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Zwischen Einheit und Vielfalt: Diskrepanz von Erzähler- und

VI. Anfänge der Pragmatisierung und Spezifizierung des epischen Dialogs

2. Integrierung der Autorstimme in die Figurenrede

2.3. Zwischen Einheit und Vielfalt: Diskrepanz von Erzähler- und

Mit der Integrierung der Autorstimme und ihrer Ideologie fließen - in einer gleichsam gegenläufigen Strömung - auch die gesprochene Sprache (razgovomaja reč’) und die oft dialektale Umgangssprache (vgl. Uspenskij 1985:S.6) zu- nehmend in die Figurenreden ein. Der Ende des 18. Jahrhunderts besonders nachdrücklich erhobenen Forderung, ‘so zu schreiben wie man spreche’ (“pisat’, как govoijat”) (Uspenskij 1985:S.5), kommt man in der literarischen Praxis - rudimentär ־ bereits Jahrzehnte vorher nach.

Als erster erweckt Michail Culkov durch seinen skaz beim Leser zumindest den Eindruck von gesprochener Sprache. Damit führt er zwar die ‘niedere’

Sprache in die Erzählerrede ein, doch kommen die eigentlichen Repräsentanten dieses Stils bei ihm noch nicht zu Wort. Er ordnet vielmehr den hohen Stil dem epischen und den niederen Stil dem realen Erzähler-Ich zu (Mathauserová

1961:S.93-95).

Der zweite wichtige Beitrag Culkovs zur Integrierung der gesprochenen Sprache in den literarischen Text hängt mit seinem hohen Sprachbewußtsein zusammen. Dieses läßt ihn formelhafte fremde Rede, die der Verbreitung leben- diger Rede entgegensteht, explizit deformieren und parodieren.

So berichtet der Erzähler, daß einer seiner Freunde ‘in Gesprächen immer’

(“vsegda v razgovorach”) das nicht-russische Verbum ‘observieren’ (“obser- vuet”) benutze. Er gebrauche es insbesondere, wenn er in Rage gerate und er schreie dann (Russkaja proza XVIII veka I:S.97):

"Для чего ты не обсервуешь моей чести ?"

“Warum nimmst du keine Rücksicht auf meine Ehre?”

Nicht nur die vom Erzähler erwähnte gleichzeitige Verwendung dieses Wortes in Kanzleischriftstücken weist es freilich als zum Ausdruck von Emotionen denkbar ungeeignet aus.

Nicht bei Culkov wird aber gesprochene Sprache wörtlich zitiert, sondern erst in Radiščevs Reise von Petersburg nach Moskau. Eine grundlegende Innovation - vor allem im Vergleich zu den Petrovskie povesti - gelingt diesem Autor auch mit der extremen Kürze der Repliken. Sie erlaubt erstmals im 18. Jahrhundert einen schnellen dialogischen Wechsel (Radiščev 19381:S.228):

Что такое спрашивал я у повощика моего ? - почтовый двор. - да где мы ? ־ в Софии! - и между тем выпрягал лошадей.

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Was ist das, fragte ich meinen Kutscher? - Eine Poststation. - Wo sind wir denn? - In Sofija! - und währenddessen spannte er die Pferde aus.

Während Culkov den umgangssprachlichen Stil noch dem realen Erzähler-Ich zuweist, machen sich ihn bei Radiščev bereits die Figuren zu eigen. Dadurch ver- schiebt sich die Diskrepanz der Redestile von der Erzählerinstanz hin zur Relation von Erzähler- und Figurenstil. Damit wird eine wichtige Voraussetzung für die Ablösung der Redeeinheit durch die Redevielfalt geschaffen.

Der Redestil wird so zu einem poetischen Mittel, die Figuren ־ zunächst nur kollektiv ־ zu charakterisieren und von der Erzählerrede abzuheben. Besonders scharf äußert sich dieser Kontrast, wenn die Figuren - wie der Bauer, der auch am Sonntag gezwungen ist zu pflügen - volkssprachliche und dialektale Redensarten und Wortformen wie “dožžik” (“ein kleiner Regen”) gebrauchen (Radiščev 1938 I:S.233):

Не ленись наш браг, то с голоду не умрет. (״ ) А мы назы- ваем ето отдавать головой.

Wenn unsereiner nicht faul ist, dann stirbt er auch nicht vor Hunger.

(..) Wir nennen das ‘sich mit Haut und Haar ausliefem’.

In diesen Anfängen der Integrierung volkssprachlicher Elemente in die Figuren- reden werden diese häufig ausdrücklich angekündigt und in eine allgemein ver- ständliche Sprache übertragen.

Die dominante Forderung der Verständlichkeit läßt nicht nur P.Ju. L ’vov die Reden der Dorfbewohner in der sentimentalen Erzählung Roza und Ljubim nicht in deren Sprache wiedergeben, weil sie - so der Erzähler - unverständlich sei.

Auch der Autor in der Reise von Petersburg nach Moskau reduziert den umgangssprachlichen Charakter der Repliken der “armen” (“bednaja”) Anjuta nachhaltig.

Er gleicht die Reden des Bauernmädchens seinem eigenen Stil an. Der Ich- Erzähler selbst erweist sich im Dialog mit Anjuta und den “Dorfnymphen”

(“derevenskie nimfy”, Radiščev 1938 I:S.304) weder in seiner Sprache noch in seinem Denken fähig und willig, sich auf die Rede- und Denkweise seiner Dialogpartnerinnen einzustellen (Radiščev 1938I:S.305-306):

Скажи душа моя Анютушка, не стыдись; все слова в устах невинности, непорочны. (..) Но почто ж е моя любезная Анюта, ты лишена удовольствия наслаждаться шастием в объятиях твоего милаго друга ?

Sprich meine liebe Anjutuška, schäme dich nicht; alle Worte aus dem Munde der Unschuld sind makellos. (..) Aber warum, meine

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liebreizende Anjuta, bist du des Vergnügens beraubt, dich an dem Glück zu ergötzen, in den Armen deines lieben Freundes zu liegen?

Einen nächsten entscheidenden Schritt bei der Integrierung der gesprochenen Rede in die Figurenäußerungen macht Ivan Krylov im ersten Brief der Post der Geister. Die Diskrepanz zwischen hohem und niederem Redestil trennt jetzt nicht mehr Erzähler- und Figurenrede. Im Dialog zwischen Proserpina und Cicero wird sie vielmehr allein innerhalb des Figurendialogs wirksam. Sie wird damit erstmals zum zentralen Konstituens der Dialogpoetik (Krylov 19551:S.49):

"А! здравствуй, дедушка, - сказала она ему, - послушай, мне есть до тебя маленькая просьба, и мне ужасть хочется, чтоб ты ее исполнил: напиши, пожалуй, похвальную речь французским торговкам; (..)

"Богиня! ־ сказал Цицерон, - могу ли я верить своим глазам, чтоб ты, будучи бессмертна, пленилась дурачест- вами существ, которые едва живыми назваться могут ?"

“Ach ! Guten Tag, Opa, - sagte sie zu ihm, - hör mal, ich habe eine kleine Bitte an dich und ich hätte furchtbar gerne, daß du sie erfüllst:

Schreibe doch bitte eine Lobrede auf die französischen Hökerweiber,

)״(

“Göttin! - sprach Cicero, - darf ich meinen Augen glauben, daß ihr, die ihr unsterblich seid, euch von den Torheiten jener Wesen hinreißen laßt, die man kaum als lebendig bezeichnen kann?”

Die Vertreter der sentimentalen Erzählung und die Karamzinisten können die beschriebene Entwicklungstendenz von Culkov über Radiščev zu Krylov nicht verstärken. Sie t h e m a t i s i e r e n zwar die Opposition der Redestile, so etwa in Kolin und Liza (Kolin i Liza 1772) (Russkaja sentimental*naja povest’ 1979:

S.30), setzen sie aber nicht in Dialoge um. Die Orientierung an der idealen Um- gangssprache schließt die wörtliche Zitierung der nicht empfindsamen Figuren in aller Regel aus. Sie verbietet aber auch die Wiedergabe eines ‘nie-deren’ figuralen Redestils.

Die Karamzinisten richten sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach der von der Adelsgesellschaft gesprochenen idealen Umgangssprache. Sie greifen damit - wie Boris Uspenskij überzeugend belegt hat (1985:S. 198) ־ nur programmatische Forderungen V. E. Adodurovs und des frühen Vasilij Trediakovskij aus dem zweiten Viertel des Jahrhunderts auf.

In der literarischen Praxis freilich erscheinen die Unterschiede zwischen beiden Phasen viel gravierender als dies in den programmatischen Äußerungen der Fall ist.

Mit dem idealisierten Wort wird im Sentimentalismus gleichfalls an das formelhaft-idealisierte Wort der Erzählungen der ersten Hälfte des 18.

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hunderts (vgl. Bachtin 1975:S.194-195, 1979b:S.265-266) angeknüpft. Darin verschafft sich die Autorenstimme in beiden Phasen nachhaltig Geltung.

Die idealisierte Rede der ersten Hälfte des Jahrhunderts steht aber dem gespro- chenen Wort fern. Dieses Wort konstituiert einerseits eine rein lyrische, metrisch organisierte, andererseits eine betont schriftsprachliche Figurenrede.

Das idealisierte Wort der sentimentalen Erzählung, sein “neuer Stil” (“novyj slog”) betont ebenfalls die Rhythmisierung und unterscheidet die Omamentalität von Erzähler- und Figurenrede. Diese Rhythmisierung ist aber nicht länger eine rein lyrische, auch basiert sie nicht mehr auf der Schriftsprache. Ihr liegt vielmehr die gesprochene Sprache zugrunde, so in dem Dialog zwischen Liza und Èrast in Nikołaj M. Karamzins Armer Liza (Bednaja Liza 1792) (Karamzin 1964 I:

S.612):

"Ах, Эраст! - сказала она. - Всегда ли ты будешь любить меня ?" - "Всегда, милая Лиза, всегда!" - отвечал он. -,,И ты можешь мне дать в этом клятву ?" - "Могу, любезная Лиза, могу!" - "Нет! мне не надобно клятвы. Я верю тебе, Эраст, верю".

“Ach, Èrast! - sagte sie. - Wirst du mich immer lieben?” - “Immer, liebe Liza, immer!” - antwortete er. - “Und kannst du mir das auch schwören?” - “Ich kann, teure Liza, ich kann!” - “Nein! Ich bedarf keines Schwurs. Ich glaube dir, Êrast, ich glaube dir”.

Die Rhythmisierung in diesen Figurenreden und in der ‘schönen Prosa’

(izjaščnaja proza) wird vor allem durch kurze, relativ gleichförmige Segmente, durch Parallelismen in Syntax, Lexik und Betonungen erreicht (Kovtunova 1971:

S.337-339).

Die Voraussetzungen für diese neue Form der Rhythmisierung und Lyrisierung der Prosarede, für den kurzen Satzumfang und die Reduktion der Zahl abhängiger Nebensätze wurden aber erst durch die Integrierung der gesprochenen Sprache in die Figurenreden geschaffen.

Daraus ergibt sich zweifellos ein paradoxer Sachverhalt. Gerade die ideali- sierten Figurenreden und Dialoge der sentimentalen Erzählungen, die das umgangssprachliche Wort explizit und programmatisch ausklammem, können nur entstehen, weil in den vorangegangenen Jahrzehnten die gesprochene Sprache die Figurenreden zunehmend transformiert hat.

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