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Auktoriale Lyrisierung der Figurenreden

V. Auktoriale Dialogisierung (erste Hälfte des 18. Jahrhunderts)

4. Vermeintliche Durchdringung von Figurenkontexten

4.1. Auktoriale Lyrisierung der Figurenreden

Der metaphorische Dialog unterscheidet sich einerseits grundlegend von jenem der zweiten altrussischen Stilformation und auch von jenem der Epoche zwischen 1450 und 1700. Seine expliziten Bedeutungen stehen andererseits aber auch noch den individuell gewählten Bildern und zweideutigen Reden des 19. Jahrhunderts fern.

Die metaphorische Rede der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts rekrutiert sich ausschließlich aus formelhaften Bildern. Da diese Schablonisierung Hauptfiguren und Erzählerinstanzen gleichermaßen erfaßt, steht ihr auktorialer Ursprung außer Zweifel. Damit schlagen die Erzählungen dieser Zeit eine Brücke zwischen der offiziell-öffentlichen, formelhaften Rede der altrussischen Literatur und der neuen intimen,individuellen Rede.

Der Rückgriff auf Redeformeln ermöglicht der russischen Literatur überhaupt erst die Modellierung des intimen Dialogs. Nur dank der schablonisierten Figu- renrede kann die Liebe zum Dialogthema avancieren. Die Redeformel gestattet dem Sprecher, sich in diesen Anfängen intimer Liebesdialoge hinter auktorial ge- schaffene Schablonen zurückzuziehen.

Dementsprechend stellt sich dialogische Kontiguität auch nicht primär über die Redeinhalte her, sondern über die Bildsprache. Die von den Figuren individuell zu verantwortende wechselseitige Durchdringung der Dialogrepliken - wie etwa in der Historie von einem gewissen französischen Schljachtitzen... im Dialog zwischen Aleksandr und Vena (TODRL XVII 1961 :S.314) - bleiben die Ausnahme.

Die Regel aber bilden lyrisch-metaphorische Dialoge von schablonisierter Expressivität. In Rußland und Europa war die Dialogisierungswelle vor allem wegen des expressiven Charakters direkter Rede ins Rollen gekommen (vgl.

Günther 1928:S.32). Indirekte Rede wurde im 18. Jahrhundert nicht nur in Deutschland - so etwa von Johann Jakob Engel (1774) - als Darstellungsmittel verworfen. Sie bleibt auch dem russischen Klassizismus fast völlig fremd (VoloSinov 1975:S.189).

Ein Vergleich dieser zweiten Welle der Dialogisierung mit der ersten im 15. bis 17. Jahrhundert verdeutlicht den geänderten Stellenwert direkter Rede. Damals breiteten sich direkte und indirekte Rede gemeinsam aus. Es zeichnete sich sogar eine wachsende Dominanz indirekter Rede ab.

Da mit dem 18. Jahrhundert die schablonisierte Expressivität der Rede und damit ihre monologisch-auktoriale Dimension in den Vordergrund rückt, verliert

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die indirekte Rede jede Bedeutung. Indirekte Rede will primär Inhalte wieder- geben. Mit dem 18. Jahrhundert wird diese Komponente aber von der lyrisch- musikalischen Form in den Hintergrund gedrängt.

Die lyrisierte, musikalische Figurenrede verlagert in der - bisher nur thematisch bestimmten - metaphorischen Rede den Schwerpunkt der Modellierung zum ersten Mal auf die Dialog f o r m . Die inhaltlich-metaphorische Rede wird in eine adäquate stilistische Form gekleidet. Die auktoriale Lyrisierung der Rede erreicht damit einen Höhepunkt.

Alte und neue Stoffe werden gleichermaßen von der “ P o e t i s i e r u n g ” (Rothe 1984:S.98) erfaßt. Diese Entwicklung in den Kontext einer bloßen An- gleichung an europäische Maßstäbe zu stellen (Rothe 1984:S.98), scheint freilich diskussionswürdig.

Wie in der ersten Dialogisierungswelle kommt auch jetzt der russischen Volksliteratur, diesmal jedoch mit ihren lyrischen Gattungen, eine grundlegende Katalysatorfunktion bei der Lyrisierung zu. Das Lied spielt im Rußland des 18.

Jahrhunderts eine ungleich wichtigere Rolle als in den westeuropäischen Literaturen. Es begründet die russische Liebeslyrik (Uspenskij 1985:S.142). Erst die Sprache und die Formen des r u s s i s c h e n Liedes ermöglichen die für das 18. Jahrhundert so wichtige Lyrisierung von Figuren- und Erzählerrede.

Lied und Musik dringen unmittelbar in die Figurenreden der Erzählungen ein.

Zahlreiche Repliken werden als “ Arien” gesungen. Die Synthese von Figuren- rede und Musik intensiviert den emotionalen Ausdruck.

Als Eleonora Aleksandrs Liebeswerben abweist, um ihn zu prüfen, fällt er liebeskrank vor ihr zu Boden (Russkie povesti pervoj treti XVIII veka 1965:S.218). Eleonora bereut, weint und verleiht ihren Gefühlen dabei in einer an Aleksandr gerichteten Arie Ausdruck.

Der gesprochene Dialog geht in einen intim-musikalischen über, wenn beide daraufhin ein wenig abseits an einem Tisch sitzen (Russkie povesti pervoj treti XVIII veka 1965:S.222):

И меж ду тем временем Александр пел арию тихо для того чтоб Елеонора одна слышала.

Und währenddessen sang Aleksandr leise eine Arie, damit sie allein Eleonora vernahm.

Eleonora ‘antwortet’ gleichfalls mit einer höchst umfangreichen Arie. Diese Form des gesungenen Dialogs erlaubt den Sprechern, sich lyrisch-monologisch auszu- drücken. Die Figurenkontexte vermögen sich dabei kaum wechselseitig zu durch- dringen.

Im musikalischen Dialog wird der lyrische Inhalt in eine adäquate Form gekleidet. Durch diesen Dialog hebt der Autor aber auch erzählerische Höhe- oder Wendepunkte hervor. Die kompositorische Funktion des Dialogs basiert

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damit nicht länger allein auf dessen Inhalt, sondem auch auf seiner lyrischen Struktur. Daraus erwachsen dem epischen Dialog in stilistischer Hinsicht neue Möglichkeiten der Opposition bzw. der Similarität mit dem rahmenden Erzähler- text.

Die Lyrisierung der Figurenreden führt aber nicht nur zur Entstehung neuer, spezifischer Merkmale des epischen Dialogs. Sie vermehrt auch nicht nur die poetischen Unterschiede zwischen epischem und dramatischem Dialog. Die Lyrisierung der Figurenreden nähert den epischen Dialog gerade auch jenem der in dieser Zeit so zahlreichen Versdramen an.

In keiner Epoche der russischen Literatur erfahren so viele literarische Stoffe und Texte gleichzeitig eine dramatische Bearbeitung. Den Arien der Povesti entsprechen dabei die “Lobgesänge” (“kanty”) der Dramen. Mit der Lyrisierung der Figurenreden werden epische und dramatische Gattungen einander in einer Weise angenähert, wie dies später kaum wieder der Fall sein sollte 54.

Die lyrisch-musikalische Gestaltung der Repliken beschränkt sich freilich nicht auf die Arien. Diese bilden - entgegen der von G.N. Moiseeva (1965a:S.114) geäußerten Ansicht - keineswegs einen ‘Fremdkörper’ wegen ihrer stilistischen Diskrepanz zu den übrigen Figuren- und Erzählerreden.

Gesungene und gesprochene Repliken lassen sich auf der Grundlage ihrer lyrischen Strukturiertheit meist gar nicht unterscheiden. Um dies zu veran- schaulichen, wird der folgende Dialog zwischen der sterbenden Eleonora und Aleksandr entgegen dem Original in einer dem Text angemessenen strophischen Form zitiert. Die Silbenzahl pro Verszeile stimmt dabei nicht zufällig genau mit jener der Arien derselben Erzählung überein (Russkie povesü pervoj treti XVIII

veka 1965:S.232-233):

"Токмо прошу В0С110МЯ11И, Александре, Елеонору бывшу, которая в верности умирает, как я слышу.

Послушай, любезнейший, не стонет ли земля!

Знаеш ли прямо, что Елеонора умирает кого для".

"Правда, недостоин естмь на красоту лица взирати, не токмо что во оправдание вам сказати (..)".

“Ich bitte dich nur, Aleksandr, erinnere dich später an Eleonora, die in Treue stirbt, wie ich höre.

Höre, mein Liebster, stöhnt nicht die Erde!

Du weißt genau, für wen Eleonora stirbt”.

“In Wahrheit, ich bin unwürdig, die Schönheit dieses Gesichtes anzusehen,

was ich dir nicht nur zu meiner Entschuldigung sage (..)”.

Die Lyrisierung von Figuren- und Erzählerrede unterstreicht die Expressivität, läßt aber jede Spontaneität vermissen. Den Grund dafür liefert die auktoriale Urheberschaft der Lyrisierung. Die in der vorangehenden Epoche bereits

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deformierte altrussische auktoriale Organisiertheit des Dialogs wird wieder- hergestellt. Der wesentliche Unterschied aber liegt darin, daß nicht mehr allein die Inhalte, sondern auch Stil und Form ihre Abhängigkeit vom Autor klar zu erkennen geben. Die schablonenhafte Lyrisierung der Dialoge bedeutet aber dennoch den eigentlichen Anfang des intimen Dialogs in Rußland. Dabei mag es als Paradox erscheinen, daß dieser von den poetischen Mitteln der altrussischen Literatur gekennzeichnet ist.