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Rollen der Pflegebedürftigen und der Angehörigen im

6. Häusliche Pflegearrangements und ambulante Pflegedienste

6.2 Rollen der Pflegebedürftigen und der Angehörigen im

Nach Atkin340 können vier Kategorien von Pflegebedürftigkeit unterschieden werden: körperliche Behinderungen, geistige Behinderungen, psychische Er-krankungen und Altersgebrechen. Für die Pflegenden fallen jeweils unter-schiedliche Pflegeaufgaben an, welche Möglichkeiten und Bedingungen einer Entlastung durch Pflegedienste aufzeigen:

• Personen mit körperlichen Behinderungen benötigen vorwiegend Hilfen beim Baden, An- und Auskleiden, Aufstehen etc. Die Pflegenden müssen schwere, körperlich anstrengende Tätigkeiten ausüben; das wird vor allem dann zum Problem, wenn sie selbst alt sind. Dienste, die der Pflegeperson solche Tä-tigkeiten abnehmen, werden sehr geschätzt (besonders bei intimen Pflege-leistungen). Die Dienste sind auf diesen körperlich bezogenen Hilfebedarf am besten eingestellt, allerdings kann sich eine mangelnde zeitliche Flexibilität der Dienste negativ auf die Erwartungshaltung der Pflegenden und Pflege-bedürftigen auswirken.

• Für Personen, die Menschen mit geistigen Behinderungen pflegen, ist die Verantwortung, die sie für diese Person haben, die zentrale Erfahrung in der Pflege. Die Probleme, die daraus resultieren, sind schwerer zu artikulieren und haben nicht die gleiche objektive Qualität wie physische Pflegetätigkei-ten. Für die Dienste ist es sehr schwer, auf den eher diffusen Hilfebedarf, der aus dieser Verantwortung resultiert, zu reagieren.

• Das Leben von Angehörigen von psychisch Kranken ist stark durch die Betreuungssituation geprägt. Die Pflegenden haben unter mangelndem Ver-ständnis seitens der Umwelt, unter Isolation und unter Vorurteilen von pro-fessioneller Seite zu leiden. Für sie stehen das Bedürfnis sich auszuspre-chen und der Wunsch nach emotionaler Unterstützung im Mittelpunkt.

• Bei alten Menschen, die körperlich gebrechlich sind, kommt hinzu, dass sich der Hilfebedarf langsam erhöht und die Angehörigen allmählich in die Pflege-rolle hineinwachsen, ohne sich dessen bewusst zu werden. Oft lässt sich kein genauer Zeitpunkt benennen, zu welchem die Pflege begonnen hat. In vielen Fällen sehen Angehörige die Hilfe, die sie übernehmen, als natürliche Erweiterung ihrer familiären Rolle, was zur Folge hat, dass sie sich selbst nicht als Pflegende betrachten. Diese Art der Pflegebeziehung bleibt so lan-ge im Privaten ohne Einbeziehung von Diensten, bis eine Krisensituation ein-tritt. Hier ist es nicht untypisch, dass die Verantwortung für die Pflege eher unreflektiert und unvorbereitet übernommen wird. Aus einer Übergangsrege-lung können pflegeintensive Jahre werden, die die bisherigen Beziehungen

340 Vgl. Atkin, K. (1992): S. 30-58

zwischen dem Hilfebedürftigen und den übrigen Familienmitgliedern verän-dern.341

• Die Betreuung dementer Personen wird als besonders belastend geschildert.

Die Angehörigen leiden unter starken Stresssymptomen. Es scheint, dass die Dienste hier mehr als in anderen Fällen die Belastung der Pflegenden wahr-nehmen und kompensatorische Hilfen, z.B. in der Haushaltsführung, anbie-ten. Diese wären unter Umständen objektiv nicht zwingend erforderlich; sie werden aber erbracht, um den Angehörigen etwas von ihrer Last abzuneh-men und ihnen Möglichkeiten zum Rückzug zu geben.

Die gepflegte Person und ihr Wohlergehen stehen im Mittelpunkt der Pflegebe-ziehung; sie ist der erste Adressat für Pflegedienste und Hilfeleistungen. Für die Akzeptanz von Pflegediensten ist es daher unumgänglich, deren Rolle zu be-trachten.

Nach Twigg und Atkin342 werden verschiedene Arten der Einflussnahme durch die Pflegebedürftigen geschildert:

• Dies kann sich durch die Art und Weise äußern, wie sie mit ihrer Pflegebe-dürftigkeit umgehen. Manche spielen diese herunter, um ihr Selbstbewusst-sein zu wahren. Dem Pflegedienst, aber auch dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, kann dadurch das volle Ausmaß des Hilfebedarfs und der Konsequenzen für die Pflegeperson nicht offenbar werden. Besonders in Partnerbeziehungen spielt es eine wichtige Rolle, voreinander nicht die Ach-tung zu verlieren.

• Manche Pflegebedürftige verweigern sich bestimmten Arten professioneller Hilfe, z.B. der Inanspruchnahme von ergänzenden hauswirtschaftlichen Leis-tungen, da diese im Unterschied zu medizinischen Leistungen ja auch von pflegenden Angehörigen übernommen werden können. Diese Reaktion hängt offenbar mehr von der Erwartungshaltung innerhalb der Beziehung ab als vom Dienstleistungsspektrum der Einrichtung.

• Manche Pflegebedürftige messen den professionellen Kräften eine überdi-mensionale Bedeutung bei, was zur Konsequenz hat, dass die pflegenden Angehörigen im häuslichen Umfeld eher unsichtbar bleiben.

Nicht immer können die Dienstleistungen der Professionellen sowohl für den Pflegebedürftigen als auch für den Pflegenden gleichermaßen von Nutzen sein.

In manchen Fällen kann eine Hilfe, die die Pflegeperson entlastet, auf Kosten der gepflegten Person gehen, z.B. wenn hauswirtschaftliche Tätigkeiten die

341 Vgl. Beck, B. (1998): S. 61-81; Bracker, M (1990): S. 38-41

342 Vgl. Twigg, J. / Atkin, K. / Perring, C.: (1991)

Pflegeperson entlasten, der Pflegebedürftige selbst aber die gewohnte Qualität der pflegenden Angehörigen für diesen Bereich vermisst.

Unter Berücksichtigung der differenzierten Betrachtung der Beziehungsmuster zwischen Pflegebedürftigen und Angehörigen ergibt sich die Problematik für den Pflegedienst, ein jeweils passendes Unterstützungsangebot zu konzipieren.

Dies führt schließlich zu der Frage nach der Rollenzuweisung der pflegenden Angehörigen im Pflegeprozess mit professionellen Diensten.

Zwischen den Erkenntnissen, die dem Angehörigen eine zentrale Rolle für die Pflege zuweisen343 und seiner Rolle, die ihm im professionellen Pflegesystem seitens der Pflegedienste zugewiesen wird, besteht eine große Diskrepanz. Die eher nachrangige Rolle des Angehörigen im Gesundheits- und Pflegewesen findet ihre Begründung in der Tatsache, dass Angehörige traditionell in ihrer Wirkung auf die Behandlung von Krankheiten eher negativ eingeschätzt wur-den.

So war es z.B. bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich, dass Patien-ten von ihren Familien getrennt wurden, um weit verbreitete Infektionskrankhei-ten zu behandeln und Angehörige vor einer vermeintlichen Infektionsgefahr zu schützen. Auch psychologisch-pädagogische Tätigkeiten betonten in ihren ersten Versorgungsansätzen oft die schädigenden Einflüsse des familiären Umfeldes auf den Einzelnen. Erst in jüngerer Zeit hat sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die hilfreichen und heilsamen Einflüsse des sozialen Milieus gerichtet. Ein unterstützendes soziales Umfeld kann selbst objektiv belastende Ereignisse für denjenigen, der diese erlebt, weitgehend abmildern. Dieser The-se liegt die Theorie der sozialen Unterstützung (social support) zugrunde, wo-nach sich verschiedene Netzwerkverbindungen wie Partnerschaft, Verwandt-schaft, FreundVerwandt-schaft, Nachbarn etc. förderlich auf das Wohlbefinden des Ein-zelnen auswirken können.344 Wie heilsam die soziale Unterstützung durch An-gehörige ist, wird besonders deutlich, wenn diese ausbleibt.

Für die Art der Einbeziehung der pflegenden Angehörigen in das Pflegearran-gement seitens der professionellen Pfleger ist von Bedeutung, wie ihre Rolle seitens der Pflegedienste verstanden wird: als Ressource, als Koproduzent von Pflege, als ein weiterer Kunde oder schlicht als Angehörige, die durch die pro-fessionelle Dienstleistung bei der Pflege entlastet werden sollen. Im Folgenden wird auf diese drei Perspektiven eingegangen, die von Julia Twigg345 beschrie-ben wurden:

343 Vgl. Evers, A. / Ühlein. A. / Starke, A. (1999)

344 Vgl. z.B. Litwin, H. & Landau, R. (2000): S. 213-228

345 Vgl. Twigg, J. (1993)

Werden pflegende Angehörige als Ressource betrachtet, so liegt die Denkhal-tung zugrunde, dass sie als gegeben und kostenlos zur Verfügung stehen.

Dahinter kann seitens der Pflegedienste aber auch die Befürchtung stehen, dass ihre Handlungen durch das Familiensystem untergraben und ersetzt wer-den könnten.

Die Unterstützung pflegender Angehöriger wird dabei durch solche Konzepte der Pflegedienste behindert, die sich vorwiegend an der körperbezogenen Pfle-ge orientieren und damit eine Berücksichtigung sowohl der Rolle der AnPfle-gehöri- Angehöri-gen als auch ihrer Bedürfnisse, Interessen und ProblemlaAngehöri-gen verhindern. Wer-den pflegende Angehörige von Wer-den Pflegekräften überwiegend als „Hilfskräfte”

betrachtet, die den medizinisch orientierten Pflegeprozess unterstützen, dann handeln diese angemessen, wenn sie z.B. vor dem Besuch der Pflegekraft so weit wie möglich alle Vorbereitungen treffen, während des Einsatzes bestimmte Handlungen kooperativ erledigen (wie z.B. Umlagern) und die Vorgaben des Pflegepersonals gewissenhaft umsetzen.

Die Rolle der aufopferndern Pflege durch Angehörige entspricht noch den tradi-tionellen Vorstellungen von Familiensolidarität. Angehörige stellen eine Res-source für die Pflegekräfte dar, ohne dass deren Tätigkeiten besondere Aner-kennung erlangen, da die „wichtige” Pflege in erste Linie die am zu Pflegebe-dürftigen orientierte körperbezogene Pflege ist. Angehörige als Ressource zu definieren, hat mit dem Selbstbild der pflegenden Angehörigen wenig zu tun; sie verstehen sich eben nicht nur als Hilfskraft, sondern verfügen über spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten, die für das gemischte Pflegearrangement von Bedeutung ist.

Beim Typ Koproduzent werden die Angehörigen als pflegerische Hilfskräfte in die Dienstleistungserbringung einbezogen. Probleme und Bedürfnisse der pfle-genden Angehörigen werden insoweit berücksichtigt, als sie für die Qualität des Pflegeprozesses von Bedeutung sind. Der Dienst versteht seine Aufgabe da-hingehend, den pflegenden Angehörigen zu unterstützen und seinen Auftrag so gut wie möglich zu erfüllen. In diese Denkhaltung lassen sich z.B. Bemühungen einordnen, Pflegekurse anzubieten, die Hinweise und Techniken für bestimmte Pflegehandgriffe vermitteln. Es handelt sich um eine technisch ausgerichtete Pflegekoproduktion, in der etwaige unterschiedliche Motivationen und Hand-lungslogiken ausgeblendet bleiben.

Die Sichtweise des weiteren Kunden oder auch „Co-Klienten“ nimmt darauf Bezug, dass auch die Pflegenden selbst Bedürfnisse und einen spezifischen Hilfebedarf haben. Nicht nur der Pflegebedürftige wird als Kunde betrachtet, sondern auch der pflegende Angehörige. Sinn und Zweck der Dienstleistung ist hier in erster Linie, eine Entlastung für den pflegenden Angehörigen zu bewir-ken. Diese Sichtweise kann z.B. dazu führen, dass das Angebotsspektrum der

Pflegedienste auch solche Formen der Unterstützung entwickelt, die sich auf den Angehörigen richten, wie z.B. einen „Entlastungstag” anzubieten, der den Angehörigen die Möglichkeit eröffnet, von der Pflege „frei” zu haben. Im Gegen-satz zu den beiden erstgenannten Typen steht hier also der Kreis der pflegen-den Angehörigen im Mittelpunkt.

Pflegedienste lassen sich nun in der Realität wohl kaum ausschließlich auf eine der genannten Sichtweisen festlegen, was auch nicht sinnvoll wäre, denn erst eine je spezifische, flexible Kombination der Sichtweisen kann eine umfassende und sinnvolle Pflege sowie eine nachhaltige Unterstützung des Familiensys-tems bewirken.