Deutsches Ärzteblatt
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2. April 2010 229M E D I Z I N
DISKUSSION
Neurologische Komplikationen
Winzer et al. (1) berichten über erste Erfahrungen mit der neuen Influenza A (H1N1) im Zeitraum April bis September 2009. Die Autoren betonen, dass ein eher mildes Krankheitsgeschehen vorlag, das selten einer stationären Behandlung bedurfte. Meistens wurden, auch bei Kindern, lediglich typische Grippe-Symptome diagnostiziert.
Ergänzend dazu berichten wir über eine unerwartete Rate neurologischer Komplikationen bei insgesamt sechs hospitalisierten Kindern (Alter: sechs Wochen bis acht Jahre) mit Influenza A-H1N1-Virus-Infektion in Berlin im November 2009. Neben grippalen (und – in einem Fall – zunächst gastrointestinalen) Symptomen traten als Krankheitsmanifestation oder im Verlauf der ersten drei Tage Vigilanzstörungen, Somnolenz, Agi- tiertheit (zum Teil mit Halluzinationen) und Krampfan- fälle (bei zwei Schulkindern, nicht im für Fieberkrämp- fe typischen Alter) auf. Ein Patient musste wegen zen- traler Atemstörung mit Apnoen/Zyanoseattacken und wechselnder Hyperventilation (pCO2 < 20 mm Hg) maschinell beatmet werden. Bei allen Patienten wurde Influenza-A(H1N1)-RNA im Nasenabstrich und/oder Rachensekret nachgewiesen, nicht jedoch im Liquor (Liquorbefunde [Zellzahl, Protein] alle unauffällig).
Zerebrale Magnetresonanztomogramme waren normal, passagere EEG-Veränderungen (Verlangsamung) lagen vor. Schwere pulmonale Komplikationen traten nicht auf. Alle Patienten wurden mit Oseltamivir behandelt, erholten sich vollständig und wurden ohne neurologi- schen Defizite entlassen.
Ähnlich wie bei saisonaler Influenza (2) können bei Kindern mit neuer Influenza neurologische Symptome auftreten (3), die – bei normalen Liquorbefund und feh- lendem Virusnachweis im Liquor – als Enzephalopa- thie eingestuft werden können. Dementsprechend sollte bei Kindern mit fieberhaftem Infekt und Enzephalitis/
Enzephalopathie-Verdacht eine Influenza-A(H1N1)- Diagnostik veranlasst und im Verdachtsfall baldmög- lichst eine virostatische Therapie (Oseltamivir) begon- nen werden (3). Eltern ambulant behandelter Kinder sollte man auf diese Komplikationsmöglichkeit, die ei- ne sofortige Wiedervorstellung erfordert, hinweisen.
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0229a
Vorsicht Vergleichsgruppe
Winzer et al. berichten über ihre Erfahrungen mit der neuen Influenza A (H1N1/09) während der ersten Grippewelle im Sommer 2009. Ihre Klinik unter- suchte 3 372 Verdachtsfälle (inklusive Material aus tiefem Nasenabstrich anhand von Polymerase-Ket- tenreaktion (PCR). Somit werden grundlegende epi- demiologische und klinische Daten zum Thema ge- liefert. Es beeindruckt, dass (nur) 13 Prozent (n = 450) PCR-positiv waren.
Die Autoren beschreiben unter anderem die Vertei- lung soziodemographischer und klinischer Merkmale – leider nur die der PCR-Positiven (Tabelle, Grafiken 2–4). Aus klinisch-praxisbezogenen Gründen wäre die übliche Darstellung des Vergleichskollektivs (der PCR-Negativen) von Interesse, einschließlich der beim Erstkontakt bereits bestehenden Symptomdauer.
Denn letztere ist wichtig bei der Interpretation der Krankheitsdauer (mit oder ohne Therapie).
Im Artikel beziehen sich die Angaben zur Krank- heitsdauer nur auf das mit Oseltamivir behandelte Kollektiv (n = 60). Diese PCR-Positiven wurden un- abhängig vom Schweregrad der Erkrankung mit Oseltamivir bis zum Erhalt eines negativen Nasenab- strichs „leitliniengemäß“ behandelt. „Leitlinienge- mäß“ impliziert ein Vorgehen aufgrund von Vorlie- gen solider, auf hoher Evidenzstufe basierender Da- ten. Diese liegen jedoch leider weder für Diagnostik noch Therapie vor. Es handelt sich in den zitierten WHO-Guidelines um Empfehlungen mit niedriger oder sehr niedriger Evidenzqualität („low/very low quality evidence“) (1). Insbesondere wird für Nicht- Risiko-Patienten bei milder/moderater Krankheit keine Behandlung mit Oseltamivir empfohlen. Somit wäre in Zukunft das Führen einer Kontrollgruppe in einem randomisierten Studiendesign vertretbar.
Dann bekäme die Angabe, dass die Mehrzahl der ini- tial symptomatischen Patienten nach drei Tagen be- schwerdefrei war, einen Bezug.
zu dem Beitrag
Erste klinische Erfahrungen mit der Neuen Influenza A (H1N1)
von Dr. med. Ralf Winzer, Nicolas Kanig, Sophie Schneitler, PD Dr. med. Stefan Reuter, Dr. med. Björn Jensen,
Dr. med. Irmela Müller-Stöver, Dr. med. Jun Oh, Prof. Dr. med. Ortwin Adams, Prof. Dr. med. Ertan Mayatepek, Prof. Dr. med. Hartmut Hengel,
Prof. Dr. med. Heiko Schneitler, Prof. Dr. med. Dieter Häussinger in Heft 47/2009
LITERATUR
1. Winzer R, et al.: Early clinical experiences with the new influenza A (H1N1/09) [Erste klinische Erfahrungen mit der Neuen Influenza A (H1N1)]. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(47): 770–6.
2. Newland JG, et al.: Neurologic complications in children hospitalized with influenza: characteristics, incidence, and risk factors.
J Pediatr 2007; 150(5): 306–10.
3. Center for Disease Control and Prevention (CDC) (2009). Neurologic complications associated with novel influenza A (H1N1) virus infection in children – Dallas. MMWR Morb Mortal Wkly Rep 2009; 58(28):
773.
Dr. med. Philipp Deindl Dr. med. Verena Varnholt
Otto-Heubner-Centrum für Kinderheilkunde/Jugendmedizin Charité (CVK)
Augustenburger Platz 1 13353 Berlin
230 Deutsches Ärzteblatt
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Unklar bleibt, auf welche Daten sich die Aussage
„bislang ergab sich kein Hinweis auf eine Oseltami- vir-Resistenz“ stützt.
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0229b LITERATUR
1. www.who.int/csr/resources/publications/swineflu/h1n1_use_antivi rals_20090820/en/index.html
2. Winzer R, et al.: Early clinical experiences with the new influenza A (H1N1/09) [Erste klinische Erfahrungen mit der Neuen Influenza A (H1N1)]. Dtsch. Arztebl Int 2009; 106(47): 770–6.
Dr. med. Dirk Moßhammer, MPH Dr. med. Dipl. Phys. Manfred Eissler Universität Tübingen
Lehrbereich Allgemeinmedizin Österbergstraße 9 72074 Tübingen
E-Mail: dirk.mosshammer@uni-tuebingen.de
Schlusswort
Dres. Moßhammer und Eissler weisen darauf hin, dass in unserem Bericht über die ersten klinischen Erfahrun- gen mit der neuen Influenza A (H1N1/09) keine Ver- gleichsgruppe eingeschlossen wurde. Dabei übersehen sie allerdings, dass es sich nicht um eine klinische Stu- die handelt, die hier berichtet wird, sondern um Erfah- rungen zu den ersten Influenza-Fällen im Sommer 2009. Zu diesem Zeitpunkt wurden strenge Contain- ment-Strategien verfolgt mit Verdachtspersonen, es wurden aber auch völlig symptomfreie Kontaktperso- nen untersucht. Aus Letzteren eine Vergleichsgruppe abzuleiten, dürfte kaum zielführend sein, um eine Inter- pretation der Krankheitsdauer zu erlauben. Die Be- handlung mit Oseltamivir in diesen frühen Monaten des Auftretens der Erkrankung hier in Deutschland erfolgte nach den WHO-Guidelines (Leitlinien der Weltgesund- heitsorganisation). Da nun von leitliniengemäßer Be- handlung gesprochen wird, impliziert dies nicht not- wendigerweise irgendeine Form von Evidenzqualität.
Die Herren Moßhammer und Eissler sollten nicht übersehen, dass es sich um einen Bericht über die ers- ten Fälle dieser Erkrankung in Deutschland handelt, deren Verlauf zum damaligen Zeitpunkt unsicher war.
Die Aussage, dass sich bis zum damaligen Zeitpunkt kein Hinweis auf eine Oseltamivir-Resistenz ergab, ist in der Literatur wiederholt belegt (1).
Dagegen ist der Bericht der Kollegen Deindel und Varnholt eine wichtige Ergänzung, wenngleich hier Beobachtungen erwähnt werden, die erst im Novem- ber 2009 gemacht wurden. Zu diesem Zeitpunkt war die Anzahl der H1N1-Erkrankten in Deutschland be- reits erheblich angestiegen, sodass auch zunehmend schwerere Fälle berichtet werden konnten. Ein Hin- weis auf die neurologischen Komplikationen bei H1N1-Infektionen verdient in der Tat der Beachtung.
DOI: 10.3238/arztebl.2010.0230 LITERATUR
1. World Heath Organization (WHO): Oseltamivir resistance in immuno- compromised hospital patients – Pandemic (H1N1) 2009 briefing note 18, www.who.int/csr/don/2009_09_18/en/index.html (last accessed on 12 January 2010).
2. Winzer R, et al.: Early clinical experiences with the new influenza A (H1N1/09) [Erste klinische Erfahrungen mit der Neuen Influenza A (H1N1)]. Dtsch Arztebl Int 2009; 106(47): 770–6.
Prof. Dr. med. Dieter Häussinger Dr. med. R. Winzer
Nicolas Kanig Sybille Schneidler
Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie und Infektiologie Universitätsklinikum Düsseldorf
Moorenstraße 5 40225 Düsseldorf Germany
E-Mail: haeussin@uni-duesseldorf.de
Interessenkonflikt
Die Autoren aller Diskussionsbeiträge erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.