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Expressiv-monologische R ede

III. Deformation des Dialogs und Ästhetisiemng der Rede (1300 -1450)

1. Expressiv-monologische R ede

Die in der Zeit von etwa 1300 bis zur Mitte des 15 Jahrhunderts gültige Rede- poetik der literarischen Texte folgt in vielem den skizzierten Grundlinien. Doch zeichnen sich zudem so einschneidende Neuerungen ab, daß diese eine eigene Stilformation begründen. Die wesentlichen Voraussetzungen für ihre Evolution werden durch die endgültige Überwindung der oralen Kultur und eine weit- gehende Abschwächung der in der früheren Literatur wirksamen metaphysisch- ethischen Restriktionen geschaffen.

Die Dialogstrukturen geben nunmehr ein völlig verändertes Bild ab. Zwei- deutige Reden und Dialoge sind den neuen Texten fast völlig fremd. Ihr Fehlen fallt besonders in den bislang durch direkte Rede gestalteten Situationen auf. Stellt Abt Antonij Feodosij durch zweideutige Rede noch vor seinem Eintritt ins Kloster auf die Probe (I:S.316), so geht in der Vita des Sergius von Radonéi der Abt ,ohne zu zögern’ in die Kirche, um Sergius ins Kloster aufzunehmen (IV:S.300). In der Erzählung von der Reise Joanns von Novgorod auf einem Teufel (Povest’ о putešestvii Ioanna Novgorodskogo na bese 1. Hälfte 15.Jh.) sucht der Teufel nicht einmal mehr Zuflucht bei der Lüge, sondem er beichtet sogleich (IV:S.454):

"Азъ есмь бѣсъ лукавый (..)".

“Ich bin der verschlagene Teufel (..)”.

Ol’gas Begrüßung der Mörder ihres Mannes als “liebe Gäste” (I:S.70) stellt sich dem Leser schon bald als Zweideutigkeit dar. In der Erzählung von dei blutigen Schlacht gegen Mamaj bedient sich Fürst Dmitrij derselben Formel, frei- lieh ohne zu werten. Er bereitet seine Soldaten auf den Kampf gegen die Tataren mit den Worten vor (IV:S.166):

" (..) уже 60 гости наши приближаются (..)".

“ (..) denn unsere Gäste kommen schon näher (..) ”.

Mit der Deformation zweideutiger Rede reduziert sich auch die Quantität dei Dialoge beträchtlich. Wechselreden laufen Dialogen bezüglich ihrer Häufigkeil den Rang ab. Die Chronikerzählung über die Schlacht auf dem Schnepfenfelc (Povest’ о Kulikovskoj bitve 14./15.Jh.) kennt im Grunde nur monologische Äußerungen. Auch in der Erzählung von der blutigen Schlacht gegen Mamą; überwiegen sie. In zahlreichen anderen Texten - wie in der Walter Koschmal - 978-3-95479-645-8Erzählung über der

Timur Aksak (Povest’ о Ternir Aksake zwischen 1402 und 1408) oder in der Erzählung über den A ngriff Edigejs (Skazanie о našestvii Edigeja um 1413) - vermißt man jeglichen Dialog.

Spannungsvoller Kontrast und Opposition werden gegenüber der vorange- henden Epoche nicht nur mit der Deformation des zweideutigen, sondern auch des antithetischen Dialogs eingebüßt. Der Antithese ideologischer Positio-nen weicht die Modellierung ihrer S i m i 1 a r i t ä t und I d e n t i t ä t . I n der Zadonščina (1380-1390) fordert Andrej OFgerdovič seinen Bruder Dmitrij zum Kampf gegen die Tataren auf (IV:S. 100):

"(..) Збѣрем, брате, милые пановя удалые Литвы, храбрых удальцов, а сами сядем на свои борзи комони и посмо- трим быстрого Дону, испиемь шеломом воды, испытаем мечев своих литовских о шеломы татарские, а сулицъ не- мецких о боеданы бусорманские!"

И рече ему Дмитрей: "Брате Андрѣй, не пощадим живота своего за землю за Рускую и за вѣру крестьяньскую и за обиду великаго князя Дмитрея Ивановича! (..) Сѣдлай, брате Андрѣй, свои борзи комони, а мои готови - напреди твоих осѣдлани (..)".

“(..) Sammeln wir, Bruder, die freundlichen Pans des kühnen Litauen, die tapferen Waghälse, setzen wir uns selbst auf unsere schnellen Pferde und schauen wir auf den rasch fließenden Don, stillen wir aus ihm unseren Durst mit einem Helm voll Wasser, erproben wir unsere litauischen Schwerter an den tatarischen Helmen und die deutschen Wurfspieße an den muselmännischen Ringpanzern!”

Dmitrij sagte ihm: “Bruder Andrej, schone dein Leben nicht für das russische Land und für den christlichen Glauben und fUr die Beleidigung des Großfürsten Dmitrij Ivanovič! (..) Bruder Andrej, sattle deine schnellen Pferde, meine stehen schon bereit, früher als die deinen gesattelt (..)”.

Die dialogische Form soll hier nicht die Antithese, sondern die Identität beider Haltungen unterstreichen.

Die E i n s t i m m i g k e i t der Reden fungiert nicht nur als politisches Ziel sondem auch als poetisches Merkmal, insbesondere in der Erzählung von der blutigen Schlacht gegen Mamaj (IV:S.164):

(..) вси 60 равнодушьни, единъ за единого, другъ за друга хощеть умрети, и вси единогласно глаголюще (..).

(..) denn alle sind einmütig, der eine will für den einen, der andere für den anderen sterben, und alle sprechen einstimmig (..).

Anders als noch der Mönch Isakij aus der Nestorchronik tritt Sergius von Radonež mit dem Teufel in keinen Dialog mehr (IV.-S.308): Er wendet sich

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mehr im monologischen Gebet von ihm ab. Antithesen werden entweder ignoriert oder Extrempositionen einander angenähert. Sergius formuliert diese Notwendig- keit der Synthese seinen Brüdern (IV:S.326):

"Яко мои глаголи не съгласую т вашим словесем, поне ж е вы убо излиш е принужаете мя на игуменьство, азъ ж е излиш е отрицаюся

“Meine Worte stimmen mit euren Worten nicht überein, weil ihr mich über die Maßen drängt Abt zu werden, und ich das über die Maßen ablehne(..)”.

Die Verschiebung von der antithetischen zu jener durch Similarität der Partner gekennzeichneten Dialogstruktur wird erst dadurch möglich, daß die Dichotomie von oral und chirographisch verankerten Reden durch die Deformation ersterer aufgehoben wird. Allein schriftsprachliche Merkmale prägen nunmehr die Reden.

Die oral knappen Alltagsdialoge werden sehr selten. Sprecher, die in der Etho- poetik der frühen Texte diesen oralen Redestrang repräsentieren, lassen sich durch die Differenzqualität ihrer Rede nicht mehr identifizieren. Vor allem die un- gewohnte Länge der Repliken jener Teufel, die Sergius zu verführen trachten (IV:S.308), gleicht deren Äußerungen den übrigen chirographisch geprägten Repliken an.

Botschaften werden nicht mehr als Reden sondern als Schriftstücke (gramoty) (IV:S.134) zitiert. Bibelstellen und Auszüge aus anderen Texten sind nicht mehr als mündliche (“reče” (“sagte er”)) sondern als schriftliche Äußerungen (“estb pisano” (“es ist geschrieben”)) (IV:S.122) ausgewiesen. Selbst der Segen des heiligen Sergius für Dmitrij Donskojs Schlacht gegen die Tataren wird als Schriftstück abgefaßt (IV:S.l 18).

Nach der Überwindung oral verankerter Rede fließen Schriftlichkeit und Heilige Schrift zu einer Einheit zusammen. Auch die erwähnten Reden der Teufel lassen sich darin integrieren. Der heilige Sergius bittet einen alten Mann, der

‘einem Engel gleicht’, ihm die Kenntnis der Schrift zu vermitteln (IV:S.280):

"Възлюби душа моя въжелѣти паче всего умѣти грамоту сию, еж е и вданъ бых учитися (..)".

“Meine Seele begehrt am meisten die Schrift zu kennen, die zu lernen ich weggegeben wurde (..)”.

Der Fremde reicht Sergius eine Hostie, kraft derer er nicht nur die Fähigkeit des Lesens erlangt, sondern auch die Heilige Schrift verstehen lernt (IV:S.280):

" (..) Приими сие и снЪжь, се тебѣ дается знамение благо- дати бож иа и разума С вятого писаниа (..)".

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Nimm dies und iß es, das wird dir das Zeichen göttlicher Gnade verleihen und das Verstehen der Heiligen Schrift (..)”•

Die explizit auf die Mündlichkeit der Rede bezogene folgende Prophezeiung Jeremias wird durch Sergijs Vita in dieser Epoche nicht zufällig auf Schriftlich- keit hin umgeschrieben (IV:S.282):

И сбысться пророчьство премудраго пророка Иеремѣя, глаголю щ а: "Тако глаголеть господь: "Се дах словеса моя въ уста твоя"."

Und es erfüllte sich die Prophezeiung des weisen Propheten Jeremia, der sagt: “So spricht der Herr: “Da legte ich meine Worte in deinen Mund”.״

Der himmlische Helfer Sergijs legt dem Heiligen mit der Hostie nicht Worte in den Mund sondern die Fähigkeit zu lesen und die Kenntnis des Buches der Heiligen Schrift. Durch den Verlust der oralen Redemerkmale hebt sich der monologische Charakter der Äußerungen nicht klarer ab. Die zahlreichen Ausrufe (IV:S.182), Gebete, Lobeshymnen und Totenklagen (plač) verleihen der Schrift- spräche expressive und pathetische Züge. Die häufig eingestreuten um-fangrei- chen Totenklagen thematisieren bisweilen ihre Monologizität als schmerz-liches Ende des Dialogs, so in der Erzählung von der Vita des Großfürsten Dmitrij Ivanovič (rV:S.218):

" (..) Чему, господине мой милый, не възриш и на мя, чему не промолвиши ко мнѣ, чему не обратиш ися ко мнѣ на одрѣ своемъ? (..)".

“(..) Warum, mein lieber Herr, siehst du mich nicht an, warum sagst du nichts zu mir, warum wendest du dich auf deinem Totenbett mir nicht zu ?

Der expressive schriftsprachliche Monolog der Figurenrede findet sich damit in harmonischem Einklang mit der ־ wie in der Zadonščina - lyrisch-pathetischen Erzählerrede (IV:S.96), die ihrerseits Zitat aus Slovoopolku Igoreve ist:

(..) начата повѣдати иными словесы (..) anfangen mit anderen Worten zu erzählen

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