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Die Figur als Träger des didaktischen Dialogs

VI. Anfänge der Pragmatisierung und Spezifizierung des epischen Dialogs

2. Integrierung der Autorstimme in die Figurenrede

2.2. Die Figur als Träger des didaktischen Dialogs

Sieht man von Michail Culkovs Parodie der semantischen Komponente von Rede ab, so kommt der Semantik in dem aufgewerteten inneren Kommunika- tionssystem absolute Priorität zu. Gegenüber der ersten Hälfte des 18.

Jahrhunderts wandelt sich insbesondere die Thematik des Dialogs.

Vor allem bei Aleksandr Radiščev wird das dominante Dialogthema der Liebe von jenem des alltäglichen Lebens (byt) abgelöst (Radiščev 19381:S.265):

Невестка водки нечаянному гостью - Я водки непью. - Дахотя прикушай. - Здоровья молодых... и сели ужинать.

Schwägerin, Vodka für den unerwarteten Gast - Ich trinke keinen Vodka. -Dann iß wenigstens ein bißchen. - Auf die Gesundheit der Jungvermählten... und wir setzten uns zum Abendessen.

Die wörtlich zitierten Dialoge Radiščevs beinhalten fast ausschließlich diesen - aus der Sicht der Zeit - ‘niederen’ Lebensbereich. Zwar thematisieren Aleksandr Radiščev (1938 I:S.304-306) und Ivan Krylov (1955 LS.329) auch erstmals soziale Gegensätze und Konflikte; sie werden aber nur besprochen und reflektiert, nicht aber dialogisch gestaltet.

Die Dialoge übernehmen primär die Aufgabe, eine bestimmte Gesellschaft darzustellen. Die Beseitigung von Wissensdefiziten bei einem meist naiven oder fremden Dialogpartner bildet deshalb auch ein grundlegendes Muster des Dialogs. Der figurale Sprecher wird auf seine Rolle als Informant reduziert. Die pragmatischen Bedingungen des Dialogs werden nicht wiedergegeben.

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Die überwiegend formulierten Inhalte sind abstrakte Ideen. Die Figuren repräsentieren ideologische Konzeptionen und Philosophien (Lotman 1961 :S.79).

Fedor Émin sucht nach eigener Aussage ־ in der Nachfolge Voltaires (Bondi 1941 :S.378) - in seinen ,Gesprächen’ (‘razgovory’) ausschließlich ‘seine Gedan- ken’ (“moi myśli”) wiederzugeben (Odincov 1973:S.64).

Der Dialog muß unter diesen Voraussetzungen zum Monolog verkümmern.

Radiščevs Ich-Erzähler leitet den rein monologischen Bericht des Hofbeamten über sein Leben mit den Worten ein (Radiščev 19381:S.231):

(..) вот моя с ним беседа.

(..) so verlief mein Gespräch mit ihm.

Trägt die altrussische, gleichfalls monologische “beseda” den Charakter des geistlichen Erbauungsgesprächs, so sind die didaktischen Absichten dieser

“beseda” in der Aufklärung verankert.

Mit der wachsenden didaktischen Sprechintention nähert sich der Dialog - wie in altrussischer Zeit ־ nicht-literarischen Formen und Gattungen, insbesondere polemischer Publizistik und philosophischen Dialogen an. Die Briefe von Ivan Krylovs Post der Geister sind ab 1789 zuerst als Feuilletons in Zeitschriften erschienen. Ihr voller Titel betont ihre aufklärerische Zielsetzung:

Почта духов, или Ученая, нравственная и критическая переписка арабского философа Маликульмулька с водяны- ми, воздушными и подземными духами.

Post der Geister, oder Gelehrter, moralisierender und kritischer Brief- Wechsel des arabischen Philosophen Malikul’mul’ka mit Wasser-, Luft- und unterirdischen Geistern.

Mit dem Begriff Briefwechsel wird auch eine in dieser Epoche besonders beliebte neue Gattung genannt. Sie trägt ebenso wie verwandte neu entstehende oder wiederbelebte Gattungen, zum Beispiel “B rief’ (“pis’mo), “Ansprache”

(“reč” ’), “Erörterung” (“rassuždenie”) oder “Belehrung” (“nastavlenie”) (Krylov 19551:S.175) philosophisch-monologischen Charakter.

Mit den außerliterarischen Dialogformen und Gattungen erfährt in dieser Epoche auch die e t h i s c h e Dimension der Rede eine Renaissance. Sie trägt freilich nicht länger metaphysischen Charakter, sondem ist gänzlich verweltlicht.

Sie erhebt nunmehr allein den Anspruch, gesellschaftliche Mißstände anzu- prangern.

In den Petrovskie povesti wird die aus kirchlichen Schriften gewonnene

‘Weisheit’ (,mudrost” ) bereits von einer Weisheit (‘mudrost” , ‘ostrota’) abge- löst, die auf dem Studium der Philosophie und anderer Wissenschaften basiert.

Die Restauration der altrussischen Ethopoetik in der zweiten Hälfte des 18.

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Jahrhunderts geht deshalb unter geänderten Vorzeichen vonstatten. Der metaphy- sisch-ethische Anspruch weicht einem philosophisch-gesellschafts-kritischen.

Auch die russische Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts ist damit in den poetischen Kontext der altrussischen Literatur zu stellen.

Der didaktische Dialog des 18. Jahrhunderts zeigt sich ebenso hierarchisch strukturiert wie der altrussische. In letzterem ist aber die Hierarchie durch den Abbildcharakter des Dialogs außertextuell vorgegeben. Im didaktischen Auf- klärungs- und Entlarvungsdialog wird die Asymmetrie jedoch durch den Informationsvorsprung von Figuren textintem motiviert. Die Figur erscheint nur noch im äußersten Fall als ‘Abbild’ des Autors, der seinerseits eine Instanz des Textes darstellt.

Der Unterschied zur altrussischen Ethopoetik wird offensichtlich. Gewinnt die abbildhafte Rede der altrussischen Literatur ihre Autorität aus der Wiederholung t r a d i e r t e r Positionen, so resultiert die Autorität der Figurenrede in der Aufklärung als ästhetische Kategorie aus den thematisierten n e u e n Inhalten.

Seit Radiščev nimmt die Autorität der Figur selbst gegenüber dem Erzähler zu, da sie ihm die durch den Text als wesentlich markierten Informationen liefert. Bei Radiščev werden diese sogleich zum Gegenstand auktorialer Reflexion. Der Erzähler oder auch Figuren wie die Dämonen in Ivan Krylovs Post der Geister, (1955 I:S.137) agieren als Adressaten der von figuralen Sprechern gegebenen Erläuterungen. Wiederholt bitten Figuren, - bei Radiščev vorwiegend der Ich- Erzähler -, andere um Aufklärung, so in Post der Geister (1955 I:S. 188) der Gnom:

(..) растолкуйте мне это странное обыкновение (..).

(..) erklären sie mir diesen seltsamen Brauch (..).

Die strenge hierarchische Ordnung verhindert - wie in der altrussischen Literatur - die Ausbildung eines dialogischen Konflikts. Der “Streit” der vier Modeartikel im 14. Brief der Post der Geister (Krylov 1955 I:S. 116) erschöpft sich deshalb auch in bloßen Wechselreden, deren Zusammenhang auktorial konstituiert wird. Jeder der Modeartikel nennt lediglich - in wechselnder Folge - seine eigenen Eigenschaften und Vorzüge (Krylov 19551:S.120).

Die Aufklärungsliteratur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts restauriert die altrussische Literatur in einem Bereich, der von den Petrovskie povesti aufgrund der neuen Liebesthematik zunächst ausgespart blieb, - in der ethischen Dimension. Dieser Rückgriff geht aber mit einer erneuten thematischen Verschie- bung hin zum byt einher. Daraus resultiert die Anwendung besonders radikaler - altrussischer - ethischer Maßstäbe auf das alltägliche gesellschaftliche Leben.

Dem in der altrussischen Literatur grundgelegten besonderen didaktischen Impe- tus, der wiederholt als ein Spezifikum genannt wurde, wird damit sein literar- isches Fortleben garantiert. Walter Koschmal - 978-3-95479-645-8