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Das Spiel mit der Redeautonomie

VI. Anfänge der Pragmatisierung und Spezifizierung des epischen Dialogs

1. Das Spiel mit der Redeautonomie

In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnte die Evolution der Poetik mit den thematischen Umwälzungen nicht Schritt halten. Mit Michail D. Čulkovs in der Ich-Form gehaltenen erzählenden Werken folgt um die Mitte des Jahrhunderts dem thematischen auch der p o e t i s c h e U m b r u c h . I m Gegensatz zu den Petrovskie povesti knüpft Culkov an die Poetik des 17. Jahrhunderts an (vgl.

Mathauserová 1961:S.113-119).

Die frühere altrussische Literatur wird jetzt in Motiven, Stil und Verfahren primär in parodistischer Absicht zitiert. So berichtet der Ich-Erzähler in Der Spötter oder slavonische Märchen (Peresmešnik ili slavenskie skazki 1766-

1768, 1789), daß er - wie auch Sergius von Radonež - schon im Bauch seiner Mutter zu sprechen begonnen habe. Dem Vorbild des altrussischen Heiligen folgend bezichtigt er sich formelhaft ‘großer Sündigkeit’ (“az mnogogreSnyj”, Russkaja proza XVIII veka I:S.93).

Das Erzähler-Ich spaltet sich jedoch bei Culkov in das beschriebene reale, das erzählte und in ein episches, erzählendes Ich auf (Mathauserová 1961 :S.91). Dies erlaubt eine für den Klassizismus revolutionäre Ästhetisierung der Wirklichkeit.

So deutet sich auch in diesem Beispiel die parodistische Absicht des Autors an, wenn er sich im Vorwort des Romans als “Mensch ganz ohne jeden Fehler”

(“čelovek sovsem bez vsjakogo nedostatka”, Russkaja proza XVIII veka I:S.91) in der Rolle des epischen Ich in Opposition zum sündigen realen Ich setzt.

Die Verfügungsgewalt des Autors über die dargestellten und sprechenden Instanzen äußert sich nicht länger lediglich implizit - wie in den Petrovskie povesti. Sie wird vielmehr vom Erzähler wiederholt ausdrücklich angesprochen.

Die Redeautonomie der Figuren wird durch parodistisches Spiel untergraben.

Das Spiel beschränkt sich jedoch nicht mehr allein auf die thematische Ebene der Äußerungen. Die gesamte Redegestaltung verändert sich grundlegend unter seinem Einfluß.

Die Sprechautonomie der Figuren wird vor allem durch ein häufig an- gewandtes Verfahren beschnitten: Die Figuren werden vom Erzähler gleich nach Beginn ihres Redezitats unterbrochen (Russkaja proza XVIII veka I:S.97):

- В моей деревне, сударыня, ־ говорили он, которой у него совсем не бывало; ибо он гораздо из мелкотравчатой фамилии и воспитан мякиною. Я бы рассказал (..).Walter Koschmal - 978-3-95479-645-8 Downloaded from PubFactory at 01/11/2019 10:02:25AM

- In meinem Dorf, meine Herrin, ־ sagte er, das er überhaupt nicht besaß, denn er war aus einer unbedeutenden Familie und in einem kleinen Nest erzogen worden. Ich würde erzählen (..).

Der auktoriale Einfluß verschafft sich zunehmend Geltung. Die Erzählerrede ent- fernt sich immer weiter von der Figurenrede, um schließlich die Erzählung selbst fortzuführen.

Das Spiel mit der auktorialen Sprechautonomie, deren Vorherrschaft bis zur Mitte des Jahrhunderts trotz auktorialer Einflußnahme unangefochten geblieben war, äußert sich dann besonders klar, wenn der Erzähler eine authentische, szenische Darstellung ankündigt (Russkaja proza XVIII veka I:S.95):

Нам лучше будет слушать их за столом (..).

Es ist besser für uns, ihnen bei Tisch zuzuhören (״ )•

Folgen läßt der Autor aber lange Beschreibungen ohne jede direkte Rede. Am Kapitelende bemerkt der Erzähler schließlich gar ironisch (Russkaja proza XVIII veka I:S.96):

Мы еше не слышим их разговоров; (..).

Wir hören ihre Unterhaltung noch nicht; (..).

Die Homogenität von Erzähler- und Figurenrede und die auktoriale Prägung letzterer wirken sich in den Petrovskie povesti noch als ästhetischer Mangel aus.

Bei Culkov aber gestattet die ironische Behauptung der figuralen Sprech- autonomie eine spielerische Ästhetisierung des Dialogs. Erstmals wird die Distanz des Autors zu seinen Figuren zum Gegenstand eines Spiels. Dement- sprechend äußert sich der Autor im Titel des zweiten Kapitels zu diesem mit Worten (Russkaja proza XVIII veka I:S.95):

Ежели она будет не складна, то в том я не виноват потому что будут говорить в ней пьяные.

Wenn es in seinem Aufbau nicht logisch sein wird, so bin nicht ich daran schuld, denn in ihm werden Betrunkene sprechen.

In den bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts gängigen Formen der Rede-wieder- gäbe, in direkter und indirekter Rede sowie im Redebericht, wurden eigentlich immer die Rede i n h а 11 e mit unterschiedlicher Ausführlichkeit abgebildet.

Culkov deformiert gerade diesen Aspekt. Rede- und Dialoginhalte teilt er häufig überhaupt nicht mit oder deutet sie lediglich an.

Die parodistisch-deformierende Funktion dieses Verfahrens springt dann besonders ins Auge, wenn es sich dabei um den, in der ersten Jahrhunderthälfte so wichtigen, Liebesdialog handelt (Russkaja proza XVIII veka I:S.102):

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(..) острые выдумки, затейливые рассказы и кудрявые слова утешали ее по моему желанию; и все, что я ни говорил, казалось ей приятно.

(..) die scharfsinnigen Einfälle, die amüsanten Erzählungen und die geschraubten Worte trösteten sie nach meinem Wunsch; und alles, was ich nur sagte, erschien ihr angenehm.

Der Leser erfährt zwar, daß der Held Ladon mit Absicht in die Rolle des

“verzweifelten Liebhabers” schlüpft und sich bei seinen Liebesergüssen mit einer nicht mehr vom Autor sondern von der Figur zu verantwortenden Distanz in die formelhafte Rede ‘von Tragödien und Romanen’ flüchtet. Doch bezüglich des Inhalts der Liebesdialoge bleibt der Rezipient auf Vermutungen angewiesen.

Die fehlende Wiedergabe der Dialoginhalte läßt hier Unbestimmtheitsstellen (Ingarden) entstehen. Das ästhetische Potential des Textes wird damit ausgeweitet

Indem der Autor - unter Verschweigen der Inhalte - die Wirkung von Figuren- reden auf die Adressaten beschreibt, vermag er den Grad der Un-bestimmtheit sogar noch zu erhöhen. Gibt der Autor auch den Inhalt der Replik der Beschließerin (“ključnica”) nicht wieder, so schildert der Erzähler im folgenden dennoch deren Wirkung (Russkaja proza XVIII veka I:S.97):

Смущение ее и ответ сытому гостю возбудили во мне подозрение (..).

Ihre Verwirrung und die dem gesättigten Gast erteilte Antwort weckten in mir Mißtrauen (..).

In den Petrovskie povesti werden primär die Inhalte der Dialoge wieder- gegeben, ihre pragmatischen Bedingungen aber ausgespart. Culkov kehrt diese Relation nicht nur um, sondern treibt sie sogar auf die Spitze. Aus seiner Per- spektive sind nicht länger die Redeinhalte sondern ist allein ihre P r a g m a t i k darstellungswert. Damit schafft er zweifellos die Grundlage für den modernen Dialog und überwindet endgültig die Dominanz der Redeinhalte.

Die Rede- und Dialogwiedergabe bei Culkov zeigt sich in einem bisher nicht gekannten Maße vom Autor bestimmt. Diese Abhängigkeit geht bis zur Auf- lösung des direkten Redezitats, das bei diesem Autor so selten wird. Doch macht er aus dieser Dependenz nicht länger ein Hehl, sondem nutzt sie ästhetisch durch ihre spielerische Explizierung. Der Erzähler schiebt sich ironisch in den Vorder- grund. Zwar behauptet er die figurale Sprechautonomie (“ne choču perebivat’

ego rečej”, “ich möchte seine Rede nicht unterbrechen”, Russkaja proza XVIII veka I:S.97-98), in der Praxis jedoch hebt er sie auf.

Michail Culkov führt damit zweifellos die Tradition des auktorialen Dialogs fort. Er gerät dadurch in Gegensatz zu den meisten Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die primär die figural-auktoriale Entwicklungslinie auf­

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nehmen. Nachfolger findet er wohl erst in den dreißiger Jahren des 19. Jahr- hunderts.

Die Spezifika des epischen Dialogs evolutionieren aber vor allem im figurai- auktorialen Strang. Culkovs Rede- und Dialogmodellierung e n t f e r n t sich durch die Negation des wörtlichen Zitats und die völlige Deformation der Redeinhalte erstmals nachhaltig vom dramatischen Dialog. Bei Culkov werden gerade die Eigenheiten des epischen Dialogs hervorgehoben, wenn er die semantische von der pragmatischen Komponente des Dialogs absondert. Der dramatische Dialog vermag dies nicht.

Diese rigorose Umkehrung bisher gültiger Verfahren der Dialoggestaltung muß als eine überspitzte Reaktion auf diese interpretiert werden. In der Dialog- modellierung repräsentiert Culkov zweifellos am deutlichsten den W e n d e - p u n k t zwischen alt- und neurussischer Poetik. Eine Fortentwicklung des epischen Dialogs unter Aussparung aller Redeinhalte war in dieser Evolutions- phase freilich undenkbar.

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