• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Wesentlich: Klassencharakter" (15.02.1979)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Wesentlich: Klassencharakter" (15.02.1979)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Die Information:

Bericht und Meinung DER KOMMENTAR

Wesentlich:

Klassencharakter

Zu einem ostdeutschen Buch über westliche Gesundheitspolitik

Ein Mediziner aus der DDR reiste kürzlich zu Gastvorlesungen an der Harvard-Universität in die USA. Bereits bei der Ankunft auf dem J.-F.-Kennedy-Flugplatz in New York, schreibt er, könne dem

„aufmerksamen Beobachter" auf- fallen, daß die USA „kapitalisti- scher" sind als alle anderen kapi- talistischen Länder — nämlich dar- an, daß es in den USA so viele private Fluggesellschaften gibt (gewöhnlich gebe es ja immer nur eine, vom Staat kontrollierte, Ge- sellschaft).

Uns will diese „Beobachtungsga- be", mit der gerade dies als Merk- mal der kapitalistischen USA regi- striert wird, ziemlich naiv erschei- nen; bei uns weiß schließlich jedes Kind, daß es in den USA private Fluggesellschaften gibt. Aber: Es ist durchaus möglich, daß es die- ser DDR-Mediziner vorher nicht gewußt hat, auch wenn er Profes- sor und Rektor der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR ist.

Dies ist einer der Gründe, weshalb man sich doch einmal die Mühe machen sollte, ein in der DDR er- schienenes Buch*) über die Ge- sundheitspolitik in den westlichen Ländern genau zu studieren. Man wird dann vielleicht erfühlen kön- nen, wie schrecklich schlecht in- formiert selbst Akademiker und Wissenschaftler sein können, wenn sie zum einen von der Au- ßenwelt abgeschlossen gehalten werden und auch noch alles durch eine ideologisch vorgefärbte Brille betrachten müssen.

In diesem Buch finden sich zahl- reiche Beispiele dafür. So wird an einer Stelle nach der in Prag er- scheinenden internationalen (in Wirklichkeit als Organ des ideolo-

gischen Führungsanspruchs der KPdSU fungierenden) Zeitschrift

„Probleme des Friedens und des Sozialismus" die Pariser „Humani- te" mit einer Statistik zitiert. Es heißt dort, 1975 habe es in Frank- reich 1986 tödliche Arbeitsunfälle gegeben; dazu wurden aber noch 1309 Werktätige bei Unfällen auf dem Wege zur Arbeit getötet. „So- mit wurden mehr als 3000 Men- schen Opfer des kapitalistischen Arbeitssystems", heißt es dazu.

Selbst am gewöhnlichen Ver- kehrsunfall muß ja nämlich ir- gendwie, verdammt nochmal, et- was über den Klassenkampf zu fin- den sein!

Und so geht es munter weiter, ob es nun stimmt oder nicht. Beson- ders ergiebig ist ein Kapitel über

„Rolle und Funktion der ärztlichen Standesorganisationen in der BRD" (Hurra! es heißt wirklich

„BRD" in diesem bösen Buch!).

Verfasser dieses Kapitels sind Pro- fessor Dr. phil. Horst Spaar, Leiter des Lehrstuhls für Wissenschaftli- chen Kommunismus an der Aka- demie für Ärztliche Fortbildung der DDR, und eine wissenschaftli- che Mitarbeiterin am Institut für Wissenschaftsinformation in der Medizin der DDR. Gelehrte Leute also, die es wissen müßten. Nach ihnen haben Standes- und Berufs- organisationen der Ärzte in der

„BRD" die gemeinsame Funktion,

„die Ärzte in das staatsmonopoli- stische Herrschaftssystem zu i nte- g ri e re n ".

Zu diesem Zweck hat der Staat den Ärztekammern und den Kas- senärztlichen Vereinigungen ei- nen Katalog von Aufgaben „in die Selbstverwaltung übergeben", zu denen fälschlicherweise auch „die Erteilung der Approbation" ge- hört. Von erschütternder Unkennt- nis zeugt auch der Satz: „Die Macht der Bundesärztekammer resultiert aus den Funktionen, die ihr vom Staat übertragen worden

*) Autorenkollektiv unter Leitung von Horst Spaar: Zur Kritik der Gesundheitspolitik im heutigen Kapitalismus, Band 4 der Reihe: Me- dizin und Gesellschaft, VEB Gustav Fischer Verlag, Jena, 1978, 202 Seiten, 15 Tabellen, broschiert, 14,50 DM

sind." Die gewählten Mandatsträ- ger und die Mitarbeiter der BÄK, und noch mehr ihre westdeut- schen Kritiker, werden hohl la- chen, wenn sie das lesen. Aber:

Woher soll der Landarzt in der DDR, der dieses Buch vielleicht als Beiheft zu seiner „Zeitschrift für ärztliche Fortbildung" bezieht, es besser wissen?

Eine merkwürdige Sicht der Dinge sind die „zwei Säulen" der ärztli- chen Standespolitik, über welche

„die politisch-ideologische Mani- pulierung der Ärzteschaft reali- siert" wird. Eine der beiden Säulen bilden die Ärztekammern und der Hartmannbund. Letzterer ist „von vornherein als ein politisches In- strument zur Manipulierung der Ärzte im Interesse der herrschen- den Klasse geschaffen worden", und die Mitgliedschaft im Hart- mannbund ist „heute vor allem ein politisches Bekenntnis".

Die zweite Säule hat es in sich, schon mal rein sprachlich: sie ist

„vorwiegend auf die Wahrneh- mung der ökonomischen Interes- sen der Ärzte gerichtet" und wird

"institutionell vor allem von den Kassenärztlichen Vereinigungen und dem Marburger Bund verkör- pert" (Hervorhebungen: DÄ). Wo- bei die KVen hauptsächlich die

„Monopolstellung in der ambulan- ten Versorgung gegen die weni- gen progressiven Zugeständnis- se", etwa des Kostendämpfungs- gesetzes, zu verteidigen haben und „zu konstruktiven, vorwärts weisenden Konzeptionen durch ihre fortschrittsfeindliche Grund- position" auch gar nicht in der La- ge wären.

Und der Marburger Bund schließ- lich wirkte „immer wieder als Ven- til für die Unzufriedenheit der jun- gen angestellten Ärzte". Er gibt sich zwar als Gewerkschaft, aber er ist natürlich in Wirklichkeit kei- ne, sondern er soll ja die angestell- ten Ärzte gerade „vom Kampf der Arbeiterklasse fernhalten".

Zum Marburger Kongreß „Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt"

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 7 vom 15. Februar 1979 413

(2)

Die Information:

Bericht und Meinung

Der „Klassencharakter" westlicher Gesundheitspolitik

Anfang 1973 wird zum Beispiel der glücklose Erfinder des klassenlo- sen Krankenhauses, der Landrat Woythal, kurzerhand zu den dort tagenden „progressiven Ärzten"

gezählt und bekommt auch einen Doktortitel (den er gar nicht hat).

Man hätte erwarten können, daß Woythal mit seinen Plänen als be- sonders progressiv herausgestellt wird und daß man ihn als Beispiel dafür nimmt, wie fortschrittlich denkende Sozialdemokraten von der „mächtigen" Bundesärzte- kammer (oder von wem sonst im- mer) abgewürgt werden. Aber nichts dergleichen — die Verfasser wußten es offenbar nicht.

Auch Eigentore kommen vor. Die westdeutschen Sozialhilfeleistun- gen (Arbeitslosengeld und -hilfe, Umschulungsmittel und so weiter)

„machen einen zunehmenden An- teil der aus staatlichen Fonds ge- zahlten Sozialausgaben aus".

Weiter heißt es: „Steigende Aus- gaben für Sozialhilfe beweisen aber die Unfähigkeit des Gesell- schaftssystems, die sozialen Pro- bleme im Interesse der Werktäti- gen zu lösen. - Es sollte einer wa- gen, dies im SED-Staat auszuspre- chen, wenn mal wieder eine Erhö- hung der staatlichen Mittel für die Sozialversicherung oder für so- zialpolitische Verbesserungen als großer Erfolg herausgestellt wer- den muß!

Aber diese Dinge sind ernster, als daß wir es bei verständnisvollem Schmunzeln bewenden lassen sollten. Bei manchen der hier ver- tretenen Autoren kann man viel- leicht noch sagen: sie müssen so etwas schreiben. Aber je weiter die Zeit fortschreitet, desto häufiger werden sie so etwas schreiben wollen, weil sie davon überzeugt sind. Nur fehlt es ihnen eben oft an Kenntnissen, an Fakten, an Infor- mationen und öfter noch an Ein- blick in die Zusammenhänge, in die Hintergründe. Andererseits sind sie es aber gewöhnt, da sie selbst unter einem „System" le- ben, in Systemen zu denken, in Theorien. Daher kommt es, daß sie, auch wenn keine Theorie da

ist, eine finden; sie müssen näm- lich eine finden: „Die herrschende Gesundheitspolitik ist in eine Ge- samtpolitik integriert, der jedes Mittel recht ist, sofern es nur den Profit- und Machtinteressen des Kapitals dient und dazu beitragen kann, das historische Schicksal der bürgerlichen Gesellschaft hin- auszuzögern. Wie sich auch die ökonomischen, politischen und ideologischen Erscheinungsfor- men des Kapitals wandeln mögen, ist und bleibt doch das Kapital ,rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird`."

Dieses letztere Teilzitat steht bei Marx und Engels, also ist es richtig und wissenschaftlich bewiesen, und damit basta!

Wir haben es besser. Wir brauchen keine Theorie, und wir können uns frei und umfassend informieren.

Allerdings sollten wir uns selbst- kritisch fragen, ob wir von dieser Freiheit immer verantwortungsvol- len Gebrauch machen.

Oder geben wir uns auch manch- mal mit Hingeschludertem zufrie- den? — Auch dafür Beispiele aus dem Buch, aus einem Kapitel über England: „Der Volksgesundheits- dienst eröffnete mit zurückhalten- dem Einverständnis der Konsul- tanten seine Tätigkeit ... Es han- delte sich hier um eine soziale Um- verteilung der Gesundheitsfürsor- ge, denn die Krankenhäuser sorg- ten für die Population der Indu- striebetriebe ...". Dies ist ganz of- fensichtlich eine miese Überset- zung. Nur muß man eben wissen, daß der Verfasser, ein britischer Arzt, Linkssozialist ist — der Aus- druck „Volksgesundheitsdienst"

ist also womöglich doch sehr be- wußt gewählt worden.

Wenn man sich einmal eingehend mit einem solchen Buch beschäf- tigt, so kommt man auch darauf, daß wir vielleicht viel mehr darauf achten müßten, unserer Jugend — die zwar nicht direkt von den vor- stehend zitierten Lehren beein-

flußt wird, aber indirekt doch von sehr ähnlichen Denkweisen — oder den jungen Staaten der außereu- ropäischen Welt nicht auch noch Argumente frei Haus zu liefern.

Was damit gemeint ist, läßt sich klarmachen am Beispiel des Ge- sundheitsbegriffes der Weltge- sundheitsorganisation (WHO). Er wird in diesem Buch dargestellt als „eine wesentliche Seite der An- erkennung des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus als der grundlegenden Gesetzmäßig- keit unserer Epoche". Jeder Nicht- kommunist wird dies für Quatsch halten. Aber im weiteren werden dann genüßlich Stimmen aus der Bundesrepublik Deutschland zi- tiert, auch Stimmen von Ärzten, die sich gegen die Definition wen- den und sie zum Beispiel als uto- pisch bezeichnen. Die „wirklich sozialen Staaten, wie die sozialisti- schen," hätten dagegen die inhalt- liche Orientierung des WHO-Ge- sundheitsbegriffes zum Bestand- teil ihrer Gesamtpolitik gemacht.

Woraus der Schluß gezogen wird:

Die Bundesrepublik Deutschland ist gar kein Sozialstaat. Denn es komme ja noch dazu, daß der WHO-Gesundheitsbegriff inhalt- lich voll dem Artikel 25 der „Allge- meinen Erklärung der Menschen- rechte" der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1948 entspricht.

Und dieser Artikel geht sogar noch viel weiter als die WHO-Definition.

Wir, die wir das Glück haben, in einer weitgehend a-theoretischen Gesellschaft zu leben, wissen, wie wir mit solchen programmati- schen Erklärungen internationaler Organisationen umzugehen ha- ben. Aber wer sich damit beruhigt, eine solche Argumentation über den WHO-Begriff und über die Menschenrechtserklärung werde, auch bei häufiger Wiederholung, auf keinen der 17 Millionen DDR- Bürger Eindruck machen, auf kei- nen Jung- oder anderen Wähler bei uns, auf keinen Afrikaner oder Asiaten, die heutzutage Bildung geradezu mit Heißhunger in sich aufsaugen — ist der sich seiner Sa- che so sicher? Günter Burkart

414 Heft 7 vom 15. Februar 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Aber ge- rade in der heutigen Zeit, in der auch und gerade beim Praxiskauf ökonomische Zwänge eine immer größere Rolle spielen, kann es nicht mehr angehen, daß eine

1988, 224 Seiten, 29 DM Auf der ganzen Welt gibt es eine Handvoll Züge und Schienenwege, die aus der Masse der Fortbewegungs- mittel herausragen; sie sind zum Mythos geworden, zum

- Über welche medizinisch-technischen Einrichtungen verfügen die Gruppenpra- xen , wann werden sie eingesetzt , gibt es Kriterien für den rationellen Einsatz die- ser Geräte

Ich plädiere für eine Rückkehr zur Finanzierung aller medizinisch not- wendigen und wirtschaftlichen Maß- nahmen der medizinischen Versor- gung durch die GKV bei Finanzie- rung

Formula Grants sind Bundesmittel, die an die einzelnen Bundesstaaten vergeben werden, um Alkoholmiß- brauch und Alkoholismus mit Hilfe von einzelstaatlichen und

Diese Prüfung übernimmt ab Juli 1984 als alleiniges Examen den Platz, der bisher von ECFMGE plus VQE eingenommen wurde. Es ist zu erwarten, daß es inhaltlich dem VQE

Wenn aus den restlichen Wohnungen die bisherigen Mieter ausziehen, wird die betreffende Wohnung von der Mietbindung frei und kann zu doppelt so hoher Marktmiete

Wer jetzt schon Pläne für das nächste Jahr schmie- det und dabei auch einen der Internationalen Fortbil- dungskongresse der Bun- desärztekammer einbezie- hen will, sollte sich vom