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Formen unbestimmter und zweideutiger Rede

IV. Vom Kult zur Kommunikation (1450-1700)

5. Dialogische Rätselrede und Ästhetisierung der Unbestimmtheit

5.3. Formen unbestimmter und zweideutiger Rede

Unbestimmter und zweideutiger Rede kommt in der Epoche von der Mitte des 15. bis zum 17.Jahrhundert wachsende Autorität zu. Im Rahmen dieser Evolution bilden sich bereits wichtige Formen unbestimmter und zweideutiger Rede heraus.

Zweideutige Rede ist durch den Kontrast, die О p p о s i t i о n , - im äußersten Fall - die Antithese von expliziter und impliziter Bedeutung charakterisiert. Die aus der altrussischen Literatur herrührende unbestimmte Rede bezeichnet nichts anderes als das eigentlich Gesagte, sondern d r ü c k t dieses nur и n b e - s t i m m t a u s . Zweideutige Rede ist durch Opposition, unbestimmte Rede durch A f f i r m a t i o n gekennzeichnet.

Die einstimmige, in ihrem Wesen monologische unbestimmte Rede realisiert sich vorwiegend in vier Formen:

1. Antwortverweigerung: Der Jurodivyj (Narr in Christo) Michail Klopskij beantwortet die an ihn gerichteten Fragen nicht, sondern wiederholt lediglich die gestellten Fragen. Diese Negation des Dialogs schließt jegliches Verstehen aus.

Doch läßt sich Michail Klopskij - ebensowenig wie andere Figuren - nicht auf diese eine Redeform der Unbestimmtheit beschränken.

2. Nicht-Zu-Ende-Sprechen: Diese Form ist vor allem für Pafnutij Borovskij typisch. Seine Worte gewinnen dadurch rätselhafte Züge, daß er anfängt, eine Erklärung zu geben, ohne sie zu Ende zu führen. Er zieht sich im Gespräch mit

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Innokentij lediglich darauf zurück, “andere unaufschiebbare Dinge” (“ino délo і т а т ъ neotložno” , V:S.480) erledigen zu müssen.

3. Abstrakte und paraphrasierende Rede: In dieser Form verallgemeinert und abstrahiert der Sprecher - vor allem Pafnutij Borovskij ־ das eigentlich Gemeinte so sehr, daß es den Dialogpartnern unverständlich bleibt. Nachdem Pafnutij seinen baldigen Tod bereits wiederholt angedeutet hatte, äußert er sich konkreter (V:S.506):

Братьи ж е мльчащи, старець ж е глаголаше о нѣкоем чело- вецѣ, яко умрети имать; нам ж е о семь недомыслящимся, мнѣхом, еда кто возвѣсти ему ? Азъ ж е вопросих его: "О комъ се глаголеши ? Мы нѣ вѣмы". Старець ж е рече: "О нем ж е вы глаголете, яко болить, а он, покаявся, умрети хотяше". Нам ж е сия вся недоумѣнна суть.

Die Brüder schwiegen, der Greis begann von einem gewissen Menschen zu sprechen, der bald sterben würde; wir begriffen nicht, wer das sein sollte und glaubten, jemand habe ihn davon in Kenntnis gesetzt? Ich fragte ihn: “Von wem sprichst du so? Wir wissen es nicht”. Der Greis sagte: “Von dem , von dem ihr sagt, daß er krank ist, doch er will, nachdem er bereut hat, sterben”. Uns blieb das alles unverständlich.

Pafnutijs komplizierte Ausdrucksweise nimmt einerseits fast spielerische Züge an, wirkt aber andererseits - aus realistischer Sicht - ebenso unwahrscheinlich wie das anhaltene Unverständnis bei seinen Dialogpartnern.

Innokentij zeigt sich fortwährend bemüht, Pafnutijs abstrakte Rede zu konkretisieren. Als Pafnutij erneut davon spricht, daß “jener Tag” gekommen sei, fragt ihn Innokentij (V:S.504):

A3 ж е въпросих и: "Государь Пафнотей! О коем дни глаголеши - "Се приде день"?" Старець ж е рече: "О том дни, о нем ж е преже глаголахъ вам". A3 ж е начах име- новати дни: "Неделя, или понедельникъ, или вторникъ?"

Старець же рече: "Сь день четверток, о нем ж е и преже рѣхъ вамъ". Нам ж е недоумѣющимся о семъ, понеже мно- га о себѣ назнаменаше кь отшествию, таже паки сокры- ваше, ничто ж е явлена о себѣ глаголаше.

Ich fragte ihn: “Mein Herr Pafnutij! Von welchem Tag sagst du:

“Jener Tag ist gekommen”?” Der Greis sprach: “Von jenem Tag, von dem ich auch früher zu euch gesprochen habe”. Ich begann die Tage aufzuzählen: “Sonntag oder Montag oder Dienstag?” Der Greis sagte:

“Jener Tag ist der Donnerstag, von ihm habe ich euch auch früher gesprochen”. Wir begriffen das nicht, denn vieles deutete auf sein Ableben hin, doch verbarg er das und sagte nichts bestimmt über sich.

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Das Verbergen der konkreten Bedeutung wird in dieser Passage direkt angesprochen.

In der Erzählung von Frol Skobeev schafft die verzögerte Konkretisierung unbestimmter Rede Spannung. Der Held sucht bei Nardin-Naščokin Verzeihung für die Entführung seiner Tochter , ohne daß ihn dieser kennt (Izbornik S.692- 693):

"Милостивой государь, столник первы, отпусти виновнаго, яко раба, которой возымел пред вами дерзновение!" (..)

"Кто ты таков, скажи о себе, что твоя нужда к нам ?" И Фрол Скобеев толко говорит: "Отпусти вину мою!"

“Gnädiger Herr, erster Tischaufseher, vergib einem Schuldigen wie einem Sklaven, der sich ihnen gegenüber vermessen betragen hat!” (..)

“Wer bist du, sprich von dir, was ist dein Anliegen an uns?” Doch Frol Skobeev sagte nur : “Vergib mir meine Schuld!”

4. Monologische metaphorische Rede: Die metaphorische Rede der frühen altrussischen Literatur ist nicht intentional. Sie zielt nicht auf einen Adressaten ab.

Beim Dialog in bildlicher Rede bereitet dem Sprechpartner das Verstehen der Bilder keine Schwierigkeiten. Die metaphorische Rede dieser Epoche zeigt sich dagegen nicht nur in den Dialog integriert. Sie wird für den Dialogpartner auch häufigunverständlich.

A uf die Frage nach einem “Menschen männlichen Geschlechts” antwortet Fevronija in Bildern, die dem Boten des Fürsten Rätsel bleiben (Izbornik S.456):

"Отець мой и мати моя поидоша взаим плакати, брат ж е мой иде чрез ноги в нави зрети".

“Mein Vater und meine Mutter sind gegangen um auf Borg zu weinen, mein Bruder geht, um zwischen den Beinen hindurch ins Jenseits zu schauen”.

Kein Code existiert, um diese oder ähnliche subjektive Rätselbilder zu entschlüsseln. Dennoch dürfte ihre Nähe zum volksliterarischen Code unzweifel- haft sein. Deutlicher wird die Anspielung - hier auf die Formel der Hochzeitslyrik -, wenn Ksenija in der Erzählung vom Otročij- Kloster in Tver’ ihren Bräutigam als “ungeladenen Gast” (“gost’ nezvannoj”) (Izbornik S.678) ankündigt.

Die der Volksliteratur verwandte metaphorische Rede bleibt vor allem in dieser schriftsprachlich geprägten Epoche im Monologischen verhaftet. Damit wird jene Entwicklung der zweiten Stilformation der altrussischen Literatur и m g e ־ k e h r t , in der die rein buchsprachliche Bildlichkeit jene der Volks-literatur zunehmend ausschloß. Die metaphorische Rede bleibt in der Literatur zwischen

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1450 und 1700 nur so lange monologisch, bis sich volksliterarische une schriftsprachliche Literaturtradition annähern.

Die metaphorische Rede wird in Evolution und Poetik zum Bindegliec zwischen unbestimmter und zweideutiger Rede.

1 .Dialogische metaphorische Rede: Der Fürst Dmitrij Jur’evič versteht Michail Klopskijs bildliche Replik (V:S.344),

"Княже, досягнеши трилакотнаго гроба!"

“Fürst, du wirst eine drei Ellen tiefe Gruft bekommen!”,

deshalb nicht, weil sie als Prophezeiung im Kontext altrussischer Ethopoetik unverständlich bleiben m u ß . Anders als bei den Reden Fevronijas könnte dei Rezipient die Aussage als Ankündigung des Todes konkretisieren. Auch in dei interfiguralen Kommunikation werden solche Repliken in ihrer dem byt ent- stammenden Bildlichkeit verstehbar.

2. Schmeichlerische Rede: In der Erzählung von Petr und Fevronija aut Murom wird diese Form vorwiegend berichtet, als die Frau des Fürsten Pavel von dem Drachen, der sie wiederholt heimsucht, das Datum seines Todes ir Erfahrung zu bringen sucht (Izbomik S.455).

3. Rede mit doppelter Referenz: Als Drakula türkische Gesandte aufsucher und ihre Kopfbedeckung bei der Begrüßung nicht abnehmen, entschuldigen sie diese “Beleidigung” mit dem Hinweis auf ihre Landessitten. Die objektive une wörtliche Bedeutung der Reaktion Drakulas scheint dies zu akzeptieren (V S.554):

"И азъ хощу вашего закона потвердити, да крѣпко сто- ите ".

“Auch ich will euer Gesetz bekräftigen, damit es streng eingehalten wird”.

Unmittelbar darauf läßt er jedoch den Gesandten die Mützen mit Nägeln am Kopl festschlagen.

In der Erzählung von Savva Grudcyn stellt sich der Teufel seinem Opfer ali

“Zarensohn” vor und zeigt ihm von einem Hügel aus das Reich seines Vaters Savva kann die objektiv-konkrete Referenz des weltlichen Königreichs von de!

subjektiv-dämonischen des Reichs der Hölle nicht unterscheiden.

Doch bezieht der Erzähler den an Savva gerichteten Vorwurf des “Un- Verstands” (“bezumie”) nicht auf die Zweideutigkeit der Rede. Auch er bleibt irr Konkreten befangen: Savva hätte wissen müssen, daß kein Reich so nahe beirr Moskauer Staat liegt.

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