rung", zur Vermeidung also von vorsorglich erforschten Risikofakto- ren — bei Übergewicht etwa oder Genußmittelkonsum, Freizeit- und Sporttätigkeiten oder im Straßenver- kehr. Das „Recht auf Gesundheit"

verkehrt sich zur öffentlich sanktio- nierten „Pflicht zur Gesundheit".

Es liegt weiter in der Räson des Sozialstaats, sich in einem ersten Schritt die Loyalität seiner Bürger durch verläßliche Daseinsvorsorge zu verschaffen. Das System der so- zialen

Sicherung, seine Anspruchs- und

Leistungsdynamik, seine Sozial- gesetze, Ämter und Berufe sind hierfür alltäglicher Ausdruck. Der

Der Einbruch der Herrschaft in die Medizin Horst Baier

Dt. Ärztebl. 85, Heft 31/32, 8. August 1988 (27) A-2205

(2)

CT-Geräte CT 331 263 594

DSA-Geräte DS 328 81 409

NMR-Geräte MR 41 37

7

8

Bundesgebiet 1 869 927 2 796

Tabelle 1:

Medizinisch

-

technische Großgeräte (Anfang 1988)

Gerätetyp Zahl der Geräte

Praxis') Kranken-

samt samt Code

Linksherz-Katheter-Meßplätze LH 184 9 193

Gamma-Kameras (inkl ECT) Linear- und Kreisbeschleuniger Co-60 und Cs-137 Geräte Nierenlithotripter

Gallenlithotripter

GK 655 513 1 168

LI 126 3 129

CO 165 20 185

NI 35 1 36

GA 4 0 4

1) Standort unabhängig von den Eigentumsverhält- nissen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Medizinisch-technische Großgeräte:

Sprunghafte Zunahmen

nächste Zug ist die schleichende Entmündigung der Bürger im Status der Sozialversicherten: Wer die Ent- scheidung über seine Lebenssiche- rung an den Staat und seine Sozial- experten abgibt, über den wird gera- de in den kritischen Phasen seines Lebens — in Jugend und Alter, bei Krankheit und Schwangerschaft, bei Arbeitslosigkeit und Wohnungsnö- ten — entschieden, vielleicht wohltä- tig im Überfluß, gewiß schmerzlich bei Knappheit.

Der Schlußpunkt ist die durch- greifende Unterwerfung der Bürger unter die öffentlichen Gewalten.

Die Sozial- und Gesundheitsverwal- tung entwickelt ein bald feines, bald grobes Instrumentarium der sozialen Kontrolle, also von lernfesten Be- lohnungen und Bestrafungen, von Prämien und Bußen zur Steuerung der gewünschten Lebensführung ih- rer sozialen Klientele.

Die präventive Medizin ist für solche Kontrollaufgaben eines der wirksamsten Hilfsmittel: Sie verbin- det mit der Autorität der medizini- schen Wissenschaft das Kosten-Nut- zen-Kalkül der Gesundheitsökono- mie und das demokratische Gesell- schaftsideal des gleichen Glückes für alle, enthüllt damit vollends das Ge- sicht des modernen Sozialstaates:.

Herrschaft durch organisierte kol- lektive Daseinsvorsorge. Und Ge- sundheit ist eines der ersten Güter, das durch die Herrschaft erzeugt, verteilt und gesichert wird, und da- mit die „Gesunden" abhängig, ge- fügig und loyal macht. „Complian- ce" , ein anglophones Versteckspiel mit dem originären Ausdruck „Füg- samkeit", ist deshalb auch zum zen- tralen Problem einer Verhaltens- steuerung der Sozialversicherten ge- worden. Gesundheit wird zur be- herrschbaren Sache.

(Professor Dr. med. Horst Baier ist Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität Konstanz. Der leicht gekürzte Beitrag wurde mit freundlicher Genehmigung des Au- tors und des Verlages seinem Buch

„Ehrlichkeit im Sozialstaat" — Ver- lag A. Fromm, Osnabrück, 1988 — entnommen.)

Anfang 1988 wurden in der Bundes- republik Deutschland 2796 medizi- nisch-technische Großgeräte vorge- halten (Tabelle 1). Dies bedeutet ei- nen Anstieg um 224 Großgeräte be- ziehungsweise 8,7 Prozent gegen- über dem Vergleichszeitpunkt des Vorjahres. Von diesen zusätzlichen Großgeräten wurden 176 in Kran- kenhäusern und 48 in Praxen in Be- trieb genommen

Von den insgesamt installierten 2796 medizinisch-technischen Groß- geräten entfallen rund 87 Prozent auf Großgeräte, die grundsätzlich für diagnostische Zwecke eingesetzt werden, wobei auf die 1168 Gamma- Kameras mit 42 Prozent beinahe die Hälfte aller Großgeräte entfällt. Bei den Gamma-Kameras wurde auf ei- ne Unterscheidung nach Gerätety- pen verzichtet, da eine klare Zuord- nung in vielen Fällen nicht möglich ist. 1869 (67 Prozent) aller Großge- räte sind im Krankenhausbereich in-

stalliert, in dem auch fast alle Groß- geräte betrieben werden, die für the- rapeutische Zwecke eingesetzt wer- den. Demgegenüber dominieren in den Praxen der niedergelassenen Ärzte die Diagnostikgeräte, wobei der Anteil der CT-Geräte und Garn- ma-Kameras allein rund 84 Prozent aller in den Praxen betriebenen Großgeräte umfaßt.

Boom seit 1972

Im Jahre 1972, dem Zeitpunkt der Verabschiedung des Kranken- hausfinanzierungsgesetzes (KHG) und der damit verbundenen staat- lichen Krankenhausplanung, gab es in der Bundesrepublik Deutschland insgesamt 352 medizinisch-techni- sche Großgeräte; davon wurden et- wa 70 Prozent therapeutisch einge- setzt. Während sich in den folgen- den Jahren die Zahl der Therapiege-

A-2206 (28) Dt. Ärztebl. 85, Heft 31/32, 8. August 1988

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