Sovvj et-Psychiater kehren zurück
AKTUELLE POLITIK
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
D
ie Generalversammlung des Weltverbandes der Psychia- ter hat Mitte Oktober in Athen die offizielle sowjetische Psychiatrie-Gesellschaft wieder auf- genommen. Vor sechs Jahren war sie aus dem Weltverband ausgetreten, um einem drohenden Ausschluß we- gen des politischen Mißbrauchs der Psychiatrie in der Sowjetunion zu- vorzukommen. Im Frühjahr dieses Jahres hatte der Vorstand des Welt- verbandes die Wiederaufnahme empfohlen, und die Generalver- sammlung folgte diesem Vorschlag mit einer erstaunlich großen Mehr- heit: 291 gegen 45 Stimmen bei 19 Enthaltungen.Dieses Ergebnis ist nur dadurch erklärbar, daß in dem Beschluß auch eine Reihe von recht harten Bedin- gungen enthalten sind. Die sowjeti- sche Gesellschaft wird
verpflichtet, die ethi- schen Prinzipien zu be- achten, die auf der Ge- neralversammlung in Hawaii beschlossen worden sind und die ei- nen politischen Miß- brauch der Psychiatrie ausschließen. Sie muß
sich einer Überwachung durch ein Komitee des Weltverbandes unter- werfen; sie muß im kommenden Jahr eine „Kontrolluntersuchung" durch den Weltverband dulden, und falls diese eine Fortsetzung politischen Mißbrauchs entdeckt, soll eine Son- der-Generalversammlung über einen erneuten Ausschluß beraten und be- schließen. Und sie hatte hinzuneh- men, daß es ein zweites Mitglied aus der Sowjetunion gibt: Die „Vereini- gung unabhängiger Psychiater" wur- de ebenfalls aufgenommen. Diese Vereinigung hatte — wie berichtet — sich kürzlich darüber beklagt, daß der KGB in ihre Räume eingebro- chen und Akten entwendet habe.
Am Zustandekommen dieses Be- schlusses hat der Delegierte der Fachgesellschaft aus der Bundesre- publik Deutschland, Dr. Meyer-Lin- denberg, entscheidend mitgewirkt.
Vor allem aber hat die offizielle Psychiatrie-Gesellschaft der Sowjet- union eine Bedingung erfüllt, die vie- le andere Mitglieder gestellt haben:
Sie hat in Athen öffentlich bekannt,
Die sowjetischen Psychiater sind wieder Mitglieder des Weltverbandes: Mit großer Mehrheit stimmte die Gene- ralversammlung in Athen für die Aufnahme gleich zweier Verbände aus der UdSSR.
Allerdings gilt der Beschluß hinsichtlich des „offiziellen"
Verbandes erst einmal nur für ein „Probejahr", in dem der Nachweis geführt werden
muß, daß ein politischer Psychiatrie-Mißbrauch in der
Sowjetunion nicht mehr exi- stiert. Ein sowjetischer Spre- cher hatte offiziell solchen
Mißbrauch eingestanden.
daß es in der Sowjetunion politi- schen Mißbrauch der Psychiatrie ge- geben habe. Sie sei bereit, die Miß- brauchsfälle von einem Überprü- fungskomitee des Weltverbandes un- tersuchen zu lassen.
E
s sind in der Tat weitgehende Konzessionen des sowjeti- schen Verbandes. Sie erklären vielleicht, daß die Mehrheit für die Wiederaufnahme so erstaunlich groß war. Trotzdem ist Skepsis ange- bracht (und die vorgesehene Über- prüfung im kommenden Jahr unter- streicht diese Skepsis): Eine Bedin- gung, die von vielen psychiatrischen Organisationen und Psychiatern ge- stellt worden war, ist nicht erfüllt worden, nämlich: daß die Sowjet-Or- ganisation sich von ihren für den Mißbrauch der Psychiatrie verant- wortlichen Führern trennt. Dies ist bisher nicht geschehen. Die führen- den Sowjet-Psychiater Morosow, Wartanjan und Tschurkin sind nach wie vor im Amt — allerdings habensie es vorgezogen, nicht in Athen aufzutreten. Darauf hat die Interna- tionale Gesellschaft für Menschen- rechte in einer ausführlichen Doku- mentation hingewiesen, die in Athen vorgelegt wurde: Noch immer sind dieser Gesellschaft, deren Präsident zur Zeit Dr. Gnauck (Deutsche Kli- nik für Diagnostik, Wiesbaden) ist, 77 Fälle von politisch motivierter In- ternierung in psychiatrischen Klini- ken namentlich bekannt!
I
st das Thema damit vom Tisch?Sicher noch nicht ganz. Es gibt noch immer zwei offene The- men: Zum einen muß die sowjetische Psychiatrie sich wissenschaftlich an den Weltstandard heranarbeiten, um sich dem Vorwurf zu entziehen, mit einem „eigenen" Wissenschaftsstan-
dard politischen Miß- brauch zu decken. Und sie muß die Personen abservieren, die das Fach Psychiatrie dem, KGB ausgeliefert ha- ben. Das zweite ist noch offen; die Erfüllung des ersten ist zugesagt, und das sollte ganz genau kontrolliert werden. Im übrigen wur- de in Athen bekannt, daß ein von westlichen Psychiatern kritisiertes Medikament inzwischen in der UdSSR aus dem Verkehr gezogen worden ist.
Jedenfalls: Der Beschluß von Athen ist eine „Wiederaufnahme auf Probe". Es liegt an der sowjetischen Gesellschaft selbst, ob sie diese Pro- bezeit besteht. Daß das nicht leicht sein wird, beweisen andere Entschei- dungen der Athener Generalver- sammlung. Zum neuen Präsidenten der Vereinigung wurde der Brasilia- ner Costa e Silva gewählt — im Vor- stand hatte er der Wiederaufnahme der Sowjet-Psychiater nicht zuge- stimmt. Sein Gegenkandidat war der bisherige Generalsekretär Schulsin- ger, der als unkritisch gegenüber dem sowjetischen Verband galt. Und
„President Elect", also Präsidentin für die nächste Amtsperiode im kommenden Jahr, wurde Frau Felice Lieh Mak aus Hongkong, eine ausge- sprochene Kritikerin der sowjeti- schen Psychiatrie. bt Dt. Ärztebl. 86, Heft 45, 9. November 1989 (19) A-3367