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Auktoriale Redeformen und gemischte direkte Rede (Redeinterferenzen)

II. Direkte Rede und Dialog als Abbild (11. Jahrhundert bis 1300)

3. Die Kommunikationsformen und ihre Ethopoetik

3.1. Auktoriale Redeformen und gemischte direkte Rede (Redeinterferenzen)

Die asymmetrische und hierarchische Struktur altrussischer Rede und Dialoge regelt auch die Beziehung zwischen Inhalt und Form des Wortzeichens. Alt- russische Rede verfolgt vorrangig “informative Ziele” (Eremin 1966:S.250). Die meist ausführlichen Darlegungen der Repräsentanten verschiedener Konfessionen zu ihren Bekenntnissen in der Nestorchronik dokumentieren dies (I:S.98-120).

In der Übersetzung darf deshalb auch der Ausdruck des Originals, das Wort- Zeichen (glagol) abgewandelt werden, wenn der hierarchisch übergeordnete Inhalt (razum) damit adäquat wiedergegeben wird (Mathauserová 1976:S.32).

Das “Was” der Rede rückt so sehr in den Vordergrund (Vološinov 1975:

S. 184), daß häufig nicht zu erkennen ist, ob die zitierte Replik nur Be-schreibung einer Einstellung, ob sie innerer oder tatsächlich artikulierter Monolog ist. Dies trifft im folgenden Beispiel für die erste Replik Jaroslavs zu, die er - im Unterschied zur folgenden - offensichtlich noch nicht dialogisch adressiert (I:

S .154-156):

Заутра же собравъ избытокъ новгородець, Ярославъ рече:

"О, люба моя дружина, юже вчера избихъ, a нынѣ б ы т а надобе". Утерлъ слезь, и рече имъ на вѣчи: "Отець мой умерлъ, а Святополкъ сѣдить Кыевѣ, избивая братью свою"2*

Am nächsten Tag, als Jaroslav die restlichen Novgoroder versam- melte, sagte er: “Oh, meine liebe Družina, die ich gestern abschlachten ließ, die sich mir doch jetzt als nötig erwies”. Er wischte die Tränen ab und wandte sich auf der Volksversammlung an sie: “Mein Vater ist gestorben, und Svjatopolk sitzt in Kiev und tötet seine Brüder”.

Nicht nur hier resultieren die Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von tat- sächlich geäußerter und innerer Rede vor allem aus der fehlenden Darstellung der Kommunikationssituation.

Trotz der für die altrussische Literatur insgesamt grundlegenden Inhalt-Form - Hierarchie wird diese im 14. Jahrhundert abgeschwächt. Der Redekommentar des Erzählers unterliegt parallelen Veränderungen.

Der frühe altmssische Erzähler beraubt die Figurenrede durch ihre unmittelbar vorausgehende oder - seltener - folgende Wertung der Autonomie. Die Rede- kommentare der altrussischen Literatur sind sehr viel eindeutiger und dog- matischer als jene der neueren Literatur: Den Griechen wird ‘verschlagenes

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Sprechen’ (“lestbju glagolja”, I:S.90) nachgesagt, Žiroslav wird sogleich als

“betrügerisch” (“lbstivyj”, UI:S.262) entlarvt.

Diese ideologische Einbindung direkter Rede dürfte aber erst mit dem Übergang zur schriftlichen, christlichen Literatur erfolgt sein. Zwar geht der Autor zu Beginn der Nestorchronik auch zu den Ränken und Lügen Olegs (I:S.38) und der heidnischen Ol’ga (I:S.42) auf Distanz, indem er sie nicht wörtlich zitiert, doch enthält er sich hier noch jeden Kommentars.

Nach der folgenden Phase einer expliziten Entlarvung der Sprecher gewinnt die Replik zunächst in der übersetzten Literatur und dann auch in original russischen Texten wieder an Autonomie. Das Paterikon vom Sinai enthält sich gewöhnlich des vorausgehenden und des an die Figurenrede anschließenden Urteils. Folgt in diesem Text die Wertung oft noch mit Verzögerung, so bleibt sie in der Melissa bereits völlig ausgeschlossen. Die Galizisch-WolhynischeChronik verzichtet schon weitgehend auf Redekommentare. Sie gesteht einem lakonischen Dialog wie dem folgenden zwischen Fürst Daniil, der einen Feldzug vorbereitet, und seinem Sohn Lev Autonomie zu (III:S.334):

"Никого с тобою нѣсть. Аэъ не ѣду с тобою". Рече ко- роль ему: "Буди тако". И идяше путемь своимъ.

“Niemand zieht mit dir. Ich reite nicht mit dir”. Der König sprach zu ihm: “Möge es so sein”. Und er ging seines Weges.

Die betonte Abgrenzung der autoritären direkten Rede aus ethisch-meta- physischen Gründen findet in der eigentlichen Redepoetik nur bedingt Widerhall.

Der Autor kommentiert nicht nur in Redeeinführungen, er gebraucht bisweilen schon Figuren als Kommentatoren oder Erzähler (I:S.36, III:S.30). Bei aller Isoliertheit altrussischer direkter Rede bestimmen dennoch Formen und Ver-

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fahren der Überlagerung von auktorialer und figuraler Perspektive die Poetik.

Erzähler- und Figurentext werden im Unterschied zur neurussischen Literatur weitgehend homogen gestaltet. Die Figur kann auf dieser Basis - wie Gleb in der Erzählung von Boris und Gleb (Lichačev 1967:S.140) - in meist langen, narrativen Repliken die Funktionen des Erzählers übernehmen. In den Anfängen werden fast ausschließlich die Äußerungen von Fürsten und Geistlichkeit wört- lieh zitiert. Deren Wortlaut und die bevorzugte Verwendung von “nepolnoglasie”- Formen (Kandaurova 1968:S.76,78) läßt sie gänzlich mit der Sprache des Erzählersübereinstimmen.

Alle Texte belegen die lexikalische, syntaktische und stilistische Abhängigkeit der Figurenreden von der Erzählerrede. Die Figurenreden nehmen häufig die Ausdrucksweise des Erzählers auf (III:S.186). Der Sprechende ist hier - ähnlich dem Epos (Bachtin 1975:S.147, dt.l979b:S.222) - nicht allein, aber doch vor- wiegend der Autor. Vor allem im 14. Jahrhundert erwächst der auktorial-figura- len Redehomogenität neben der sprachlich-inhaltlichen im ‘pletenie sloves’Walter Koschmal - 978-3-95479-645-8

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Das Wortflechten gestaltet Erzähler- und Figurenrede gleichermaßen um.

Die Verschmelzung von Erzähler- und Figurenrede führt zur Bildung von Rede- und Dialogtypen, die keine Entsprechung in der dargestellten Objektwelt haben. Sie machen den Kembereich altrussischer Redepoetik aus. In der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts entstehen Textinterferenzen wie die erlebte Rede auf der Grundlage der Differenziertheit von Erzähler- und Figuren- text ausschließlich im Rahmen der E r z ä h l e r r e d e . Die Textinterferenzen der altrussischen Literatur beschränken sich hingegen a l l e i n auf die d i r e к t e F i g u r e n r e d e . Es lassen sich v i e r T y p e n v o n M i s c h f o r m e n unterscheiden:

1. Die u n t e r g e o r d n e t e R e d e ersetzt, im Unterschied zur indirekten Rede, den der Einführung folgenden Bericht nach der Konjugation “daß” (jako, čto) durch direkte Rede (vgl. Grammatika 1979:S.434-438). Anders als die indirekte Rede behält die untergeordnete direkte Rede das Ich-System bei (I:

S.92):

И посла Блудъ къ Володимеру, сице глаголя, яко "Сбысться мысль твоя, яко приведу к тобѣ Ярополка, и пристрой убити й ".

Und Blud schickte zu Vladimir und sagte ihm, daß “dein Plan ist erfüllt (sein Plan erfüllt sei), daß ich Jaropolk zu dir bringe: Richte dich darauf ein, ihn zu töten”.

Wie mit der indirekten geht der Autor auch mit der untergeordneten Rede auf Distanz zum Gesagten.

2. Die k o l l e k t i v e oder r e p r ä s e n t a t i v e R e d e stellt eine Zusam- menfassung von Einzelrepliken dar, die in ihrer autonomen, ursprünglichen Struktur nicht mehr rekonstruiert werden können. Die kollektive Rede gibt das vom Autor gefilterte Wesentliche, das Resultat einer größeren Anzahl dia- logischer Reden in meist monologischer Form wieder, so zum Beispiel die Meinungen über Sergius von Radoneż (IV:S.288):

Сгарци ж е и прочии людие, видбвши таковое пребывание уноши, дивляхуся, глаголющи: "Что убо будет уноша съй, иже селику дару добродѣтели сподобилъ его богъ от дѣтства?"

Die alten Männer und die übrigen Leute, die eine solche Lebens- führung des Jünglings sahen, wunderten sich und sprachen: “Was wird dieser Jüngling werden, den Gott schon von Kindheit an mit solch großer Tugend beschenkt hat ?”

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Kollektive Rede deformiert also gewöhnlich nicht nur den Dialog, sie gleicht sich durch ihre relative Länge meist auch den narrativen Passagen an.

Eine eigene Variante der kollektiv-repräsentativen Rede bilden in der alt- russischen Literatur die so häufigen lakonischen Dialoge. In deren Knappheit wird der alles Nebensächliche aussparende Einfluß des Autors spürbar. In der Realität nahmen sie wohl kaum jene Form an, in die sie in der Galizisch-

Wolhynischen Chronik gekleidet werden (III.-S.398):

По отъѣзде ж е Кондратов* из Любомля, пригна Ярътакъ ляхъ и з Люблина. И повѣдаша Володимерови: "Ярътакъ приехалъ". И не вѣле ему перед ся, по рече княгини своей, иж е: "Роспроси его, с чимь приѣхалъ". Княгини ж е посла по нь. Он ж е приде вборзѣ. И нача вопрошати его:

"Князь ти молвить: с чимь есь приехалъ, повѣжь". Онъ ж е нача повѣдити: "Князь Льстко мертвъ".

Nach Kondrats Abreise aus Ljuboml’ sprengte der Pole Jartak aus Lublin daher. Und man berichtete Vladimir: “Jartak ist gekommen”.

Er befahl ihn nicht vor sich, sondern sprach zur Fürstin: “Forsche ihn aus, in welcher Sache er gekommen ist”. Die Fürstin schickte einen Boten nach ihm. Er kam sogleich. Und sie begann ihn zu befragen:

“Der Fürst läßt dir bestellen: Sprich, in welcher Sache du gekommen bist ?”. Er begann zu sprechen: “Fürst Lest’ko ist gestorben”.

3. Die p o t e n t i e l l e R e d e ist im Unterschied zu den beiden ersten Typen noch stärker auktorial verankert. Die Figur wird nur mehr als Urheber einer möglichen, jedoch nicht realisierten Rede vorgeschoben. Sie soll den auktorialen Wertstandpunkt ausdrücken, wie zum Beispiel der verstorbene Izjaslav in der Nestorchronik (I:S.215):

И сѣдящю ему пакы на столѣ своемь, Всеволоду пришедшю побѣжену к нему, не рече ему: "Колико от ваю прияхъ?" (..) Не рече 60 ему: "Колико зла створиста мнѣ, и се нон* T06t ся сключи", не рече: "Се кромѣ мене".

Und als er (Izjaslav- WK) auf seinem Thron saß und der besiegte Vsevolod zu ihm kam, sagte er ihm nicht: “Wieviel habe ich von dir erduldet ?” (..) Er sagte ihm auch nicht: “Wieviel Böses sie mir zugefügt haben, und da ist dir nun dasselbe widerfahren”, er sagte nicht: “Das geht mich nichts an”.

4. Die g e m i s c h t e d i r e k t e R e d e , die als altrussische Form von der gemischten Rede des 19. Jahrhunderts zu unterscheiden ist 26, kann ־ anders als die ersten drei Typen ־ allein aus dem Kontext der Figurenrede nicht mehr verstanden werden. Sie bedarf der Ergänzung durch die Erzählerrede. Hier bleibt die direkte Rede in der Umgebung des Er-Systems nicht mehr in ihrem Ich-Walter Koschmal - 978-3-95479-645-8

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System verankert, wie etwa noch die untergeordnete Rede. Die Deixis der Erzählerrede (Er-System) dringt vielmehr in jene der Figurenrede (Ich-System) ein. Die Beispiele sind zahlreich.

In der Erzählung von Evstafij Plakida (Skazanie ob Evstafìi Plakide 12Jh.) suchen zwei Knechte ihren Heerführer Plakida. Einer der beiden glaubt ihn zu erkennen (Ü:S.236):

P tcra ж е к себѣ едина: "Колми подобенъ есть мужь сей искомому нама". Рече же единъ къ другу своему: "Зѣло подобенъ к нему есть (..)".

Einer von den beiden sprach zu sich: “Wie ähnlich er dem Mann ist, den wir beide suchen”. Und er sprach zu seinem Freund:“Er ist ihm sehr ähnlich (..)”.

In der an den zweiten Knecht gerichteten Replik bleibt der Sprecher in der inneren Deixis befangen. Die vom ersten Knecht mit dem Pronomen “er” bezeichnete Person wird nur in der inneren Rede, nicht aber im Dialog näher bestimmt.

In den Sprüchen Salomos wird der szenische Charakter der Frage einer den Saal betretenden Figur durch die Unbestimmtheit des Erfragten im Kontext direkter Rede als Illusion entlarvt (IV:S.80):

"Кто есть он сий бояринъ?"

“Wer ist dieser Bojare ?”

In der vorangehenden Erzählerrede freilich wird dieser Mann erwähnt.

Da sich die altrussische direkte Rede wesentlich aus Mischformen rekrutiert, muß man davon ausgehen, daß die meisten wörtlich zitierten direkten Reden in der dargebotenen Form nicht gesprochen wurden und nicht sprechbar waren.

Die Textinterferenzen der altrussischen Literatur und die vier Mischformen direkter Rede bilden in der Evolution den Übergang von der anfänglichen Domi- nanz direkter Rede zur Herausbildung indirekter Rede. Funktional stehen die Mischformen der indirekten Rede zweifellos sehr nahe. Mit der Ausbreitung der indirekten Rede im russischen Redesystem des 14. und 15. Jahrhunderts gehen die Mischformen wieder verloren.

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