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Die kompositorische Funktion des epischen Dialogs

IV. Vom Kult zur Kommunikation (1450-1700)

6. Dialog und Handlung

6.1. Die kompositorische Funktion des epischen Dialogs

Dank der zweideutigen Rede und anderer poetischer Innovationen wächst die Bedeutung und somit auch die Quantität des Dialogs nachhaltig. Zahlreiche Texte bestehen fast ausschließlich aus Dialogen. Damit kommt aber dem Dialog in einem bis dahin nicht gekannten Maße auch die Aufgabe zu, die Fabel bzw.

Handlung des Textes zu konstituieren.

Diese Neuerung macht den Dialog zu einem u n v e r z i c h t b a r e n Bestandteil des Werkes: Seine Deformation bedeutet von nun an auch jene der Fabel und damit des gesamten Textes. Nicht zufällig unterliegen die Dialoge in den verschiedenen Fassungen der Erzählung von Petr und Fevronija aus Murom den geringsten Veränderungen. Die Dialoge der volksliterarischen Bylinen- gattung sind nicht weniger stabil46.

Bereits im Paterikon des Kiever Höhlenklosters werden einzelne Anekdoten über die Mönche in ihren entscheidenden Phasen dialogisch gestaltet. Anders als etwa in den dialogisch modellierten Episoden der Drakula-Erzählung erstrecken sich die wörtlichen Reden aber nur über den narrativen Höhepunkt. Jetzt werden dagegen ganze Anekdoten als Dialoge dargeboten. Zwischen den Repliken ent- steht zudem eine Spannung, die einzelne Erzählersequenzen miteinanderverflicht.

Die dialogisch entworfenen Episoden gewinnen damit einen autonomen Status.

Das bedeutet einerseits, daß sie sich aus dem erzählerischen Rahmen - zum Beispiel aus einem Paterikon, einer Chronik oder einer Vita - lösen und verselbstständigen können (Mathauserová 1976:S.128). Zum anderen fügen sich solche autonomen Dialogepisoden aber auch zu anekdotisch strukturierten Erzählungen (povesti) wie zu jenen über Drakula oder Fevronija. Selbst die auf nicht-russischen Vorbildern basierende Erzählung vom Zecher, wie er ins Paradies kom mt verrät primär diese Struktur und nicht jene der Novelle.

Die neue handlungskonstitutive Funktion des Dialogs ist sowohl eine mittelbare als auch eine unmittelbare. Zum einen werden Dialog und Handlung so aufeinander bezogen, daß sie sich wechselseitig bedingen. Zum anderen wird die Replik selbst zur Sprechhandlung.

Der Kaufmann Basarga verrät seinem Sohn Borzosmysl nicht, daß die vom König aufgegebenen Rätsel ihren Tod bedeuten könnten. Das Kind hält ihm die Folgen dieser Dialogverweigerung vor Augen (V:S.570):

"Аще не поведаешь, ־ самъ от царя смерть наведешь и меня погубишь!"

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“Wenn du es mir nicht sagst, wirst du selbst vom König den Tod erleiden und richtest du auch mich zugrunde!”

Schafft das offene Sprechen des Vaters hier die Voraussetzung für das Lösen der Rätsel durch den Sohn, so weiß auch der Fürst in der Erzählung von Petr und Fevronija aus Murom zunächst nicht, wie er den dämonischen Drachen töten kann, der die Fürstin heimsucht. Erst deren List, ihre zweideutige Dialogführung schafft die Möglichkeit, den Teufel zu töten.

Zweideutige Rede und Rätseldialoge tragen - anders als die Dialog-verwei- gerung Michail Klopskijs - bereits Handlungscharakter. Mit ihrer Evo-lution geht jene der neuen handlungskonstitutiven Funktion einher. Vom russischen Heiligen wird nicht mehr Demut in seinen Handlungen verlangt. Er muß vielmehr

“demütig in seinen Antworten” (“smiren vo otvétech”, VI:S.634) sein. Das Sprechverhalten der Figuren bestimmt wesentlich ihr Schicksal.

Fürst Petr ‘prüft Fevronija in ihren Antworten’ (“Devicu že chotja vo otvetech iskusiti”, Izbornik S.458), um sich über ihre Eignung zur Fürstin und Gattin klar zu werden. Frol Skobeev erpreßt Lovčikov mit der Drohung, er werde Nardin- Naščokin, Annuškas Vater, von seiner Mithilfe bei der Entführung berichten, wenn er sich bei diesem nicht als Fürsprecher für ihn verwenden sollte (Izbornik S.692).

Die Figuren verfolgen über kurze Zeiträume hin erstmals Rede- und D i a - l o g s t r a t e g i e n . d i e etwa bei dem Teufel, der Savva aus der Stadt lockt, weil dessen Vater ihn zur Rückkehr bewegen will (Izbornik S.617), in umfassende Handlungsstrategien eingebettet sind. Mit der strategischen Bedeu-tung der Rede bleibt nicht länger die satisfaktive, sondem wird nunmehr die initiative Sprechhandlung dominant.

Die Realisierung von Dialogstrategien schafft eine wichtige Voraussetzung für die dialogische Entwicklung von Intrigen und damit für die Entstehung des Konflikts. In Stephanites und Ichnelates (Stefanii i Ichnilat Ende 15. bis Mitte 16.Jh.) intrigiert Ichnelates beim Löwen energisch gegen den Ochsen. Durch listiges und falsches Sprechen betreibt er seine egoistischen Interessen (VI:

S. 170):

Левъ ж е рече: "Разумѣх притчю твою, но мнит ми ся, яко нЪсть льсти никоеа въ Телци, зане никое зло пострадал есть от мене". Хпилат ж е рече: "Зане нѣсть никое зло от тебе, того дѣля на тя лукавьствует (..)". Левъ ж е рече:

"Благоумне глаголеш и, аще и сверѣпе (..)".

Der Löwe sprach: “Ich habe dein Gleichnis verstanden, doch scheint mir, daß der Ochse frei von jeder List ist, denn er hat von mir niemals Böses erfahren”. Ichnelates entgegnete: “Gerade weil er nichts Böses von dir erfahren hat, schmiedet er Ränke gegen dich (..) ”. Der Löwe sagte: “Du sprichst klug, wenn auch grausam (..)”.

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Die textintern bestimmte und damit ästhetisch fundierte Autorität des wört- liehen Redezitats erwächst vor allem aus seiner Nähe zur Handlung. Doch werden nicht nur jene Repliken wörtlich zitiert, die als Sprechhandlung die Fabel konstituieren. Einzelne Etappen in der Handlung werden durch direkte Rede auch besonders hervorgehoben. Die direkte Rede strukturiert damit den Text. Diese kompositorische Funktion ist dem Drama fremd. Sie kann bereits als Spezifikum des epischen Dialogs gelten.

Als Frol Skobeev vom Land nach Moskau übersiedelt, um seiner geliebten AnnuSka zu folgen, wird dieser Einschnitt in der Fabel durch eine ausführliche Replik Frols an seine Schwester markiert, der lediglich die Rolle einer Nebenfigur zukommt (Izbomik S.689).

Die Dialoge leiten nicht nur neue Fabelsequenzen ein und schließen andere ab.

Vor allem kompositorische Höhepunkte werden zum Beispiel in den Anekdoten, aus denen sich die Erzählung von Drakula zusammensetzt, durch wörtliche Zitate und vor allem durch Dialoge herausgehoben. Die noch lebendige altrussische Poetik arbeitet dem freilich entgegen, wenn der Novgoroder Bischof Gennadij in

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seiner Übertragung eines deutschen Zwiegesprächs gerade den dramatischen Gipfel in einen monologischen “didaktischen Dialog” (Lewandowski 1972:S.88- 89) verkehrt. Die Lösung des Handlungsknotens (razvjazka) bleibt ־ im Unter- schied zu seiner Schürzung (zavjazka) - in der Regel ebenso frei von Dialogen wie Textanfang und Textende.

Da der Autor die wörtlichen Zitate und Dialoge vorwiegend um den Helden zentriert, so in der Erzählung vom Königssohn Bova, läßt sich anhand der wört- liehen Figurenreden die Haupthandlung des Textes rekonstruieren. In der Erzählung von Petr, dem Königssohn aus der Tatarenhorde werden die zentralen Etappen der Entwicklung Petrs zum Christen in direkte Rede gekleidet (VI:S.20- 26).

Die Nähe einer Äußerung zum zentralen Handlungsstrang entscheidet darüber, in welcher Form eine Replik wiedergegeben wird. Die Nonne und Schwester Nardin-Naščokins äußert das ihr so wichtige Anliegen, daß sie ihre Nichte Annuška im Kloster besucht. Trotz dieser subjektiven Bedeutung gibt der Autor diesen Wunsch aber nur in indirekter Rede wieder. Die Nonne figuriert ja lediglich als Nebenfigur. Die Art und Weise wie und wann AnnuSka ins Kloster kommen soll, wird aber als direkte Rede der Nonne zitiert. Diese Ereignisse bestimmen aber auch die Haupthandlung, nämlich die Entführung durch Frol Skobeev (Izbomik S.690).

Die Wahl unterschiedlicher Redeformen ermöglicht damit die zum ersten Mal in der Erzählung von Savva Grudcyn wichtige Differenzierung von Haupt- und Nebenhandlung. Trotz der zahlreichen Figuren des Textes werden überwiegend der Teufel und - in geringerem Maße - Savva wörtlich zitiert. Nebenhandlungen

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wie die Erkundigungen der Wirtsleute über Savva beim Zauberer (Izbomik S.612) werden lediglich berichtet

Die Wiedergabe des dialogischen Geschehens kompliziert sich damit ins- gesamt. Die neue kompositorische Funktion des Dialogs vermag hier zu ordnen und zu strukturieren. Mit der kompositorischen Funktion rückt ein weiteres wesentliches Merkmal des e p i s c h e n Dialogs in den Vordergrund.

6.2. Der Streit als Vorstufe des verbalen Konflikts