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Konkurrenz semantischer und pragmatischer Dialogtypen

VI. Anfänge der Pragmatisierung und Spezifizierung des epischen Dialogs

4. Konkurrenz semantischer und pragmatischer Dialogtypen

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Der ,dramatische’ epische Dialog trägt das Attribut ,dramatisch’ allein auf- grund seiner graphischen Identität mit dem Dialog des Dramas. Die Namen der Sprecher werden den Repliken vorangestellt, der Nebentext wird oft in Klammern beigefügt. Während die Länge der Repliken zwischen knapp und ausgedehnt schwankt, schließt sich eine Unterbrechung des Dialogs durch Erzähler- digressionen aus.

Der hier so bezeichnete ,dramatische’ - oft auch theatralisch genannte - Dialog kann sich dem Dialog des Dramas annähern. Doch meist übernimmt er Züge des philosophischen Dialogs, mit dem er die graphische Form teilt, in Radiščevs Das Leben Fedor Vasil’evič Ušakovs (Žitie Fedora Vasil'eviča Ušakova 1789, Radiščev 1938 I:S .l71) ebenso wie in der Reise von Petersburg nach Moskau (1938 LS.368) oder im 16. Brief von Ivan Krylovs Post der Geister (1955 I:S.129-134). Ein “Ich” und ein “Er” dialogisieren nach dem klassischen Frage- Antwort-Schema, ohne daß ihre Repliken durch Didaskalien ergänzt oder unter- brochen würden.

Aber auch dort wo Didaskalien diesen epischen Dialog jenem des Dramas anzunähern scheinen, führt die äußere, graphische Form in die Irre, so in Ivan Krylovs Nächte (1955 I:S.361):

О б м а н а . Это правда, я очень много ходил. (Мне, тихо.) Ради неба, скажите своей карете, чтоб она со мною ехала.

(И я в ту ж е минуту исполнил ее волю.)

Т р а т о с и л (мне, взяв Обману за руку). Ну, так поедем ж е к нему (..).

O b m a n a . Das ist wahr, ich bin sehr viel zu Fuß gegangen. (Leise zu mir.) Um Himmels willen, befehlen sie ihrem Kutscher, daß er mit mir losfährt. (Und ich erfüllte ihren Wunsch im nämlichen Augen- blick.)

T r a t о s i 1 (zu mir, nachdem er Obmana bei der Hand genommen hat). Also, dann wollen wir zu ihm fahren (..).

Nicht nur in den Personalpronomina, sondern auch in ihrem epischen Charakter (“Und ich erfüllte ihren Wunsch im nämlichen Augenblick”) entfernen sich die

‘ Didaskalien ’ vom dramatischen Nebentext.

Der zweite Dialogtyp findet zwar noch bis ins 19. Jahrhundert hinein Fortsetzer, so etwa in Vasilij T. Nareżnyj, doch löst er sich mit der Entfernung des epischen Dialogs vom dramatischen und vom außerliterarischen Dialog auf.

Die graphische Form des dramatischen bzw. philosophischen Dialogs ließ ihn zu einem Sammelsurium heterogener poetischer Merkmale werden. Doch führt allein die Tatsache, daß er in einer evolutionären Übergangsphase entstehen konnte, die gestiegene Bedeutung der graphischen Dialoggestalt vor Augen. Blieb diese

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bisher unmarkiert, so wird sie von nun an zu einem festen Bestandteil der Poetik des epischen Dialogs.

Dies bedeutet nicht nur einen bemerkenswerten Schritt auf dem Weg zur chiro- graphischen Transformation des Dialogs. Durch die Variierung der graphischen Form wird der epische Dialog nunmehr auch v i s u e l l zunehmend differenziert gestaltet. Er entfernt sich darin nachhaltig vom dramatischen Dialog.

Repräsentiert im zweiten Dialogtyp - ebenso wie im ersten - nicht selten eine Figur die ideologische Position des Autors, so bleibt diese aus dem f i g и - г а 1 e n Dialog weitgehend ausgeschlossen. Auf diesen oft umgangs-sprach- liehen, szenisch-pragmatischen Dialog greift der Autor der Reise von Petersburg nach Moskau vor allem dann zurück, wenn der Ich-Erzähler am Dialog nicht beteiligt ist, so zum Beispiel in der folgenden Auseinandersetzung zwischen einem Soldaten, der Postpferde fordert und dem Dorfschulzen (Radiščev 1938 I:S.371):

(״ ) у нас только тридцать на лицо, другия в разгоне - Роди старой чорт. А небудет лошадей, то тебя изъуро- дою. - Да где ж е их взять, коли взять негде. - Разгово- рился еще... А вот лошади у меня будут...

(..) wir haben nur dreißig da, die anderen sind vergeben - Bring doch welche auf die Welt, du alter Teufel. Und wenn du mir keine gibst, schlag’ ich dich zum Krüppel. - Woher soll ich sie denn nehmen, wenn ich sie nirgends herbekommen kann? - Da ereifert er sich noch... Meine Pferde werden jedenfalls da sein...

Die Repliken des figuralen Dialogs heben sich meist klar vom Erzählertext ab:

Selten werden Dialoge innerhalb eines Absatzes wiedergegeben. Häufig verzichtet der Autor nicht nur auf inquit-Formeln, auch der dialogbegleitende Kommentar und die Repliken selbst werden meist knapp gehalten. Daraus resultiert ein schnelleres Dialogtempo und der relativ hohe Grad an Dialogizität.

Die Repliken des figuralen Dialogs tragen vor allem im Unterschied zum auktorialen Dialog Handlungscharakter. Darin steht der figurale Dialog jenem des Dramas besonders nahe. Auf der Grundlage dieser Überlegungen läßt sich die Relation der Dialogtypen folgendermaßen veranschaulichen:

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auktorialer figuraler Dialog im

Rede Dialog Dialog Drama

‘dramatischer’

Dialog

philosophischer Dialog

Die Konkurrenz dieser drei Dialogtypen vergrößert die ästhetische Potenz der Dialogmodellierung nachhaltig. Der Dialog kann auf dieser Grundlage auch kompositorische Aufgaben übernehmen, die bislang außerhalb seiner poetischen Möglichkeiten lagen. Wechselte der Autor in den Erzählungen des 15. bis 17.

Jahrhunderts von der Erzählerrede zum Dialog, um die narrativen Höhepunkte zu dramatisieren, so erübrigt sich jetzt diese Opposition zur Erzählerrede.

Der Kontrast bildet sich nun dialogintem durch den Wechsel des Dialogtyps.

Schon der Übergang vom auktorialen zum ‘dramatischen’ Typus erhöht die Expressivität und beschleunigt das Dialogtempo. Im Gespräch der drei Mode- artikel in Ivan Krylovs Post der Geister (1955 I:S.116-120) erzählen diese zunächst in äußerst ausführlichen Repliken von ihrer Verwendung und ihren jeweiligen Vorzügen. Als das “Blonde Halstuch” (“Blondovaja kosynka”) aus seinem Schlaf gerissen wird, geht der Autor vom auktorialen zum ‘dramatischen’

Dialog über (Krylov 1955 I:S.120):

К о с ы н к а Ох!.. Кто это ?.. Кто это мешает мне спа... а... а...

(зевает) а... ать ? Я так спокойно спала, а эти глупцы мне помешали; правду говорят, что...

А г л и н е к а я ш л я п к а Ты очень неучтива, что спишь в такое время, когда мы разговариваем о таких важных

предметах!

К о с ы н к а Ну! Что такое, о чем вы говорите ? Посмотрим.

А г л и н с к а я ш л я п к а Мы спорили о нашем друг перед другом преимуществе... (..).

H a l s t u c h Ach!.. Wer ist da?.. Wer stört mich da beim Schla... а... а...

(gähnt) a... afen? Ich habe so ruhig geschlafen, aber diese Dummköpfe haben mich gestört; man sagt mit Recht, daß...

E n g l i s c h e s H ü t c h e n Es ist sehr unhöflich von dir, daß du in der Zeit schläfst, in der wir über so wichtige Dinge sprechen!

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H a l s t u c h Nun! Was ist es denn, worüber ihr sprecht? Wir wollen sehen.

E n g l i s c h e s H ü t c h e n Wir stritten über die Vorzüge, die wir einer vor dem anderen haben... (..).

In der Regel wird die Dramatisierung aber auch durch den Wechsel zum figuralen Dialog erreicht. Tauschen die durch ihre “Unschuld” charakterisierte Goldstickerin Lizyn’ka und die Kupplerin und “Höllenfurie” (“adskaja Jurija”) Plutana in Krylovs Post der Geister ihre diametral entgegengesetzten Lebens- auffassungen in langen Repliken aus, so wechselt der Autor vom ersten zum dritten Dialogtyp, als sich Lizyn’ka endlich dazu bewegen läßt, den Freier Rastočitelev zu empfangen (Krylov 1955 I:S.78-79). Ihr Schicksal nimmt damit eine dramatische Wende.

Wie beim ‘dramatischen’ Dialog kann auch hier die gleiche graphische Gestalt über eine diametral entgegengesetzte poetische Einbindung hinwegtäuschen. Am Beispiel von Gedankenpunkten (mnogotočie) soll dies verdeutlicht werden.

Der Autor wählt in Ivan Krylovs Nächte den ‘dramatischen’ Dialog, um Tratosil eine Lobeshymne auf seine Frau sprechen zu lassen (Krylov 1955 I:S.361):

Она прочтет столько нравоучений, наскажет столько от печатного... О твоя сестрица - настоящий проповедник!..

Sie liest so viele moralische Schriften, erzählt so viel aus den Druckwerken ... Oh, deine Schwester ist ein wirklicher Prediger!..

Nur weißt du, wie ähnlich sie dir ist...

Er adressiert in der Wohnung des Verführers Mirobrod seine Elogen jedoch an seine maskierte Frau selbst, die ihn in eben diesem Moment betrügt. Die Gedan- kenpunkte haben also weniger den ahnungslosen Gatten als den Autor zum Urheber.

Im vorausgehenden figuralen Dialog auf dem Ball zwischen Tratosil und Mirobrod sind die Gedankenpunkte dagegen allein durch Gefühle und Über- legungen der Figuren motiviert (Krylov 19551-S.359):

"Ах! уж е лет пятв, как я стал так скромен, что никому не мешаю в любовных делах, и мое сердце..." - "Если оно у тебя хорошо, так ты должен меня оставить..."

“Ach ! Schon fünf Jahre ist es her, daß ich so bescheiden geworden bin und niemanden in seinen Liebesangelegenheiten störe, und mein Herz...” - “Wenn es gut ist, so solltest du mich alleine lassen...”

Mirobrod sucht auf diese Weise von Tratosil loszukommen, um mit dessen Frau den Ball verlassen zu können.

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Der hier beschriebene figurale Dialog kann nur als Vorstufe zu einer präg- matischen bzw. szenischen Dialoggestaltung gelten. Die gesamte Kommuni- kationssituation und damit die nicht-verbale Kommunikation bleibt weitestgehend außerhalb der Darstellung. Quantitativ dominieren ohnehin der figurale und der

‘dramatische’ Dialog.

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