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Ältere Menschen Mit Behinderung

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Academic year: 2022

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Ältere Menschen Mit Behinderung

ErGEBNiSSE dEr EvaluatioN dES ProGrammS „FördEruNG

dEr SElBStStäNdiGKEit ältErEr mENSchEN mit BEhiNdEruNG“

(2)

0 0 2 . . 0 0 3

./ Ältere Menschen mit Behinderung

Ältere Menschen Mit Behinderung

Ergebnisse der Evaluation des Programms

„Förderung der Selbstständigkeit älterer Menschen mit Behinderung“

herausgeBerin

Baden-Württemberg Stiftung gGmbH Kriegsbergstraße 42

70174 Stuttgart Verantwortlich Birgit Pfitzenmaier,

Baden-Württemberg Stiftung gGmbH redaktion

Sven Walter,

Baden-Württemberg Stiftung gGmbH autoren

Prof. (em) Dr. Helmut Mair Jana Offergeld

Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Münster

BildMaterial S. 001 Stocksy S. 015 iStock S. 027 Fotolia S. 037 Fotolia

S. 038 Caritasverband Konstanz e. V.

S. 055 GWW – Gemeinnützige Werkstätten und Wohnstätten GmbH Sindelfingen

S. 064 Landratsamt Bodenseekreis S. 113 Der PARITÄTISCHE

Kreisverband Ulm/Alb-Donau S. 173 St.-Elisabeth-Stiftung Biberach S. 207 iStock

konzeption und gestaltung

srp. Werbeagentur GmbH, Freiburg www.srp.de

druckerei Burger Druck, Waldkirch

© Juni 2014, Stuttgart Schriftenreihe der

Baden-Württemberg Stiftung; 75 ISSN 1610-4269

Ältere Menschen Mit Behinderung

ergeBnisse der eValuation des prograMMs „Förderung der selBststÄndigkeit Älterer Menschen Mit Behinderung“

hinweis

Im Sinne einer besseren Lesbarkeit der Texte wurde von uns entweder die männliche oder weibliche Form von personenbezogenen Hauptwörtern gewählt. Dies impliziert keinesfalls eine Benachteili- gung des jeweils anderen Geschlechts.

iMpressuM

(3)

. 0 0 5 0 0 4 .

inhalt

Vorwort

Baden-Württemberg Stiftung 008

einleitung 010

a. ausgangslage – neue herausForderungen 014

1. Das Thema Alter(n) ist in der Behindertenhilfe angekommen 014 2. Lebenserwartung älterer Menschen mit Behinderung in Deutschland 015 3. Die Lebensorte und -kontexte älterer Menschen mit Behinderung 018 4. Gesundheit und Unterstützungsbedarfe im Alter 022

B. auF der suche nach neuen antworten 026

1. Alternativen zu Arbeiten und Wohnen in exklusiven Einrichtungen 026 2. Möglichkeiten und Formen der Inklusion in Sozialräume 028 3. Anforderungen an eine inklusive Behindertenhilfe 032 c. zielsetzungen und auFgaBenschwerpunkte der projekte 038

1. Personenbezogene Begleitprozesse 041

2. Qualifizierungsangebote und Fortbildungsveranstaltungen 043

3. Öffentlichkeitsarbeit/Werben für das Thema 046

4. Netzwerkaufbau und -arbeit 047

5. Initiierung und Unterstützung von ehrenamtlichem Engagement 049 6. Verbesserung der Infrastruktur und Sozialplanung 051

d. eValuationseBenen und -instruMente 054

1. Evaluation der personenbezogenen Begleitungen (I.) 056 2. Evaluation der Qualifizierungsangebote (II.) 058 3. Evaluation sozialraumbezogener Entwicklungen (III.) 060 4. Die Evaluation im Kontext der gesamten Projektentwicklung 062

e. eValuationsergeBnisse 064

i. prozesse und ergeBnisse der personenBezogenen Begleitprozesse 065

1. Die Teilnehmer (TN) 066

2. Zugangswege der Teilnehmer 080

3. Der Prozess der Zielfindung und Zielvereinbarung 083

4. Die übergeordneten Ziele der Begleitprozesse 084

5. Die formulierten Zwischenziele und Maßnahmen in den

Begleitprozessen: Fallgruppen – spezifische Maßnahmen 087

6. Aufgetretene Probleme und Herausforderungen 100

7. Beurteilung der Begleitprozesse durch die Projektmitarbeiter

und Teilnehmer 102

8. Zusammenfassung und Diskussion 111

ii. prozesse und ergeBnisse der QualiFizierungsangeBote und -Veranstaltungen 114 1. Titel, Themen und Aufbau der Qualifizierungsangebote 114 2. Veranstalter, Unterstützer und Teilnehmer der Kurseinheiten 116 3. Der Zugang der TN zu den Seminarreihen/Veranstaltungen 129 4. Veranstaltungsformen und didaktische Methoden 132 5. Lernziele und zu vermittelnde Kompetenzen:

Lernzielbereiche – spezifische Methoden 133

6. Beurteilungen durch die Veranstalter, Unterstützer und Teilnehmer 140

7. Zusammenfassung und Diskussion 151

iii. rückMeldungen und einschÄtzungen der Multiplikatoren iM koMMunalen uMFeld 154 1. Bezug der Multiplikatoren zum Projekt (Teil A) 154 2. Einschätzungen zu den Wirkungen der Projekte (Teil B) 158 3. Einschätzungen der Multiplikatoren zu Unterstützungsangeboten (Teil C) 162 4. Ausblick: eigene Engagement-Bereitschaft und Handlungsbedarfe (Teil D) 168

5. Zusammenfassung und Diskussion 170

F. zusaMMenFassung und ausBlick 172

literaturVerzeichnis 176

aBBildungsVerzeichnis 183

taBellenVerzeichnis 188

(4)

. 0 0 7

9. „Förderung der Selbstständigkeit von älteren Menschen mit Behinderung“

St. Elisabeth-Stiftung – Heggbacher Wohnverbund 210 10. „BÄNKLE – ein Angebot des Betreuten Wohnens in Familien (BWF)

speziell für ältere psychisch kranke Menschen“

Verein zur Förderung einer sozialen Psychiatrie e.V. 212 11. „LeQua – Lebensqualität im Alter“

WP Wohnprojekt, Rottenburg 214

B. eValuationsinstruMente

I. Dokumentationsleitfaden zur fallbezogenen Evaluation 216

II. Fragebögen im Rahmen der Veranstaltungen 240

1. Teilnehmer (I. und II.) 240

2. Unterstützer (I. und II.) 244

3. Veranstalter (I. und II.) 246

III. Fragebogen der Multiplikatorenbefragung 248

schriFtenreihe der Baden-württeMBerg stiFtung 250

0 0 6 .

./ Inhalt

inhalt

anhang

a. projektüBersicht

1. „Altissimo – Persönliche Zukunftsplanung“

Caritasverband Konstanz e.V. 190

2. „Aktiv den Übergang als Chance gestalten!“

Wenn ich einmal nicht mehr arbeite …

Ältere Menschen mit Behinderung auf dem Weg in den Ruhestand Kooperationsprojekt der Diakonischen Werke Freiburg und

Breisgau-Hochschwarzwald sowie des Caritasverbandes Freiburg-Stadt 193 3. Förderung der Selbstständigkeit von älteren Menschen mit Behinderung

GWW – Gemeinnützige Werkstätten und Wohnstätten GmbH 196 4. „Hinter dem Horizont geht’s weiter… – was kommt nach den Eltern?“

Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung

Baden-Württemberg e.V. 198

5. „Zukunft gestalten – Förderung der Selbstständigkeit von älteren Menschen mit Behinderung“

Landratsamt Biberach 200

6. „Aktiv für ältere Menschen mit Behinderung – Senioren für Senioren“

Landratsamt Bodenseekreis 202

7. „Hand in Hand zum Unruhestand“

Offene Hilfen Heilbronn 204

8. „Gemeinsam eigene Wege gehen – Teilhabe durch Sozialpartnerschaften“

Paritätischer Kreisverband Ulm/Alb-Donau 208

(5)

0 0 8 . . 0 0 9

die Veränderung der Altersstruktur infolge des demografischen Wandels wird durch die Angaben des Mikrozensus, der größten amtlichen Haushaltsbefragung in Deutsch- land, in regelmäßigen Abständen deutlich gemacht. Laut Mikrozensus und Statisti- schem Landesamt lebten im Jahr 2012 gut 2,1 Millionen Menschen mit einem Alter von 65 und mehr Jahren in Baden-Württemberg.

Somit gehört fast jeder fünfte Bewohner in Baden-Württemberg zur Altersgruppe der 65-Jährigen und Älteren. Das sind annä- hernd doppelt so viele wie noch vor 50 Jah- ren, mit steigender Tendenz. Die Prognosen gehen davon aus, dass in knapp 20 Jahren in Baden-Württemberg bereits jeder vierte Mensch über 65 Jahre alt sein wird.

Die Baden-Württemberg Stiftung nimmt sich mit zielgruppen- und themenorientier- ten Programmen den Herausforderungen des demografischen Wandels an. Insbeson- dere mit Projekten, die ihren Fokus auf die Bedürfnisse aber auch Potenziale älterer Menschen legen.

Hier reiht sich die Initiative Förderung der Selbstständigkeit älterer Menschen mit Behin- derung der Baden-Württemberg Stiftung ein. Ziel des Programms war es, ältere Men-

schen mit Behinderung darin zu unterstüt- zen, den Übergang aus dem Berufsleben in den Ruhestand besser bewältigen zu können oder ihnen eine Brücke aus einer gewohnten Lebensumgebung in eine neue Lebensphase zu bauen. Zudem sollten passende Maßnah- men für eine sinnvolle Alltags- und Freizeit- gestaltung entwickelt werden.

Insgesamt 13 Modellprojekte konnten in den vergangenen drei Jahren landesweit durch die Baden-Württemberg Stiftung gefördert werden, die sich diesen Themen und Her- ausforderungen angenommen haben. Ihnen gehört an dieser Stelle unser Dank.

Sie haben mit großem Engagement dazu bei- getragen, dass älteren Menschen mit Behin- derung eine Chance auf eine individuelle Verwirklichung anderer Lebensentwürfe und Formen der Lebensgestaltung gebo- ten wurde. Damit haben die Projekte einen wichtigen Beitrag für ein selbstbestimmtes Leben älterer Menschen mit einer Behinde- rung geleistet, ganz im Sinne von Artikel 19 des Übereinkommens der UN über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Mit diesem Programm konnte ein Stück weit Pionierarbeit geleistet werden, da es bundes-

lieBe leserin, lieBer leser,

weit bislang nur wenig Vergleichbares für diese Zielgruppe gibt. Die vorliegende Evalua- tion des Programms zeigt, dass es im Hinblick auf eine weitestgehend inklusive Gesellschaft (nicht nur für ältere Menschen mit Behinde- rung) noch einiger Anstrengungen bedarf.

Sie zeigt aber auch, dass es sehr gute und viel- fältige Ansätze und Wege zur Förderung der Selbstbestimmung von älteren Menschen mit Behinderung und ihrer Teilhabe gibt.

Wir danken Herrn Professor Mair und seinem Team für die umfassende und fachlich sehr kompetente Begleitung und Auswertung des Programms.

Wir würden uns freuen, wenn die vorliegende Publikation auf großes Interesse und im bes- ten Fall auch auf Nachahmer stoßen würde.

Hierzu finden Sie im Anhang ausführliche Beschreibungen der geförderten Projekte, sowie Ansprechpartner für weitergehende Informationen.

Christoph Dahl, Geschäftsführer der

Baden-Württemberg Stiftung Birgit Pfitzenmaier, Abteilungsleiterin Gesellschaft & Kultur

Christoph Dahl Birgit Pfitzenmaier

(6)

0 1 0 . . 0 1 1

./ Einleitung

Im vierten Quartal 2010 sind die Projekte, die in diesem Bericht vorgestellt und eva- luiert werden, gestartet. Mit der Durchfüh- rung ihrer Evaluation ist die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, vertreten durch Prof. Dr. Helmut Mair, von der Baden- Württemberg Stiftung, die diese Projekte gefördert hat, beauftragt worden. Bei der Durchführung der Evaluation und Erstel- lung dieses Berichts mitgearbeitet haben Jana Offergeld sowie (in einzelnen Phasen) Sören Roters-Möller und Christoph Muckel- mann.

Von besonderem Vorteil für die Evaluation war, dass wir1 als künftige Evaluatoren2 der Projekte bereits an der Formulierung der Ausschreibung durch die Baden-Württemberg Stiftung und bei der Auswahl der Projekte durch die Baden- Württemberg Stiftung beteiligt waren. Das entscheidende Auswahlkriterium war, dass die Projekte verschiedene neue Wege der Förderung der Selbstständigkeit von älteren Menschen mit Behinderung3 aufzeigen.

Zudem war es uns möglich, den zuständigen

1 Der Plural wird im Folgenden pauschal auch dort verwendet, wo überwiegend nur einzelne Personen von uns als Akteure oder Autoren fungier(t)en.

2 Aufgrund der Lesbarkeit wird in diesem Bericht die herkömmliche (maskuline) Schreibweise verwendet.

Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass in ihr auch das weibliche Geschlecht mit gemeint ist, außer in den Fällen, in denen eine bestimmte (weibliche oder männ- liche) Person genannt wird.

3 So lautet der Titel der Ausschreibung und des Pro- jekts; siehe: www.bwstiftung.de/nc/gesellschaft-kul- tur/laufendeprogramme-und-projekte

Projektmitarbeitern vor und zu Beginn der eigentlichen Arbeit mit den älteren Men- schen mit Behinderung unser Vorgehen, insbesondere die von uns entwickelten Eva- luationsinstrumente zu erläutern und diese mit ihnen, ihren Fragen und Anregungen abzustimmen. Dies war sicherlich ein Grund für die hohe Akzeptanz der Evaluation in den Projekten, was sowohl in quantitati- ver als auch in qualitativer Hinsicht einen guten Rücklauf begünstigte. Der Großteil der Projektmitarbeiter betrachtete – trotz hohem Zeitaufwand, der hierfür gefordert war und daher verständlicherweise punktu- elle Widerstände erzeugte – die im Rahmen der Evaluation zu erstellende Dokumenta- tion als (mehr oder weniger) zweckmäßige Beschreibung und Selbstkontrolle ihrer Arbeit. Viele Mitarbeiter und auch ältere Menschen mit Behinderung lieferten uns weit mehr Informationen als wir erfragt haben. Daher an dieser Stelle unseren bes- ten Dank an alle, die uns mit umfangreichen und detaillierten Informationen versorgt haben. Ohne fundierte und differenzierte Informationen über das, was in den Projek- ten getan worden und geschehen ist, kann eine Evaluation kaum fundierte Aussagen treffen, die sowohl für die Projekte selbst als auch für Außenstehende relevant sind. Wir hoffen, dass uns dies gelungen ist.

Allerdings machen es der Umfang der ver- fügbaren Informationen und die dadurch sichtbar werdende Vielfalt der Projekte und ihrer Aktivitäten schwer, die vielfäl-

tigen Prozesse in den einzelnen Projekten detailgerecht auszuwerten und sodann in einen nachvollziehbaren Zusammenhang zu bringen, d. h. möglichst überschaubare, aber überzeugende Ergebnisse zu präsen- tieren. „Die Welt ist bunt, wenn genauer hingeschaut wird“. Wir hoffen, dass gerade durch diese Vielfalt Interesse dafür geweckt wird: Wie gestalten Menschen mit Behinde- rung im Alter ihr Leben, ihre sozialen Bezie- hungen, ihre freie Zeit etc.? Diese Frage, das macht der folgende Bericht überzeu- gend deutlich, lässt sich nicht einheitlich beantworten. Vielmehr gehen die Einrich- tungen und Angebote der Behindertenhilfe und anderer Hilfesysteme unterschiedliche Wege, um die wachsende Zahl von Senioren zu begleiten und zu unterstützen und so pas- sende Antworten oder Lösungen zu finden.

Der vorliegende Forschungsbericht gliedert sich in zwei Abschnitte. In den Teilen A – D werden Grundlagen erläutert; im anschlie- ßenden Teil E werden die Evaluationser- gebnisse präsentiert, die im Schlussteil F zusammengefasst und zu einigen Schluss- folgerungen verdichtet werden, die auch für weitere Projekte von Bedeutung sind.

Teil A legt dar, weshalb die Adressatengruppe der älteren Menschen mit Behinderung innerhalb der Behindertenhilfe in der Bun- desrepublik Deutschland (BRD) zunehmend an Aufmerksamkeit gewinnt. Anhand von aktuellen Studien und Forschungserkennt- nissen wird nachgezeichnet, von welcher Größenordnung dieser Personengruppe in absehbarer Zeit auszugehen ist; wo und wie Menschen mit Behinderung im Alter leben, wohnen, ihre freie Zeit verbringen, versorgt werden etc. und nicht zuletzt inwieweit

sie aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters zusätzlich gesundheitlich beeinträchtigt sind. Insgesamt zeigt sich folgender Trend:

Bei einem wachsenden Teil gleichen sich die individuellen Lebenserwartungen und Voraussetzungen denen der übrigen Bevöl- kerung an.

In allen Projekten wird die Sozialraum- orientierung als wichtiger Bestandteil der eigenen Arbeit hervorgehoben. In Teil B wird deshalb der Frage nachgegangen, was Sozialraumorientierung bedeutet und was die Gründe für ihre wachsende Bedeutung für die Adressatengruppe der älteren Men- schen mit Behinderung sind. Die Antwort ist: Im Alter stellt sich für Menschen mit Behinderung verstärkt die Frage, wo fin- den sie – da nur wenige eine eigene Fami- lie gegründet haben – sozialen Anschluss, nachdem sowohl die Herkunftsfamilie als auch der Bereich Arbeit wegfallen? Vor die- sem Hintergrund sind sie umso mehr auf (Sozial-) Räume angewiesen, die ihnen die Möglichkeit bieten, mit anderen zusammen zu kommen, etwas zu unternehmen und im günstigsten Fall sich zugehörig zu füh- len. Das zu erreichen ist – wie in diesem Teil dargelegt und sodann in Teil E belegt wird – eine enorme Herausforderung, der sich die Behindertenhilfe stellen muss.

Teil C gibt einen Überblick über die Organi- sationsstrukturen und Konzeptionen der 13 Projekte und deren Träger. Da die Konzep- tionen meist eine Vielzahl von Vorhaben umfassen, war eine erste Aufgabe zusam- men mit den Projektmitarbeitern zu eruie- ren, auf welche Aufgabenfelder sich deren Aktivitäten und demensprechend die Eva- luation vorrangig konzentrieren sollen. Der

einleitung

(7)

0 1 2 . . 0 1 3

Überblick über die einzelnen Vorhaben der verschiedenen Projekte macht jedoch deut- lich, dass darüber hinaus ein breites Feld zusätzlicher Aufgaben geplant und bearbei- tet worden ist, welche die Erfüllung der (in der Evaluation) im Vordergrund stehenden Zielsetzung ermöglicht, erleichtert oder komplettiert haben.

In Teil D wird schließlich das von uns gewählte Evaluationsverfahren vorgestellt und begründet. Der Vielfalt und Komplexi- tät der Aufgabenfelder entsprechend sind in Abstimmung mit den Projekten mehrere relativ umfangreiche Evaluationsinstru- mente entwickelt worden. Mit deren Hilfe sollen nicht nur die erzielten Ergebnisse, son- dern auch die Prozesse und die vielfältigen Faktoren, die diese beeinflussen, erkundet und analysiert werden. Wichtig war für uns, dass die betreffenden älteren Menschen mit Behinderung zu Wort kommen – was in beachtenswertem Umfang gelungen ist.

Im zweiten Abschnitt des Berichts werden die Ergebnisse präsentiert. Der Teil E gliedert sich in drei Teile. Teil E I. zeichnet die perso- nenbezogenen Begleitprozesse nach: Welche Voraussetzungen bringen die begleiteten Personen mit; wodurch zeichnet sich ihre aktuelle Lebenssituation aus; welche Ziele sollen erreicht werden und welche kon- kreten (Teil-) Ziele werden vereinbart und schließlich welche Wege zur Erreichung der Ziele eingeschlagen? Es werden Fallgrup- pen gebildet, die erkennbar machen, dass bei einer Vielzahl von begleiteten Personen gleiche oder ähnliche (Teil-) Ziele im Zent- rum stehen, für deren Erreichung ein brei- tes Arsenal von Maßnahmen eingesetzt und erprobt wird.

Ob diese zum Ziel führen, hängt allerdings von vielen Faktoren ab: individuellen Vor- aussetzungen, örtlichen Rahmenbedingun- gen sowie nicht zuletzt von der Interaktion zwischen Begleiter und Begleiteten, wie deren Rückmeldungen belegen.

In Teil E II. werden die Qualifizierungsan- gebote, Kurse, Veranstaltungen etc., die für ältere Menschen mit Behinderung konzi- piert worden sind und an denen sie teilge- nommen haben, evaluiert. Es werden neben der Zusammensetzung der Teilnehmer der verschiedenen Kurse vor allem deren Auf- bau und didaktische Konzeptionen, die uns von den Veranstaltern zugesandt worden sind, analysiert. Dementsprechend werden die angebotenen Kurse verschiedenen Lern- zielbereichen zugeordnet, die bestimmte zentrale Kompetenzen benennen, die mittels verschiedenartiger Lerninhalte und Methoden vermittelt werden sollen.

Abschließend wird gefragt, inwieweit das in den Kursen Vermittelte die Teilnehmer zumindest in Ansätzen zu einer selbststän- digeren Lebensführung in den anvisierten Teilbereichen befähigt hat.

In Teil E III. werden die Erfolge der Projekte aus einer anderen Perspektive betrachtet.

Zwar werden auch einige ältere Menschen mit Behinderung und einige indirekt betei- ligte Mitarbeiter befragt, aber im Mittel- punkt stehen Personen, die den Verlauf und die Wirkungen der Projekte von außen betrachtet haben bzw. nur an einzelnen Pla- nungen und Aktivitäten mitgewirkt oder solche punktuell unterstützt haben. Die in diesem Teil vorgestellte Befragung von Mul- tiplikatoren untersucht daher, inwieweit es den Projekten gelungen ist, das soziale

und institutionelle Umfeld zu erreichen, um es für eine Unterstützung der Projekte und ihrer Anliegen sowie die der älteren Menschen mit Behinderung zu gewinnen.

Die Teile E I. – E III. schließen – nach einer ausführlichen Darstellung der Evalua- tionsergebnisse – jeweils mit einer kurzen Zusammenfassung. Diese soll dem Leser einen abschließenden Überblick über die Ergebnisse oder eine erste Orientierung verschaffen, bevor er sich im Detail damit befasst. Einen anschaulichen Einblick in die Arbeit der Projekte geben insbesondere die Fallgruppen (in Teil E I., Kap. 5.) und die Lernzielbereiche (in Teil E II., Kap. 5), wo die vielfältigen Maßnahmen bzw. Methoden, die die Projekte entwickelt haben, darge- stellt werden.

Im Schlussteil F werden die Projekte und ihre Ergebnisse abschließend gewürdigt, insbe- sondere im Hinblick darauf, welche Schluss- folgerungen sich für die Behindertenhilfe und weitere ähnliche Projekte in diesem Bereich ergeben.

(8)

0 1 4 . . 0 1 5

./ ausgangslage – neue herausforderungen

1. daS thEma altEr(N) iSt iN dEr BEhiNdErtENhilFE aNGEKommEN

Der demografische Wandel und die Frage nach dem adäquaten gesellschaftlichen Umgang mit seinen Auswirkungen wer- den in den kommenden Jahren den sozial- politischen Diskurs in Deutschland prägen.

Im Hinblick auf die Altersentwicklung der deutschen Gesamtbevölkerung lassen sich zwei entgegengesetzte Trends erkennen:

Während die Gruppe der Senioren stetig zunimmt, sinkt die Anzahl der jüngeren Bürger und ihr Anteil an der Gesamtbevöl- kerung deutlich. Von 2000 bis 2010 verzeich- net die Altersgruppe der über 65-Jährigen einen Anstieg von etwa 3,2 Mio. Personen (+ 23%), die Anzahl der unter 18-Jährigen nimmt dagegen um etwa 2,2 Mio. (- 14%) ab (Schütz-Sehring/Bunn 2011, S. 20). Innerhalb der Bevölkerungsgruppe der Menschen mit lebenslanger Behinderung vollzieht sich der Anstieg der höheren Altersgruppen tendenziell ausgeprägter, wenn auch ver- zögert. Die Gruppe der Senioren gewinnt zahlenmäßig zunehmend an Bedeutung.

In Deutschland hat diese Entwicklung im Vergleich zu anderen Industrienationen – aufgrund der Euthanasiemorde körper- lich, geistig und psychisch beeinträchtig- ter Menschen während des Dritten Reichs – verspätet eingesetzt und blieb lange Zeit unbeachtet. Dementsprechend wurden die Senioren innerhalb des Hilfesystems der Be-

hindertenhilfe zögerlich als relevante Ad- ressatengruppe erkannt. Erst in den letzten zehn Jahren lässt sich eine verstärkte Aus- einandersetzung mit dem Älterwerden von Menschen mit lebenslanger Behinderung im Rahmen sozial- und heilpädagogischer Wissenschaft und Forschung beobachten (vgl. Gitschmann 2003; Haveman/Stöppler 2004; Hollander/Mair 2006; Degen/Krue- ger 2006; Köhnke 2009; Wacker 2001). Trotz dieses inzwischen deutlich gestiegenen Interesses bestehen noch große Wissenslü- cken bezüglich der Lebenslagen der heute lebenden Senioren mit Behinderung und es fehlen grundlegende Kenntnisse für die Planung der Träger und Kommunen (vgl.

Dieckmann/Metzler 2013, S. 12).

Derweil werden innerhalb der Praxis zuneh- mend speziell auf Senioren ausgelegte Ange- bote und Unterstützungsarrangements modellhaft entwickelt und erprobt – wie auch im Rahmen des Programms Förderung der Selbstständigkeit älterer Menschen mit Behinderung der Baden-Württemberg Stif- tung. Bevor die einzelnen geförderten Pro- jekte und ihre konzeptionellen Ansätze in Kapitel C vorgestellt werden, soll zunächst ein Überblick über den aktuellen Wissens- stand zu der demografischen Entwicklung sowie Lebenslagen und Unterstützungsbe- darfe der Senioren mit lebenslanger Behin- derung gegeben werden.

2. lEBENSErWartuNG ältErEr mENSchEN mit BEhiNdEruNG iN dEutSchlaNd

Um die mit dem demografischen Wandel einhergehenden Anforderungen angemes- sen beurteilen zu können, bedarf es einer genaueren Einschätzung der heutigen und zukünftigen Größenordnung der Personen- gruppe der Senioren mit Behinderung. Ein Blick auf die aktuelle Altersverteilung inner- halb der gesamten Gruppe der Menschen mit lebenslanger Behinderung und die prognostizierte Entwicklung veranschau- licht, wie stark sich das Adressatenprofil der Behindertenhilfe in den kommenden Jahren verändern wird. Im Rahmen des Pro- jekts Lebensqualität inklusiv(e): Innovative Konzepte unterstützten Wohnens älter wer- dender Menschen mit Behinderung (LEQUI;

2009–2012) sind Altersvorausschätzungen für die in der Region Westfalen-Lippe leben- den Menschen mit geistiger Behinderung mit folgenden Ergebnissen ermittelt wor- den4: Insgesamt macht die Altersgruppe der 40- bis 49-Jährigen – also die Geburtenjahr- gänge der sogenannten Babyboom-Gene- ration – heutzutage den größten Anteil der Gesamtpopulation aus, während der An- teil der über 60-Jährigen aktuell nur etwa 10% beträgt (Dieckmann et al. 2010, S. 9).

4 Die Ergebnisse basieren im Unterschied zu anderen Hochrechnungen auf einer – zudem sehr aktuellen – Vollerhebung aller Menschen mit Behinderung über 40 Jahre, die Leistungen der Eingliederungshilfe in An- spruch nehmen. Es wird davon ausgegangen, dass sich sowohl die Zahl der Leistungsberechtigten als auch die demografischen Entwicklungen bundesweit nicht gra- vierend unterscheiden (vgl. Köhnke 2009), sodass die Prognosen auch für Baden-Württemberg zutreffen.

a. ausgangslage –

neue herausForderungen

(9)

0 1 6 . . 0 1 7

Das „Nachrücken“ dieser quantitativ star- ken Generation wird in den nächsten 20 Jahren zu einem großen Zuwachs in der Altersgruppe 60+ führen, Schätzungen ge- hen davon aus, dass dieser Anteil im Jahr 2030 auf 31% wachsen wird. Der Anteil der Gruppe der 60- bis 69-Jährigen wächst von 7% in 2010 auf 18% in 2030, der der 70- bis 79-Jährigen von 3% auf 10%, während die Altersgruppen der 80- bis 89-Jährigen mit rund 3% und der über 90-Jährigen mit weit unter 1% auch 2030 weiter einen sehr geringen Anteil an der Gesamtpopulation ausmachen. Dennoch ist auch bei ihnen, in absoluten Zahlen gerechnet, von einem starken Anstieg in den nächsten 20 Jahren auszugehen: Die Zahl der 80- bis 89-Jäh- rigen verzehnfacht sich, die Zahl der über 90-Jährigen steigt von 9 auf 103 Personen (Dieckmann et al. 2010, S. 41–44). Aufgrund der längeren Lebenserwartung wächst

dabei, wie auch in der Gesamtbevölkerung, der Anteil der Frauen mit dem Alter.

Während sich in Deutschland ein derarti- ger Zuwachs älterer Menschen mit Behin- derung unverkennbar anbahnt, ist dieser in anderen Ländern (ohne NS-Vergangenheit) bereits eingetreten. So ermittelt die erste Erhebungswelle der Längsschnittstudie Intellectual Disability Supplement of the Irish Longitudinal Study on Ageing (IDS-TILDA) 2011 im Hinblick auf die Bürger mit geistiger Behinderung in Irland, dass die Gruppe der über 65-Jährigen dort bereits jetzt 18% aus- machen (McCarron et al. 2011, S. 24).

Vorausschätzungen bezüglich der Lebens- erwartung von Menschen mit lebenslanger Behinderung sind schwierig zu treffen und mit hohen statistischen Unsicherheiten ver- bunden, da bestimmte Stichprobengrößen

für die entsprechenden Berechnungen not- wendig sind. Bisher werden solche Voraus- schätzungen i. d. R. mithilfe von Angaben des Statistischen Bundesamts zur Allge- meinbevölkerung durchgeführt, was Verzer- rungen mit sich bringt (Dieckmann/Metzler 2013, S. 162f.). Im Rahmen des Forschungspro- jekts Alter erleben des Kommunalverbands für Jugend und Soziales (KVJS) werden die Sterbe- und Überlebenswahrscheinlichkei- ten dagegen anhand von Datensätzen des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) und aus Baden-Württemberg zielgruppen- spezifisch ermittelt (ebd., S. 128ff.). Aufgrund der separaten Datenquellen unterscheiden sich die Stichproben beider Regionen: Die Zahlen des LWL basieren auf den Anga- ben aller Leistungsberechtigen aus dem stationären Bereich, unabhängig von der jeweiligen Behinderungsform (ca. 13.500 Personen), während die Stichprobe aus Baden-Württemberg primär Menschen mit geistiger Behinderung (ca. 11.000 Personen) aus allen Wohnformen einbezieht (Dieck- mann/Metzler 2013, S. 163). Insgesamt liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in beiden Stichproben deutlich unter der der Gesamtbevölkerung.

Für den stationären Bereich werden anhand der Zahlen des LWL eine durchschnittliche Lebenserwartung von 70,93 Jahren für die

männlichen Bewohner und von 72,85 Jah- ren für die weiblichen Bewohner ermittelt;

in Baden-Württemberg sind es wohnform- übergreifend nur 65,27 Jahre für die männ- lichen und 69,90 Jahre für die weiblichen Adressaten (ebd., S. 156ff.). Die Autoren verweisen darauf, dass die Ergebnisse des KVJS-Projekts denen anderer internationa- ler Studien gleichen (ebd., S. 156; z. B. Glasser et al. 2003: m = 68,1, w = 74,3; Bittles et al.

2002: m = 66,7, w = 71,5; Janicki et al. 1999 m = 63, w = 67). Bei der Berechnung der fer- neren Lebenserwartungen lässt sich eine mit dem Alter zunehmende Angleichung an die Werte innerhalb der Gesamtbevölke- rung beobachten. Hierfür dürfte vor allem der sogenannte „healthy survivor effect“

eine Erklärung bieten. Demnach sinkt die Mortalitätsrate nach dem Überschreiten einer bestimmten Altersgrenze wieder, da gesundheitlich vorbelastete Personen bereits verstorben sind (Dieckmann/Metz- ler 2013, S. 154). Leider gibt es bislang kaum gesicherte Daten hierzu, z. B. bezüglich der Frage, welche fernere Lebenserwartung Menschen mit langjähriger Behinderung ab dem 60. oder 65. Lebensjahr haben. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Lebenserwartung derjenigen Personen, die dieses Alter erreicht haben, annähernd auf dem Niveau der übrigen Bevölkerung liegt.

Der deutliche Anstieg der allgemeinen

22 21

28

19

7 3

0 0

23,5

17,5 17 22

14

5

1 0

18,5 21

15 14,5 18

10

3 0 0

5 10 15 20 25 30

20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79 80–89 ab 90

2010 2020 2030

Allgemeinbevölkerung LWL Baden-Württemberg

Frauen 82,5 Jahre 72,8 Jahre 69,9 Jahre

Männer 77,3 Jahre 70,9 Jahre 65,3 Jahre

Tabelle 1: Durchschnittliche Lebenserwartung innerhalb der beiden Stichproben aus Westfalen- Lippe und Baden-Württemberg im Vergleich zur deutschen Gesamtbevölkerung (auf Basis der Daten aus der Studie Alter erleben, Dieckmann/Metzler 2013, S. 15)

Abbildung 1: Altersentwicklung von Erwachsenen mit geistiger Behinderung in der Region Westfa- len-Lippe zwischen 2010 und 2030 (basierend auf den Ergebnissen der LEQUI-Studie)

(10)

0 1 8 . . 0 1 9

./ ausgangslage – neue herausforderungen

Lebenserwartung innerhalb der letzten 50 Jahre lässt sich vor allem mit der Verbes- serung der Versorgung und der Lebensbe- dingungen erklären (vgl. Haveman et al.

2009, S. 33ff.); er fällt für einige Gruppen von behinderten Menschen besonders stark aus. So stellen Carmeli et al. (2004) fest, dass sich die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit Downsyndrom seit 1946 von zwölf Jahren auf 56 Jahre beinahe ver- fünffacht hat. Für die gesamte Gruppe von Menschen mit einer geistigen Behinderung in den USA eruieren Janicki et al. (1999) eine aktuelle Lebenserwartung bei Geburt von 66,1 Jahren. Eine australische Studie stellt einen Zusammenhang zwischen dem Grad der geistigen Behinderung und der Lebens- erwartung fest: Für Personen mit einer schweren Behinderung wurde eine durch- schnittliche Lebenserwartung von 58,6 Jahren, für Personen mit einer mittleren von 67,6 Jahren und für Personen mit einer leichten Behinderung von 74 Jahren ermit- telt (Bittels et al. 2002, S. 470).

Basierend auf einem systematischen Über- blick internationaler Studien gehen auch Haveman et al. (2009) von einer sich der All- gemeinbevölkerung angleichenden Lebens- erwartung geistig behinderter Menschen aus. Sie betonen allerdings, dass dieser Trend nicht gleichermaßen für alle Personen mit geistiger Behinderung zutrifft. Als Risiko- faktoren für eine verkürzte Lebenszeit wer- den das Downsyndrom, das Vorliegen einer Zerebralparese, Epilepsie sowie eine schwere geistige Behinderung genannt (ebd., S. 38).

Außerdem zeigen sich altersgruppenspezi- fische Unterschiede hinsichtlich der Sterbe- wahrscheinlichkeiten: Die Mortalitätsraten für junge Erwachsene und Kinder mit einer

geistigen Behinderung liegen immer noch höher als die der Allgemeinbevölkerung, während die älteren Menschen mit Behin- derung die „starken und gesunden Überle- benden ihrer Geburtenkohorte“ darstellen (ebd., S. 39 – Übersetzung durch d. Verf.).

Wenn der demografische Wandel im europä- ischen Vergleich auch verspätet eingesetzt hat, so zeigt er inzwischen bereits deutliche Auswirkungen auf das Adressaten-Profil der deutschen Behindertenhilfe. Der Anteil älterer Adressaten wird – vor allem mit dem fortschreitenden Altern der sogenannten

„Babyboom-Generation“ – in den nächsten 20 Jahren noch signifikant steigen. Insge- samt lässt sich hinsichtlich der Lebenser- wartung eine Angleichung an die Allge- meinbevölkerung beobachten, zumindest ein großer Teil der heute lebenden älteren Menschen mit Behinderung kann auf eine lange Ruhestandsphase blicken.

Gleichzeitig wird von einer weiteren Aus- differenzierung der verschiedenen Lebens- kontexte der älteren Menschen mit Behin- derung ausgegangen. Im Folgenden wird ein Überblick über aktuelle diesbezügliche Forschungsergebnisse gegeben und insbe- sondere der Frage nach den (zukünftigen) Lebensorten der Senioren und der Situation in den Werkstätten für behinderte Men- schen (WfbM) und Tagesförderstätten nach- gegangen.

3. diE lEBENSortE uNd -KoNtExtE ältErEr mENSchEN mit BEhiNdEruNG

In Deutschland wohnt der Großteil erwach- sener Menschen mit lebenslanger Behinde-

rung auch heute noch stationär: Auf Basis eines Kennzahlenvergleichs konnte die Consulting für Steuerung und Soziale Ent- wicklung GmbH (con_sens) im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtli- chen Träger der Sozialhilfe (BAGüS) ermit- teln, dass der Anteil der Leistungsbezieher im Bereich der Eingliederungshilfe, die sta- tionär versorgt werden, 2010 bei etwa 60 % lag, auch wenn er seit 2003 um 15 % abge- nommen hat (Schütz-Sehring/Bunn 2011, S. 9). Im Bereich des ambulant betreuten Wohnens (ABW) hingegen ist von 2003 bis 2010 ein Anstieg an neuen Bewohnern um 150 % zu verzeichnen. Zwar ist infolgedes- sen die Zahl der Neueinzüge im stationä- ren Bereich in den letzten Jahren gesunken (ebd., S. 9), aber aufgrund des hohen Anteils der Älteren hat diese Entwicklung bislang keinen bemerkenswerten Einfluss auf die absoluten Zahlen der stationär Versorgten.

Die Mehrheit der Adressaten stationärer Einrichtungen machen dabei weiterhin Menschen mit einer geistigen Behinderung aus: Ihr Anteil beträgt 65 %, im Verhältnis zu Bewohnern mit psychischen (26%) und kör- perlichen (9%) Behinderungen. Im ambulan- ten Bereich bilden dagegen Menschen mit primär psychischen Beeinträchtigungen mit 70% den Großteil der Leistungsberech- tigten, gefolgt von Menschen mit geistigen (26%) oder körperlichen Behinderungen (4%) (Schütz-Sehring/Bunn 2011, S. 44ff.).

Die Ergebnisse der LEQUI-Studie liefern ähnliche Zahlen: In der Region Westfalen- Lippe wird auch heute noch fast die Hälfte der Erwachsenen mit geistiger Behinderung (49%) stationär versorgt. Über ein Drittel (37%) lebt bei Angehörigen oder allein, nur 14% leben 2010 im ABW (Dieckmann et al.

2010, S. 30ff.). Zu ähnlichen Ergebnissen kom- men Schäfers und Wansing (2009, S. 52f.). Sie stellen zudem fest, dass sich die Ablösung von der Herkunftsfamilie zunehmend ver- zögert.

Im Hinblick auf die Altersentwicklung lassen sich im stationären Bereich folglich zwei entgegengesetzte Trends beobachten:

Während die Gruppe der Bewohner über 50 Jahre seit 1998 um 11% gewachsen ist, ist der Anteil der unter 40-Jährigen um 16% gesun- ken (Schütz-Sehring/Bunn 2011, S. 49ff.) Die Autoren ermitteln einen Anstieg des Alters- durchschnitts von 40,2 Jahren im Jahr 2000 auf 45,3 Jahren in 20105 (ebd., S. 26). Auch im ABW wächst der Anteil der Leistungsbezie- her über 50 Jahre, 2010 liegt der Altersdurch- schnitt bei 43,8 Jahren (ebd., S. 50).

Dieckmann et al. prognostizieren, dass sta- tionäre Wohnformen – wenn die gegenwär- tige Entwicklung anhält – „in 20 Jahren vor allem […] Lebensorte für geistig behinderte Senioren sein [werden] […] ganz unabhängig davon, ob es in den nächsten Jahren gelin- gen wird, ambulant unterstützte Wohn- formen und das Leben in der eigenen Woh- nung weiter auszubauen, um die steigenden Bedarfszahlen zu decken.“ (Dieckmann et al.

2010, S. 46). Es wird daher erforderlich sein, dass sich diese auf die Bedürfnisse der älte- ren Bewohner einstellen und entsprechende Unterstützungsangebote bereithalten. Wäh- rend die Altersgruppe der über 60-Jährigen in stationären Einrichtungen gegenwärtig 16% aller Bewohner stellen (ebd., S. 30ff.),

5 Hier sind nur die Bewohner ab 18 Jahre in die Be- rechnung einbezogen worden; wenn auch minderjähri- ge Personen dazukommen, liegt der Altersdurchschnitt mit 43,6 Jahren niedriger als im ABW.

(11)

0 2 0 . . 0 2 1

wird ihr Anteil nach den Vorausschätzun- gen der LEQUI-Studie im Jahr 2030 auf 47%

ansteigen. Die Gruppe der Senioren wird knapp die Hälfte aller Bewohner stationä- rer Einrichtungen der Behindertenhilfe bilden. Allerdings ist zu beachten, dass die Berechnungen auf den Zahlen der derzeiti- gen Aufnahmepraxis basieren und von einer Fortsetzung bisheriger Trends ausgegangen wird. Insbesondere bleibt unberücksichtigt, wie viele Ältere mit Behinderung künftig aufgrund altersbedingter Beeinträchtigun- gen in ein Pflegeheim verlegt werden.

Auch im ambulanten Bereich gewinnt die Gruppe älterer Adressaten zunehmend an Bedeutung. Aufgrund ihres bisher sehr geringen Anteils innerhalb des ABW ist der Anstieg dieser Personengruppe hier noch stärker ausgeprägt: Beträgt der Anteil der über 60-Jährigen 2010 noch 7% (60–69 = 5%, 70–79 = 2%), wird er im Jahr 2030 auf 36% (60–69 = 22%, 70–79 = 12%, 80–89 = 2%) wachsen. Die Senioren werden in dieser Wohnform über ein Drittel aller Adressaten stellen (Dieckmann et al. 2010, S. 45ff.). Jedoch droht den Senioren, die ambulant betreut werden oder bei Angehörigen wohnen, mit zunehmendem Alter und damit einherge- henden gesundheitlichen Einschränkungen ein Umzug in eine stationäre Einrichtung:

„Im Unterschied zum stationären Bereich verfügen ambulante Wohndienste bis jetzt über so gut wie keine Erfahrung in der Begleitung von Senioren mit geisti- ger Behinderung. Ambulant unterstützte Wohnarrangements sind noch nicht kon- zipiert bzw. adaptiert auf die Bedürfnisse und Problemlagen älterer Menschen. Treten aktuell Schwierigkeiten auf, die ambulante Wohndienste überfordern, wird häufig den

Klienten nahe gelegt, (wieder) ins Heim zu ziehen.“ (ebd., S. 48).

Diese Dynamik stellt bereits heute eine kaum tragfähige „Notlösung“ dar, die sich schwer mit den Leitzielen von Teilhabe und gesellschaftlicher Inklusion vereinbaren lässt. Sicher ist sie in vielen Fällen nicht im Sinne der Betroffenen, die durch einen Umzug aus ihrer gewohnten Umwelt geris- sen werden und Gefahr laufen, ihre i. d. R.

ohnehin begrenzten Sozialkontakte zu ver- lieren.

Hinsichtlich der Menschen mit Behinde- rung, die zeitlebens, also auch im fortge- schrittenen Alter bei ihren Angehörigen wohnen, sind Vorausschätzungen bezüglich der Altersentwicklung besonders schwierig, da sie nach Ausscheiden aus der WfbM zum großen Teil keine Leistungen der Eingliede- rungshilfe (mehr) in Anspruch nehmen.

Schäfers und Wansing (vgl. 2009, S.54ff.) ermitteln im Rahmen ihrer Hochrechnun- gen in der Studie Familienunterstützende Hilfen zwischen 11.660 und 17.940 Men- schen mit lebenslanger Behinderung in der Region Westfalen-Lippe, die (noch) in ihren Familien leben. Das bedeutet, dass für schätzungsweise ein Drittel der erwachse- nen Menschen mit Behinderung ihre Her- kunftsfamilie ihr Lebensort ist. Allerdings nimmt ihre Zahl mit fortschreitendem Alter, bis zum 50. Lebensjahr auf unter 10%, rapide ab. Nach dieser Studie ist der Anteil derer, die über 60 Jahre alt sind, mit 1% verschwin- dend gering – vermutlich deshalb, weil die Meisten dann keine Leistungen der Einglie- derungshilfe (vom überörtlichen Sozialhil- feträger) in Anspruch nehmen und damit

aus der Statistik fallen. Eine andere Studie des KVJS konstatiert demgegenüber in Bezug auf die Anzahl von älteren Menschen mit Behinderung in Baden-Württemberg, die zwar ohne Leistungen im Bereich Wohnen bei ihren Angehörigen leben, aber Einglie- derungshilfe (durch kommunale Dienste) erhalten, dass diese in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen und in der Gruppe der über 69-Jährigen jeweils einen Anteil von 9% ausmachen (KVJS 2008, S. 81).

Auch wenn die Datenlage unklar bleibt, Tatsache ist, dass der Umzug vom eigenen Zuhause oder familiären Wohnen in eine stationäre Wohnform bei älteren Menschen mit Behinderung meist darin begründet liegt, dass die jeweilige Bezugsperson die Unterstützung nicht mehr aufrechterhalten kann. Der Großteil der Befragten aus dem stationären Bereich (75%) im Projekt Alter erleben hat vor dem Einzug bei Angehörigen gelebt, bezüglich der Frage nach dem Grund des Umzugs gab über ein Drittel an, dass die bisherige Betreuungsperson nicht län- ger in der Lage gewesen sei, die Versorgung fortzuführen. In nur 8% der Fälle wurde der Umzug mit dem Gesundheitszustand des behinderten Familienmitglieds begründet (Dieckmann/Metzler 2013, S. 61f.). Auch die Ergebnisse der Studie Möglichkeiten und Grenzen selbstständiger Lebensführung im Alter (MUGLSA; 1992-1994) belegen, dass der Umzug erwachsener Menschen mit Behin- derung in ein stationäres Heim i. d. R. nicht auf Freiwilligkeit basiert, sondern dadurch begründet ist, dass die Versorgung im fami- liären/privaten Kontext nicht mehr auf- rechtzuerhalten ist: 68% gaben bezüglich der Frage nach den Gründen für die Heim- aufnahme an, dass die „Betreuung durch

die Eltern nicht mehr möglich“ sei und in weiteren 13% der Fälle wurde der „Wegfall der häuslichen Betreuung“ genannt (Driller/

Pfaff 2006, S. 53).

Insgesamt lebt ein Großteil der heutigen Senioren mit lebenslanger Behinderung in stationären Einrichtungen der Behinderten- hilfe. Die Ergebnisse aktueller Forschungs- projekte sprechen dafür, dass diese Tendenz in den nächsten 20 Jahren fortbesteht.

Trotzdem zeigt sich deutlich, dass gleichzei- tig auch von einem deutlichen Anstieg von ambulant oder privat wohnenden Senioren auszugehen ist.

Im Hinblick auf die Altersentwicklung der Beschäftigten innerhalb der WfbM stel- len Schütz-Sehring und Bunn auf Basis der Angaben von 15 überörtlichen Sozialhilfe- trägern fest, dass seit „2004 […] der Umfang der höheren Altersgruppe dreimal so schnell gewachsen [ist], wie die Zahl der Werkstatt- Beschäftigten insgesamt.“ (Schütz-Sehring/

Bunn 2011, S. 10). Es bestehen allerdings deut- liche Schwankungen bezüglich der Anga- ben der einzelnen überörtlichen Träger. So nimmt die Altersgruppe der unter 30-Jähri- gen in den westdeutschen Bundesländern zu, während ihr Wachstum in den östlichen Bundesländern stagniert, was vermutlich mit den dort stark sinkenden Geburtsraten nach 1990 zu erklären ist. Insgesamt bleibt die Gruppe der jungen Mitarbeiter unter 30 Jahren von 2004 bis 2010 relativ konstant (2004 = 21%, 2007 = 23%, 2010 = 22%), wäh- rend der Anteil der über 50-Jährigen deutlich steigt (2004 = 17%, 2007 = 20%, 2010 = 24%).

Für Baden-Württemberg liegen lediglich Zahlen für 2010 vor, zu diesem Zeitpunkt beträgt der Anteil der Altersgruppe 50+ an

(12)

0 2 2 . . 0 2 3

./ ausgangslage – neue herausforderungen

allen Beschäftigten in der WfbM etwa 27%

(ebd., S. 60). Im Rahmen der LEQUI-Studie wird für den Zeitraum von 2010 bis 2030 mit einem Anstieg der Altersgruppe der über 60-Jährigen von 4% auf 13% gerechnet.

Allerdings weisen die Autoren darauf hin, dass die Schätzungen auf dem Status Quo basieren, also auf der Annahme, dass sich an den Beschäftigungs- bzw. Arbeitsangeboten nichts ändert (Dieckmann et al. 2010, S. 54ff.).

Tagesförderstätten scheinen „insgesamt immer noch ein Angebot für vergleichs- weise junge Menschen mit einer Lernbe- hinderung [darzustellen], auch wenn der Anteil der unter 30-Jährigen abnimmt“

(Schütz-Sehring/Bunn 2011, S. 70). Die Anga- ben variieren auch hier abhängig vom jewei- ligen überörtlichen Leistungsträger. Dies ist mit der jeweils unterschiedlichen Struktu- rierung der Leistungsangebote zu erklären;

in manchen Regionen beinhalten diese heiminterne Tagesstrukturangebote oder spezielle Angebote für ältere Menschen mit Behinderung über 65 Jahre. Insgesamt hat aber auch hier der Anteil der Personen über 50 Jahre seit 2004 stark zugenommen und ist von 14% auf 22% gestiegen. In Baden-Würt- temberg sind 27% aller Leistungsberechtig- ten im Bereich der Tagesförderstätten über 50 Jahre (ebd., S. 113).

Der demografische Wandel ist also auch innerhalb der WfbM und – wenn insgesamt auch in geringerem Ausmaß und regional unterschiedlich stark – in den Tagesförder- stätten spürbar. Die WfbM und Tagesför- derstätten stellen gleichzeitig eine zentrale Anlaufstelle für all diejenigen (älteren) Menschen mit Behinderung dar, die nicht in ambulanten oder stationären Wohnformen

der Behindertenhilfe leben und die ansons- ten mit Eintritt des Ruhestandes aus dem professionellen Hilfesystem der Eingliede- rungshilfe „herausfallen“. Gerade vor diesem Hintergrund können diese Einrichtungen außerhalb des Wohnbereichs bei der Beglei- tung älterer Menschen mit Behinderung und insbesondere bei der Unterstützung während des Übergangs in den Ruhestand eine wichtige Schlüsselrolle einnehmen.

Zur Planung der Unterstützung und Beglei- tung der wachsenden Zahl von Senioren mit Behinderung sind grundlegende Kenntnisse über deren spezifische Unterstützungsbe- darfe notwendig. Dabei spielt neben der Frage nach der Gestaltung des Ruhestands, der Freizeit oder der sozialen Kontakte auch das Thema Gesundheit eine zentrale Rolle.

Im Anschluss werden daher aktuelle For- schungserkenntnisse zu altersbedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie dem Grad der Unterstützungs- und Pflegebedürf- tigkeit im Alter vorgestellt.

4. GESuNdhEit uNd uNtErStützuNGS- BEdarFE im altEr

Die Ergebnisse internationaler Studien zur Prävalenz altersbedingter Beeinträchtigun- gen und Erkrankungen bei Menschen mit lebenslanger Behinderung im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung fallen unterschied- lich aus: Einige Studien sprechen für ein ähnliches Aufkommen „üblicher“ Alterser- scheinungen (vgl. Evenhuis 1997), beispiels- weise muskuloskeletale Erkrankungen (z. B.

Arthrose oder Hüftfrakturen) sowie neu- rologische und psychische Leiden (z. B. Par- kinson, Demenz oder Depressionen), „einige andere finden signifikante Unterschiede

bezüglich der Frequenz gesundheitlicher Beeinträchtigungen zwischen der älteren Population mit und ohne Behinderung“

(Haveman et al. 2009, S. 34 – Übersetzung durch d. Verf.).

Relativ gesichert ist, dass Sehbehinderun- gen (Ametropie, Strabismus oder grauer Star/Katarakte) bei Menschen mit geistiger Behinderung häufiger auftreten als in der Allgemeinbevölkerung (ebd., S. 21ff.). Auch Hörbeeinträchtigungen kommen bei die- ser Personengruppe häufiger vor und tre- ten früher auf. Als Risikofaktor gilt neben einem höheren Alter das Vorliegen eines Downsyndroms. Solche Sinnesbeeinträchti- gungen bleiben zudem im Anfangsstadium häufig von professionellen und informel- len Begleitern unbemerkt, sodass sie meist weitreichende Folgen für die Alltagsbewäl- tigung und allgemeine Lebensqualität mit sich bringen. Weitere Erkrankungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen, die bei älteren Menschen mit geistiger Behinde- rung häufiger auftreten und früher einset- zen als in der Allgemeinbevölkerung, sind Osteoporose und Frakturen, demenzielle Veränderungen, psychische Erkrankungen (vor allem Depressionen) sowie Übergewicht und Adipositas (ebd., S 34). Auch Verstopfun- gen und Erkrankungen des Verdauungssys- tems zeigen eine erhöhte Prävalenz auf. Als Risikofaktoren gelten insbesondere Immobi- lität und geringe körperliche Aktivität sowie die Einnahme bestimmter Medikamente.

Zu Übergewicht und Fettleibigkeit liegen unterschiedliche Ergebnisse vor. Haveman et al. attestieren 2009 eine hohe – im Ver- gleich zur Allgemeinbevölkerung aber nicht ungewöhnliche – Prävalenz von Adi- positas und identifizieren ein stationäres

Wohnumfeld als möglichen Risikofaktor.

Im Forschungsprojekt Alter erleben beträgt der Anteil von Personen in der Altersgruppe 45+ mit Übergewicht 65% im Gegensatz zu 52% in der Allgemeinbevölkerung in der glei- chen Altersgruppe, der Anteil von Personen mit Adipositas liegt bei 29% im Vergleich zu 16%. Bei ambulant betreuten Personen und Menschen mit Downsyndrom ist der Anteil besonders hoch (Dieckmann/Metz- ler 2013, S. 94ff.). Ferner weisen Personen mit Downsyndrom (mit 55%) eine deutlich höhere Prävalenz endokriner, Ernährungs- und Stoffwechselstörungen auf, während bei Menschen mit einer anderen geistigen Behinderung (mit 34%) häufiger psychische und Verhaltensstörungen diagnostiziert werden.

Nach ihrer subjektiven Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands gefragt, äußern sich die Teilnehmenden des Forschungsprojekts Alter erleben überwie- gend positiv, ein Großteil beurteilt diesen als „gut“ (67%) oder „sehr gut“ (12%). Nur 3% schätzen ihren Gesundheitszustand als

„schlecht“ und 18% als „weniger gut“ ein.

Eine Differenzierung nach Altersgruppen ergibt keinen deutlichen Anstieg negati- ver Einschätzungen mit dem Alter. In allen mittleren und höheren Altersgruppen (45–55

= 80%, 55–64 = 78%, 64–69 = 82%, 70+ = 76%) geben drei Viertel der Befragten an, in guter oder sehr guter gesundheitlicher Verfassung zu sein (Dieckmann/Metzler 2013, S. 76ff.).

Gleichwohl verweisen internationale und nationale Studien auf einen mangelhaften Zugang der Senioren mit Behinderung zu den Angeboten der medizinischen Präven- tion und Primärversorgung (vgl. Dieckman/

(13)

0 2 4 . . 0 2 5

Metzler 2013, S. 165; Haveman et al. 2009, S. 35ff.). Ding-Greiner und Kruse (2010, S. 25ff.) thematisieren die Barrieren im Gesundheits- system, mit denen sich ältere Menschen mit geistiger und psychischer Behinderung konfrontiert sehen und nennen folgende zentrale Problemlagen: die mangelnde Zugänglichkeit ambulanter und stationärer medizinischer Dienste für diese Personen- gruppe, behinderungsbedingte Kommuni- kationsschwierigkeiten und Unsicherheiten im Umgang mit behinderten Patienten auf Seiten der medizinischen Fachkräfte sowie mangelndes Wissen über spezifische Gesundheitsrisiken und Krankheitsver- läufe. Haveman et al. (2009) merken an, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen bei dieser Personengruppe häufig nicht oder erst spät erkannt werden. In diesem Zusammenhang verweisen die Autoren auch auf das Thema Schmerzempfinden, das bisher als kaum erforscht gilt. Insbesondere bei Menschen mit schwereren kognitiven Beeinträchtigungen und eingeschränkten (verbalen) Kommunikationsmöglichkeiten besteht das Risiko, dass Schmerzen nicht mitgeteilt werden können (ebd., S. 19ff.).Aus diesen Gründen wird eine stärkere Berück- sichtigung des Themas gesundheitliche Ver- sorgung von behinderten Menschen in der Ausbildung von medizinischen und Pflege- fachkräften gefordert (ebd., S. 41).

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts Alter erleben zeigen, dass sich Senioren mit Behin- derung in Deutschland häufig mit einer problematischen medizinischen Primär- versorgung konfrontiert sehen (Dieckmann/

Metzler 2013, S. 165f.). Unabhängig von der Wohnform nimmt ein Großteil regelmäßig Medikamente ein; im stationären Bereich

ist dieser Anteil mit 93% im Vergleich zu den anderen Wohnformen deutlich erhöht, am geringsten fällt dieser bei denen aus, die in Familien oder alleine leben (76%). Im Hinblick auf Psychopharmaka (z. B. Neuro- leptika oder Antidepressiva) sind die Ein- nahmequoten im stationären Bereich sogar mindestens doppelt so hoch wie die in ande- ren Wohnformen (ebd., S. 84).

Bezogen auf die Eigenständigkeit bei All- tagsaktivitäten wird festgestellt, dass diese mit steigendem Alter deutlich nachlässt.

Differenziert nach Altersgruppen sinkt der Anteil der Personen ohne Unterstützungs- bedarf mit dem Alter deutlich von durch- schnittlich 64% bei den 45- bis 54-Jährigen über 43% bei den 55- bis 64-Jährigen auf 29%

bei den über 65-Jährigen. Ein Nachlassen der Eigenständigkeit lässt sich vor allem für die Bereiche Körperpflege und Waschen, Zähne- putzen und An-/Ausziehen beobachten, hier sinkt der Anteil der Personen, die diese Akti- vitäten ohne fremde Hilfe verrichten, von 55% auf 30% und 16% (Dieckmann/Metzler.

2013, S. 100). Im Hinblick auf die Wohnsitu- ation belegt die Studie, dass im ambulan- ten Bereich die eigenständigsten Personen leben, während der Anteil unterstützungs- bedürftiger Personen im familiären/priva- ten Kontext oder stationären Settings deut- lich höher liegt (ebd., S. 99f.).

Es ist außerdem – als Indikator galt die Rate der Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung – der altersbedingte Zuwachs an pflegebedürftigen Personen untersucht worden: Differenziert nach Wohnformen ergibt sich ein deutlich gerin- gerer Pflegebedarf im ABW im Vergleich zu stationären Wohnformen und Privathaus-

halten: Im ABW gibt nur 14% der Stichprobe an, eine Pflegestufe zu haben, während der Anteil bei familiär betreuten Personen 59%

beträgt, im stationären Bereich nehmen 35% zusätzliche Leistungen der Pflegeversi- cherung in Anspruch6 (Dieckmann/Metzler 2013, S. 49ff).

Im Rahmen des LEQUI-Projekts werden Vor- ausschätzungen bezüglich der Anzahl der Menschen mit langjähriger Behinderung mit zusätzlichem Pflegebedarf getroffen:

Erstaunlicherweise sinkt die Anzahl pflege- bedürftiger Personen mit geistiger Behin- derung zunächst von 527 Personen in der Altersgruppe der 55- bis 59-Jährigen auf 206 in der Altersgruppe der 65- bis 69-Jährigen und steigt erst ab dem 70. Lebensjahr wieder leicht (auf N = 283) (Dieckmann et al. 2010, S. 40). Daher sehen dieAutoren die besondere Anforderung bei der Versorgung der älteren Adressaten im Vergleich zu den jüngeren nicht in einem signifikanten Anstieg pfle- gebedürftiger Personen begründet, sondern in einem spezifischen Unterstützungsbedarf im Alter.

Auch wenn in der LEQUI-Studie wie in ande- ren Studien ein steigender Unterstützungs- bedarf im höheren Alter beobachtet wird, wird von einem primär defizitären Blick auf das Alter gewarnt. Ein zu starker Fokus auf die altersspezifischen Beeinträchtigungen und die damit einhergehenden Einschrän- kungen bezüglich alltagspraktischer und (selbst-) versorgender Fähigkeiten birgt die Gefahr der Bevormundung älterer Men-

6 Die Stichprobe umfasste 465 Personen, davon wur- den familiär betreut 129 (Altersdurchschnitt: 52 Jahre);

im ABW befanden sich 105 (Altersdurchschnitt: 45 Jahre);

stationär wohnten 222 (Altersdurchschnitt: 61,5 Jahre).

schen mit Behinderung. Erforderlich sind vielmehr eine Anpassung der Lebensbe- dingungen und die Unterstützung bei der Bewältigung altersspezifischer Herausfor- derungen (vgl. Graumann/Offergeld 2013).

Da auch bei älteren Menschen mit Behinde- rung von einer weiteren Ausdifferenzierung der Lebensorte und -welten7 auszugehen ist, wird eine adäquate Begleitung dieser Personengruppe nicht nur innerhalb des stationären Bereichs der Behindertenhilfe erfolgen können. Vor dem Hintergrund der durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN- Charta) forcierten Leitbilder der Inklusion und gesellschaftlichen Teilhabe sollte die Frage ihrer angemessenen Unterstützung außerdem nicht hauptsächlich mit einrich- tungsinternen oder -externen tagesstruktu- rierenden Angeboten beantwortet werden.

Stattdessen gilt es, auch der älteren Gene- ration Zugänge zu vielfältigen (inklusiven) Sozialräumen zu ermöglichen bzw. sie bei deren Erschließung zu begleiten.

7 Der Ambulantisierungsgrad ist bundesweit seit 2000 von etwa 20% auf über 40% in 2010 gestiegen.

In Baden-Württemberg liegt der Ambulantisierungs- grad 2010 bei etwa 29,8% im Vergleich zu 17% in 2000 (Schütz-Sehring/Bunn 2011, S. 51).

(14)

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./ auf der Suche nach neuen antworten

1. altErNativEN zu arBEitEN uNd WohNEN iN ExKluSivEN EiNrichtuNGEN

Die wachsende Zahl von älteren Menschen mit Behinderung stellt die Behindertenhilfe nicht nur aufgrund ihres zunehmenden Anteils in deren Einrichtungen, sondern vor allem in konzeptioneller Hinsicht vor neue Herausforderungen. Galt bislang die Mehrheit der Menschen mit Behinderung als ausreichend versorgt, wenn sie zum einen in ihrer Herkunftsfamilie oder in stationären oder vergleichbaren Wohnein- richtungen wohnten und zum anderen in WfbM, in Integrationsfirmen oder in sons- tigen Formen unterstützter Beschäftigung arbeiteten, so ist eine derartige Versorgung im Doppelpack bereits heute für ältere Men- schen mit Behinderung nicht mehr selbst- verständlich. Zum einen wohnen sie infolge der Ambulantisierung von Unterstützungs- angeboten zunehmend selbstständig oder in ambulanten Wohnformen mit mehr oder weniger intensiver Betreuung. Zwar trifft das insgesamt erst für einen kleinen Teil zu, aber in den von uns untersuchten Projekten ist es fast die Hälfte. Zum anderen fallen mit dem mehr oder weniger erzwungenen Aus- scheiden aus der Arbeit eine verbindlich vor- gegebene Strukturierung des Alltags, eine zumindest minimal entlohnte (Erwerbs-) Tätigkeit und mit ihr kontinuierliche Gele- genheiten zu vielfältigen sozialen Kontakten

weg. Die Freisetzung durch den Übertritt in den Ruhestand birgt zwar Chancen für eine weniger vor- bzw. fremdbestimmte Lebens- führung, aber auch Gefahren. Letzteres gilt insbesondere dann, wenn für die älteren Menschen mit Behinderung keine oder nur wenig attraktive Optionen der Lebensge- staltung in Aussicht stehen und sie völlig unvorbereitet in den Ruhestand wechseln.

Ihnen zukunftsweisende Perspektiven der Lebensgestaltung im Alter zu offerieren und ihnen Wege dahin zu eröffnen, wird daher künftig eine unumgängliche Aufgabe der Behindertenhilfe sein. Diese hat sie anzu- regen und zu begleiten, damit sie das Neu- land entdecken8, das vor ihnen liegt. Dies gilt umso mehr, wenn sie zuvor nie gelernt haben und lernen konnten, selbst zu bestim- men, wie sie ihr Leben – zumindest in Teilbe- reichen – gestalten wollen und dafür selbst verantwortlich zu sein.

Um diese neue Aufgabe zu erfüllen, d. h. die älteren Menschen mit Behinderung bei ihrer Entdeckungsreise kompetent begleiten zu

8 Eine für alle überraschende, wichtige Erfahrung im Projekt Neuland entdecken (Landesverband NRW für Körper- und Mehrfachbehinderte 2004; Hollander/

Mair 2005) war, dass die betreffenden älteren Men- schen mit Behinderung eine derartige Begleitung sehr bereitwillig und z. T. mit großem Eigenengagement in Anspruch genommen haben. Sie fühlten sich als Pio- niere, die deshalb, nicht weil sie hilfebedürftig waren, Unterstützung in Anspruch nahmen.

können, bedarf es eines Orientierungsrah- mens. Dieser ist nicht zuletzt deshalb erfor- derlich, um Alternativen zu Tagesstruktur- angeboten aufzuzeigen, die mancherorts aus der Not geboren sind. Nicht alles, was älteren Menschen mit Behinderung zuge- mutet wird und womit diese sich irgendwie zufrieden geben, macht Sinn. Es ist daher – auch bezogen auf die untersuchten Pro- jekte – folgende Frage zu stellen: Welche Unterstützungsmaßnahmen, welche Qua- lifizierungsangebote und welche struk- turellen Veränderungen erweisen sich als zielführend im Hinblick auf eine zuneh- mend selbstständige Lebensführung und gelingende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben von älteren Menschen mit Behinde- rung? Diese grundlegenden Ziele, die durch das SGB I und IX sowie die UN-Charta vor- gegeben sind, werden zwar, zumindest

im Prinzip, allgemein anerkannt, aber die Aufgabe wird sein, sie im Hinblick auf die Zielgruppe der älteren Menschen mit Behin- derung zu spezifizieren oder zu operationa- lisieren. Die Herausforderung besteht daher darin, ausgehend von ihren individuellen biografischen Erfahrungen, ihren subjekti- ven Fähigkeiten und Lernpotenzialen und unter Berücksichtigung der vorhandenen institutionellen und sozialräumlichen Kon- texte Perspektiven an ihrem Lebensort für sie zu entwickeln. Dies gilt zwar nicht nur für die Zielgruppe älterer Menschen mit Behinderung, aber für sie im Besonderen, da ihre langjährige Bevormundung, ihre eingeschränkten Entwicklungsmöglichkei- ten, ihre altersspezifischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie ihre begrenzten bis fehlenden familiären, beruflichen und sozialen Netzwerke ihnen häufig weniger

B. auF der suche nach neuen

antworten

Abbildung

Tabelle 5: Aktivitäten im Handlungsfeld Initiierung und Unterstützung von ehrenamtlichem Engagement
Tabelle 3 veranschaulicht, in welchen Berei- Berei-chen alle TN durchschnittlich die stärksten  Beeinträchtigungen (auf den Stufen 3 und 4)  aufweisen:
Abbildung 7: Evaluation personenbezogener Begleitprozesse – Formen der Tagesgestaltung der TN  (Angaben in %) 46% 29% 25%  Arbeit  Förderung /  Tagesstruktur  ohne Tagesstruktur
Abbildung 8: Evaluation personenbezogener Begleitprozesse – Häufigkeit der Kontakte der TN zu  verschiedenen Personengruppen zu Beginn der Begleitung (Angaben in absoluten Zahlen, n = 72)
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