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Zwei Dialogtypen figural-auktorial und auktorial

V. Auktoriale Dialogisierung (erste Hälfte des 18. Jahrhunderts)

5. Zwei Dialogtypen figural-auktorial und auktorial

Die zweite Welle der Dialogisierung unterscheidet sich grundlegend von der im 15. Jahrhundert einsetzenden ersten. Die damalige sprachlich-stilistische und inhaltlich-ideologische Individualisierung der Figurenreden geht jetzt verloren.

Die Helden werden äußerlich wie sprachlich kaum individualisiert (Moiseeva 1965d:S.174-175, Vološinov 1975:S.189). Ihre wechselseitige Abgrenzung, aber auch jene vom Autor bzw. Erzähler, entbehrt weitestgehend einer künstlerisch überzeugenden Motivation.

Dieser Mangel wird aber gerade dadurch überdeckt und kompensiert, daß die Grenzen zwischen Figuren- und Erzählerrede so scharf gezogen werden wie in kaum einer anderen Epoche der literarischen Evolution 56. Die auktoriale Struktur der betont figuráién Repliken läßt sich dadurch freilich nicht verbergen.

In der mechanischen Umsetzung narrativ-auktorialer poetischer Elemente in dialogisch-figurale liegt eine grundlegende Schwäche der Erzählungen und Dramen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die dargestellte Welt wird einfach in eine darstellende, sprechende umgewandelt, ohne daß die nötigen poetischen Transformationen vorgenommen würden.

Dmitrij Rostovskij (eigentlich: Tuptało) verwandelt in seinem ‘Schauspiel von der Entschlafung Mariens’ (Uspenskaja drama ) die ursprüngliche Erzähler- instanz durch bloße Umbenennung in eine Figur. Die Repliken des Sprecherpols Vest’ (wörtlich: Nachricht) des ersten Akts (I, 2) (Russkaja dramaturgija 1972:S.178-181) sind sprachlich und inhaltlich völlig identisch mit jenen des Erzählers der epischen Vorlage für das Drama.

Mit derselben Unbedenklichkeit werden O b j e k t e der dargestellten Welt wie Torschlüssel (“vratam ključ”), Schiffsanker (“kotva korablju”) oder der Helm Mariens (“šiem Marii”) (Russkaja dramaturgija 1972:S.216-219) zu S u b - j e k t e n . Als solche sprechen die Gegenstände über sich selbst. Damit geht die

narrative Funktion vom Erzähler auf die Gegenstände über. Das Ergebnis bildet freilich eine große Zahl von Figuren, die eine dramatische Bearbeitung nahelegt.

In diesem Zusammenhang läßt sich auch der plötzliche Zuwachs an Neben- figuren erklären. Auch sie figurieren zunächst nur als Projektionen des äußeren Kommunikationssystems in das innere. Wenn in einem Schuldrama dieser Periode der Held sein Leben erzählt, wendet er sich gleichsam an das Publikum und an zweitrangige Nebenfiguren (Sofronova 1981 :S. 137). Diese vertreten die Zuschauer auf der Bühne und erweitern so die Figurenkonfiguration. Sie agieren zunächst als bloße Marionetten des Autors.

Ihre hierarchische Unterordnung, die eine Wiedergabe ihrer Äußerungen in der frühen altrussischen Literatur fast nur in indirekten Redeformen zuließ, wird nach und nach aufgehoben. Nebenfiguren werden in Epik und Dramatik des 18.

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hunderts so häufig wie nie zuvor wörtlich zitiert. Den Hauptfiguren stehen sie darin nicht mehr nach.

In jener der altrussischen Poetik stärker verpflichteten Erzählung von Savva Grudcyn werden nur zehn, in der Erzählung von Frol Skobeev bereits fiinfund- zwanzig Repliken von Nebenfiguren gesprochen. Dabei ist der erstere Text erheblich länger als letzterer. In der Erzählung von Savva Grudcyn werden die Hauptfiguren viermal so häufig wörtlich zitiert als die Nebenfiguren, in der Erzählung von Frol Sobeev nur mehr eineinhalb mal so oft. In der Erzählung vom rossischen Kavalier Aleksandr werden der Held und die Dienerin Assilija bereits völlig gleichberechtigt direkt zitiert.

Der Unterschied liegt nunmehr in der Art und Weise der dialogischen Bezugnahme bzw. in der Dialogform. Gespräche mit Nebenfiguren werden in der Regel eindeutig geführt. Die Dialoge zwischen den Helden sind dagegen häufig metaphorisch verschlüsselt. Diesen Unterschieden kann aber bereits allein auf der dialogischen Ebene Ausdruck verliehen werden. Der Dialog erfährt also ins- gesamt eine quantitative Ausweitung, die keineswegs auch eine ästhetische Be- reicherung bedeutet. Die Verlagerung der Redegestaltung vom Autor auf eine große Zahl von Figuren und die betonte Diskretheit der Repliken nähert aber die Erzählungen der dramatischen Gattung an.

Doch können wir für die erzählende Literatur der ersten Hälfte des 18.

Jahrhunderts nicht nur von dem einen diskreten, f i g u r a l - a u k t o r i a l e n Dialogtypus ausgehen. Mit ihm koexistiert ein rein a u k t o r i a l e r Typus, der sich vom ersteren darin abhebt, daß die Sprechautonomie und Diskretheit der Äußerung in ihm unmarkiert bleiben. Der für diese Periode innovative Typus ist der figural-auktoriale. Seine Evolution begünstigt die Entwicklung des Dramas und des dramatischen Dialogs.

In der Erzählung vom rossischen Kavalier Aleksandr dominiert in der eigent- liehen Geschichte der figural-auktoriale Dialog, in Vladimirs narrativer Replik hingegen der auktoriale Dialog (Russkie povesti pervoj treti XVIII veka 1965:S.239-241). Als Vladimir seine Geliebte Anna aufsucht, vergewissert er sich - gemäß seiner Erzählung ־ zunächst bei ihr, ob ihr Ehemann auch tatsächlich außer Hause sei.

"Дома ли муж ?" Она же отвешала: "Нет дома, а куды по- ехал, 11е знаю".

“Ist dein Mann zu Hause?” Sie antwortete: “Er ist nicht zu Hause, doch wohin er gefahren ist, das weiß ich nicht”.

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Um Mitternacht jedoch klopft es an der Tür, und eine Stimme ruft:

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"Отвори!" Я тот час с постели скочил, бросился и спро- сил: "Не м уж ли твой пришел ?" Она сказала, что муж , и велела быть мне осторожну

“Mach auf!” Ich sprang sofort aus dem Bett, stürzte davon und fragte:

“Ist da nicht dein Mann gekommen?” Sie sagte, es sei ihr Mann und sie gebot mir vorsichtig zu sein

Dieser lakonische Dialog zeichnet sich durch schnelle, spannungsgeladene Replikenwechsel aus. Die Autonomie der Sprecher und die Diskretheit der Repliken bleiben unmarkiert. Sie werden vielmehr in die Erzählung, in die Erzählerrede und in die indirekten Formen ihrer Wiedergabe integriert. Während dieser f l i e ß e n d e Ü b e r g a n g von der Figuren- zur Erzählerrede kennzeichnend für den rein auktorialen Dialog ist, zeigt der diskrete figurai- auktoriale Dialog eher die Tendenz, eine O p p o s i t i o n zur Erzählerrede aufzubauen.

Der poetische Stellenwert des figural-auktorialen Dialogs läßt sich an der Verteilung von direkten Reden ( A) und indirekten Wiedergabeformen (B) (indirekte Rede, Dialogbericht ) in den Povesti veranschaulichen. Aus diesem Vergleich ergibt sich eine Gruppe mit figural-auktorial (I) und eine Gruppe mit auktorialen (II) Dialogen:

I

Povest’ о Frole Skobeeve

Povest’ о russk. kav. Aleksandre Istorija о nekoem fr. šljachtiče Povest’о Vasiliizlatovlasom

II

Povest’ о Savve Grudcyne Povest’о r. matrose Vasilii

Povest’о Tverskom ot. monastyre Povest’ о šljachetckom syne

A В Quotient

63 46 1,36

43 26 1,65

81 57 1,42

103 25 4,12

48 47 1,02

69 82 0, 84

19 35 0, 54

54 76 0,71

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С D Qotient

30 13 2, 30

67 14 4,78

81 22 3, 68

34 35 0,97

2 17 0, 12

25 29 0, 89

Zu derselben Zweiteilung der Povesti führt der Vergleich der vom Autor als dialogisch (C) und der als monologisch (D) wiedergegebenen direkten Reden57:

I

Povest' о Tussk. kav. A leks andre Istori ja о nekoem fr. šljachtiče Povest’0 Vasilii zlatovlasom

II

Povest ’ о r. matrose Vasilii

Povest’о Tverskom ot. monastyre Povest’ о šljachetskom syne

Die erste Dialogisierungswelle der russischen Literatur vom späten 15. bis zum 17. Jahrhundert ließ ־ als Reaktion auf die altrussische Ethopoetik ־ individuelle Sprecher und Figuren entstehen. In der einen Gruppe (II) der Povesti des 18. Jahrhunderts wird daran äußerlich angeknüpft. Doch bleibt den Erzählungen dieser Periode insgesamt jede individuell-figurale Rede fremd.

Dennoch begründet diese Textgruppe eine kontinuierliche Linie, an die nach der Mitte des 18. Jahrhunderts ־ so etwa im Ich-Roman - wieder verstärkt angeknüpft wird.

Der figural-auktoriale Dialog (I) mit seiner scharfen Abgrenzung direkter Rede darf als die eigentliche, ästhetisch wenig überzeugende poetische Errungenschaft der Povesti gelten. Er begründet in dieser Phase der literarischen Entwicklung eine konkurrierende dialogische Tradition. Sie steht dem dramatischen Dialog und dem Drama nahe, führt wohl überhaupt erst zu ihrer Entstehung in Rußland.

Diese Evolutionslinie setzt sich in theatralischen Romanen und im Roman der Aufklärung (z.B. Ivan Krylov) in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts fort.

Vermögen die Povesti der ersten Jahrzehnte des 18.Jahrhunderts ästhetisch auch nur selten zu überzeugen, so kommt ihnen doch eine grundlegende Brücken- funktion beim Übergang zur neurussischen Poetik zu. In den beiden Dialogtypen, dem figural-auktorialen und dem auktorialen, vereinen sie die einander ur- sprünglich polemisch entgegengesetzten Poetiken der altrussischen Zeit und der mehr als zweihundertjährigen Umbruchphase. Auf der Grundlage dieser Syn- these kann sich die neurussische Dialogpoetik herausbilden.

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VI. Anfänge der Pragmatisierung und Spezifizierung des epischen