Die Information:
Bericht und Meinung
Katharina Focke:
Konkurrenz als
„Leistungsanreiz"
„In den letzten Jahren haben wir leider vielfach die Erfahrung machen müssen, daß selbst methodisch hervorragende Prognosen mit großer Vorsicht zu ge- nießen sind. Diese Erfahrung sollte da- her auch bei der Diskussion um den Ärztebedarf berücksichtigt werden. Es besteht einstweilen kein Anlaß zu laut- starken Forderungen oder überstürzten
Maßnahmen."
„Wir sind zur Zeit mitten in einer Dis- kussion zur strukturellen Weiterentwick- lung des Gesundheitswesens. Diese Diskussion wird erfreulicherweise zu- nehmend sachbezogener. Ohne das Er- gebnis dieser Diskussion erscheinen mir Aussagen über den zukünftigen Be- darf bei den einzelnen Gesundheitsbe- rufen zwar in jedem Falle interessant, aber eben doch mit sehr vielen Frage- zeichen versehen."
„Sicher: Die Zahl der Ärzte in der Bun- desrepublik ist in den letzten Jahren ganz erheblich gestiegen. Gerade auf dem Sektor der Krankenhausversor- gung ist seit Verabschiedung des Kran- kenhausfinanzierungsgesetzes die ärzt- liche, aber auch die pflegerische Ver- sorgung des Patienten grundlegend verbessert worden. Im Regelfall braucht heute niemand mehr über unzureichen- des Personal zu klagen. Und die fach- ärztliche Versorgung besonders in den Ballungsräumen kann sich sehen las- sen. Aber neben dieser erfolgreichen Bilanz in der EntWicklung der Ärztezah- len bleiben Aufgaben und Lücken, für die wir dringend mehr Ärzte und teil- weise auch anders ausgebildete Ärzte benötigen."
„Im Bereich der Medizin ist einstweilen wohl nur eine gewisse Auflockerung des Numerus clausus durch optimale Ausnutzung der vorhandenen Ausbil- dungskapazitäten realistisch. Dies auch dann, wenn jüngste Untersuchungen deutlich unterstrichen haben, daß der zügige Abbau des Numerus clausus als ein Hauptziel sozial-liberaler Bildungs- politik keineswegs utopisch ist. Aber auch die vorhandenen Ausbildungska- pazitäten in der Medizin machen es wahrscheinlich, daß die Zahl der Ärzte in den kommenden Jahren weiter stei- gen wird. Nach wie vor wiegen die ma- teriellen und immateriellen Vorteile des Arztberufes die damit verbundenen —
und bisweilen dramatisch überzeichne- ten — Belastungen offensichtlich bei weitem auf."
„Eine größere Zahl von Ärzten könnte sicher auch zu mehr Konkurrenz der Ärzte untereinander und damit zu einer erhöhten Leistungsfähigkeit unserer ge- sundheitlichen Versorgung führen. Al- lerdings spricht die Erfahrung dafür, daß das Angebot an ärztlichen Leistun- gen — oder ganz einfach ausgedrückt:
die Zahl der verfügbaren Ärzte — ihrer- seits die Nachfrage ganz erheblich be- einflußt. Nicht Konkurrenz und gestei- gerte Leistungsfähigkeit, sondern ledig- lich eine Ausweitung des Leistungsum- fanges und damit ein erheblicher An- stieg der Ausgaben wären dann die Folge. Dies können wir nicht hinneh- men, denn es würde auch die bei der Eindämmung der Kostenentwicklung bereits erzielten Teilerfolge wieder in Frage stellen."
Hans Joachim Sewering:
Schäden durch Überbesetzung
„Der vor allem in den 60er Jahren zu beobachtende Mangel an jungen Ärz- ten in Krankenhäusern hat sich in den letzten Jahren in die freie Praxis verla- gert. Die schwach besetzten Jahrgänge standen zur Niederlassung an, konnten aber den Bedarf nicht decken. Es muß- te deshalb zu Engpässen in der ambu- lanten ärztlichen Versorgung kommen, die noch keineswegs überall behoben sind. IT)r• steile Anstieg der Nach- wuchszahlen an Ärzten wirkt sich nun einmal zunächst im Krankenhaus aus, weil jeder junge Arzt im Durchschnitt die ersten sechs bis acht Jahre seiner beruflichen Laufbahn im Krankenhaus arbeitet, bevor er sich niederläßt. Diese zeitliche Verzögerung zwischen der Zu- nahme der Approbations- und der Nie- derlassungszahlen ist es, welche der- zeit noch überwunden werden muß.
Dennoch ist auch in der ambulanten Praxis eine, wenn auch langsame, Zu- nahme der Ärzte schon jetzt zu beob- achten. So hat die Zahl der Kassenärz- te von 1960 bis Ende 1975 von 42 144 auf 54 249 zugenommen. Insgesamt stieg die Zahl der Ärzte in der Bundes- republik, einschließlich der voll tätigen Medizinalassistenten, in den letzten 25 Jahren um 105 Prozent. Es waren 68 000 im Jahre 1950 und sind jetzt
rund 140 000. Anfang 1976 trafen auf ei- nen berufstätigen Arzt 498 Einwohner."
„Wie wird es weitergehen? Von einem ,bevorstehenden Notstand' in der ärzt- lichen Versorgung kann keine Rede mehr sein, und es spricht ja auch nie- mand mehr davon. Es geht in den Dis- kussionen und Meinungsäußerungen jetzt nur noch um die Frage nach ge- nug oder zuviel Ärzten in der vor uns liegenden Zeit."
„Noch 1972 wurde der Bedarf an Stu- dienanfängern der Humanmedizin im Gesundheitsbericht der Bundesregie- rung mit jährlich 4500 angegeben. Das Bundeswissenschaftsministerium legte 1974 eine Studie über den Ausbildungs- bedarf für Mediziner bis zum Jahre 2000 vor.... Im Endergebnis wird eine um 50 bis 60 Prozent gesteigerte Nach- frage nach ärztlichen Leistungen bis zum Jahr 2000 behauptet und der Be- darf an Studienanfängern danach be- rechnet. Die Verfasser kommen zu dem Ergebnis, daß zur Deckung des unter- stellten Bedarfs eine jährliche Studien- anfängerzahl von 7500 erforderlich sei, was bedeutet, daß gegen Ende dieses Jahrhunderts ein Arzt für 340 bis 350 Einwohner zur Verfügung stünde. Abso- lut wären das gut 175 000 berufstätige Ärzte."
„Wer dem Ergebnis der Studie und da- mit der Zahl von 7500 Studienanfän- gern pro Jahr — die übrigens jetzt be- reits übertroffen wird — zustimmt, müß- te also auch bereit sein, die Frage zu beantworten, ob eine Arztdichte, wie sie diese Studie voraussagt und für notwendig hält, volkswirtschaftlich überhaupt verantwortet werden kann — von den zahlreichen Zweifeln an der Bedarfsprognose einmal ganz abgese- hen."
„Schon heute zeigt sich, daß es weni- ger die absoluten Arztzahlen sind, die uns beschäftigen und beschäftigen müssen, sondern die Verteilungsproble- me."
„Die steile Zunahme der Zahl der Ärz- te kann bei verantwortungsvoller Beur- teilung mit echtem Bedarf nicht mehr gerechtfertigt werden. Es sei denn, man denkt an das „Überlaufprin- zip". Ob die dadurch möglicherweise erhoffte Manipulierbarkeit dieser Be- rufsgruppe aber die Schäden der Über- besetzung eines so verantwortungs- trächtigen Berufes ‚rechtfertigen' könn- te, muß dahingestellt bleiben."
Quelle: „Die Welt", 24. Juli 1976