Deutsches Ärzteblatt
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22. Oktober 2010 A 2047STUDIEN IM FOKUS
Das Risiko für Vorhofflimmern ist bei Patienten, die Glucocorticoide erhal- ten, erhöht. Mit Hilfe der englischen General Practice Research Database (GPRD) wurde untersucht, ob ein ähnlicher Zusammenhang bei der Einnahme nichtsteroidaler Antiphlo- gistika (NSAID) besteht. Circa 1 500 praktische Ärzte geben ihre Daten an die GPRD, womit rund 3 Millio- nen Personen der englischen Bevöl- kerung erfasst werden. In dieser Datenbank wurden 1 035 Patienten mit chronischem und 525 Patienten mit paroxysmalem Vorhofflimmern identifiziert. Die Daten wurden mit denen von zwei zufälligen GPRD- Kontrollgruppen (je 5 000 Perso- nen) verglichen.
Die Anwendung von Glucocorti- coiden erhöhte das Risiko für ein chronisches Vorhofflimmern (rela- tives Risiko [RR] 2,49, 95%-Kon - fidenzintervall [KI] 1,56–3,97), wobei das Risiko bei Prednisolon- Äquivalenten über 10 mg/Tag hö- her (RR 3,41) war als bei Dosierun- gen bis 5 mg (RR 1,95). Für paroxysmales Vorhofflimmern er- gab sich bei Corticoid-Gebrauch ein relatives Risiko von 1,37.
Wurden NSAID am Indexdatum aktuell angewendet, erhöhte sich das relative Risiko für ein chronisches Vorhofflimmern um 44 % (Tabelle), es nahm jedoch bei Absetzen der Me- dikation wieder ab: Bei Anwendung in den Monaten 6 bis 1 vor dem In- dexdatum lag es bei 1,24 und bei ei- ner länger als 6 Monate zurücklie- genden Anwendung bei 1,11. Es gab weder einen Zusammenhang zur Do- sis der NSAIDs, noch Unterschiede zwischen den Substanzen – bis auf Paracetamol, das keinen Einfluss auf das Risiko für chronisches Vorhof- flimmern hatte. Eine Assoziation von NSAID mit erhöhtem Risiko für paroxysmales Vorhofflimmern wur- de lediglich bei Patienten festgestellt, die die Medikamente länger als ein Jahr anwendeten. Erstaunlicherweise
war das Risiko für ein chronisches Vorhofflimmern bei Patienten ohne Herzinsuffizienz erhöht (RR 1,49, 95%-KI 1,10–2,02), nicht jedoch bei Patienten mit Herzinsuffizienz (RR 0,93, 95%-KI 0,38–2,27). Dies spricht indirekt gegen die Hypothese, dass der Herzinsuffizienz eine Be- deutung bei der Assoziation NSAID und Vorhofflimmern zukommt.
Es könnten jedoch möglicher- weise entzündliche Prozesse im Rahmen von Autoimmun- oder rheumatischen Erkrankungen das Auftreten von Vorhofflimmern über eine vermehrte atriale Fibrosierung verstärken. Die systemische Ent- zündung ist eventuell ein unabhän- giger Risikofaktor für Vorhofflim- mern.
Fazit: Die Anwendung von Gluco- corticoiden und NSAIDs ist mit ei- nem erhöhten Risiko für das Auftre- ten eines chronischen Vorhofflim- merns assoziiert. Bei Absetzen der Medikation sinkt das Risiko wieder.
Das Risiko für ein paroxysmales Vorhofflimmern wird durch Gluco- corticoide und NSAIDs nicht erhöht.
Möglicherweise ist die Entzündung
der gemeinsame Grund für die An- wendung der NSAIDs und das Auf- treten von chronischem Vorhofflim- mern. Dr. rer. nat. Susanne Heinzl De Caterina R, et al.: Long-term use of anti- inflammatory drugs and risk of atrial fibrilla - tion. Arch Intern Med 2010; 170: 1450–5.
NICHTSTEROIDALE ANTIPHLOGISTIKA
Risiko für Vorhofflimmern ist erhöht – aber reversibel
TABELLE
Relatives Risiko (RR) für chronisches Vorhofflimmern (VHF) in Abhängigkeit von der Anwendung von nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAIDs)
Quelle: modifiziert nach Arch Intern Med 2010; 170: 1450 NSAID-
Anwendung
Keine Anwendung Aktuelle Anwendung 1 bis 6 Monate vor Indexdatum Länger als 6 Monate vor Indexdatum
≤ 30 Tage
> 30 Tage
31–365 Tage
> 365 Tage
Kontroll- gruppe (n = 5000) 2239
359
350
2072
125
234
127
107
Patienten mit chronischem VHF (n = 1035) 423
119
79
414
22
97
42
55
RR (95%-KI)
1 (Referenz)
1,44 (1,08–1,91) 1,24 (0,89–1,473)
1,11 (0,92–1,33)
1,04 (0,59–1,83) 1,57 (1,15–2,15) 1,35 (0,88–2,09) 1,80 (1,20–2,05)
Besonderheiten der neuen Influenza H1N1, die bis zum 10. August dieses Jahres als Pandemie galt, sind noch immer Gegenstand wissenschaftli- chen Interesses. Obwohl der Verlauf der Pandemie insgesamt als mild galt, waren Komplikations- und Hospitalisierungsraten bei Kindern und Schwangeren höher als bei der saisonalen Influenza. Die Frage, ob sich Inzidenz und Schwere neuro - logischer Komplikationen von de- nen der saisonalen Influenza unter- scheiden, hat ein Forscherteam der INFLUENZA H1N1
Neurologische Komplikationen bei Kindern
Universitätsklinik Utah in Salt Lake City/USA untersucht.
Dort waren zwischen April und November vergangenen Jahres 303 Kinder (bis 18 Jahre) mit der ge - sicherten Diagnose einer H1N1- Influenza stationär behandelt wor- den, davon 18 mit neurologischen Komplikationen. 12 dieser Kinder (67 %) hatten Krampfanfälle, dar- unter wurden 7 im lebensbedroh - lichen Status epilepticus (Dauer:
5 bis 30 Minuten) in die Klinik ge- bracht. 10 Patienten erhielten eine
M E D I Z I N R E P O R T
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22. Oktober 2010 intensivmedizinische Versorgung,5 künstliche Beatmung. Krank- heitsverläufe und Charakteristika dieser Patienten wurden mit denen von 234 Kindern verglichen, die zwischen 2004 und 2008 wegen saisonaler Influenza aufgenommen worden waren. In dieser Ver- gleichsgruppe hatten 16 Kinder neurologische Symptome, aber minder schwer: ohne Enzephalo - pathie (50 % in der H1N1- Gruppe), ohne Aphasien (33 % in der H1N1-Gruppe) und ohne fokale,
neurologische Symptomatik (28 % in der H1N1-Gruppe). Das durch- schnittliche Alter betrug 2,4 Jahre bei den Patienten mit saisonaler In- fluenza und 6,5 Jahre unter den Kinden mit H1N1, die Komorbidi- täten betrafen 25 % und 83 % (sai- sonale vs. neue Influenza). In der zweiten Welle Influenza H1N1 (August bis November 2009) war der Anteil der Kinder mit Enzepha- lopathie, fokal-neurologischen Be- funden und Aphasien höher als in der ersten (April bis Juli).
Fazit: Die Daten eines großen pädia- trischen Zentrums in den USA er - gaben, dass Infektionen mit dem H1N1-Virus häufiger schwere neu- rologische Komplikationen hervor- riefen als die saisonale Grippe; für dieses Risiko gab es einen Trend zur Verschiebung in ein höheres durch- schnittliches Alter.
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
Ekstrand JJ et al.: Heightened neurological complications in children with pandemic H1N1 influenza. Annals of Neurology 2010; doi:
10.1002/ana.22184
In einer randomisierten, kontrol- lierten Studie über 5 Jahre mit ge- sunden älteren Frauen kam es bei Kalziumergänzung zu mehr kar- diovaskulären Ereignissen als er- wartet. Auch bei Patienten mit Niereninsuffizienz wurden bei zu- sätzlicher Kalziumgabe vermehrte Gefäßkalzifizierung und erhöhte Sterblichkeit beobachtet. Die Fra- gestellung einer Metaanalyse ran- domisierter Studien war deshalb, welchen Einfluss eine zusätzliche Kalziumgabe auf das kardiovasku- läre Risiko hat.
Ausgewählt wurden doppelblinde Studien mit mindestens einem Jahr Dauer, in denen die Teilnehmer im Alter über 40 Jahre täglich mindes- tens 500 mg Ca2+ oder Placebo ein- nahmen. Wenn zusätzlich Vitamin D OSTEOPOROSEPROPHYLAXE
Mehr Myokardinfarkte durch Kalziumsupplemente?
gegeben wurde, musste dies auch für die Kontrollgruppe gelten. Insge- samt wurden 5 Studien auf Patien- tendatenebene (8 151 Patienten, Be- obachtungszeit im Median 3,6 Jah- re) und 11 randomisierte klinische Studien (11 921 Teilnehmer, mittlere Dauer 4 Jahre) berücksichtigt.
In den 5 Studien mit individuel- len Patientendaten erlitten 143 Per- sonen unter Kalziumsupplementen und 111 Teilnehmer unter Placebo einen Herzinfarkt (HR 1,31, p = 0,035). Das Risiko für Schlag- anfall, für den kombinierten End- punkt Herzinfarkt, Schlaganfall und plötzlicher Herztod sowie für die Gesamtsterblichkeit war jeweils leicht, aber nicht signifikant erhöht.
Subgruppenanalysen zeigten, dass das Risiko für einen Herzinfarkt durch die Supplementierung nur er- höht war, wenn im Median mehr als 805 mg Ca2+ proTag eingenommen wurden. Die Metaanalyse der Stu- diendaten führte zu ähnlichen Re- sultaten: 166 Personen erlitten unter Kalziumsupplementation, 130 unter Placebo einen Herzinfarkt (HR 1,27, p = 0,038). Die Risiken für Schlaganfall, für den kombinierten Endpunkt und die Gesamtsterblich- keit waren unverändert.
Aus pathogenetischer Sicht ist die Begünstigung der Atherosklerose durch Kalzium bei nierengesunden Patienten nach Aussage von Prof.
Dr. med. Johann D. Ringe, Leverku- sen, nicht plausibel. Schrittmacher
der Gefäßveränderungen sei der ge- störte Lipidstoffwechsel mit Ausbil- dung von Intimaplaques. Die orale diätetische oder substitutive Kalzi- umzufuhr habe keinen klinisch rele- vanten Anstieg des Serumkalziums zur Folge. Auch handele es sich um eine „Gefäßverfettung“; die sekun- däre Einlagerung von Kalziumsal- zen in nekrotisches Fettgewebe sei ein Epiphänomen.
Zudem könne bei nierengesunden Patienten durch zusätzliche Gabe von Vitamin D die enterale Kalzi- umresorption beliebig gesteigert werden. Dann müsste aber Vitamin D das kardiovaskuläre Risiko via Kalzium erhöhen. Daten aus der Framinghamstudie zum Beispiel be- legten jedoch, dass bei höheren Vita- min-D-Spiegeln im Blut bezie- hungsweise optimaler Versorgung das kardiovaskuläre Risiko hochsig- nifikant sinke. Aus Sicht der Bun- desärztekammer (BÄK) hat die Me- taanalyse methodische Mängel. Die BÄK sieht keinen Anlass, die aktu- ellen Empfehlungen zur Prävention und Behandlung von Osteoporose zu ändern.
Fazit: Die zusätzliche Gabe von Kalziumpräparaten (ohne gleich- zeitige Gabe von Vitamin D) erhöht nach den Daten einer neuen Meta - analyse das Risiko für einen Herz- infarkt mäßig. Die Studienergebnis- se gelten jedoch keinesfalls als be- weisend. Dr. rer. nat. Susanne Heinzl
Bolland MJ et al.: Effect of calcium supple- ments on risk of myocardial infarction and cardiovascular events: meta-analysis. BMJ 2010; 341: c3691, doi: 10.1136/bmj.c3691 GRAFIK
Baron 1999 Grant 2005 Grant 2005 Vit D Prince 2006 Reid 2006 Lappe 2007 Reid 2008 Alle Studien
1
P = 0,038 1,27 (1,01 to 1,59) Relatives Risiko für Myokardinfarkt (95 %-KI)
Quelle: modifiziert nach BMJ 2010; 341: c3691