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Der Handlungsrahmen für Interaktionen im Pflegedreieck

6. Häusliche Pflegearrangements und ambulante Pflegedienste

6.4 Der Handlungsrahmen für Interaktionen im Pflegedreieck

Aushandlungspro-zess einen Unterschied, ob die Pflegenden bereits Erfahrung im Umgang mit Diensten haben, ob sie einen Hilfebedarf haben, der in die Angebotsstruktur passt, wie weit die Dienste untereinander vernetzt sind, ob sie nur auf Anliegen reagieren oder aktiv an der Erreichung der jeweils bestmöglichen Lösung mit-wirken.

Aushandlungsprozesse zwischen familialem und professionellem System orien-tieren sich also nicht ausschließlich an rationalen Kriterien. Es handelt sich vielmehr um dynamische Prozesse, die besonders seitens des Pflegedienstsys-tems Sensibilität und kommunikative Kompetenz erfordern. Die Qualität der pflegerischen Dienstleistung wird in diesen Aushandlungsprozessen auch von der Fähigkeit bestimmt, die unterschiedlichen Arbeits- und Lebenswelten mit-einander zu verknüpfen.

Erst wenn die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitswelten der hier handelnden Akteure wechselseitig wahrgenommen werden, also auch die pflegenden An-gehörigen mit ihren Erwartungen und Kompetenzen seitens des professionellen Teams nicht nur als Ressource, sondern als weitere „Experten” im Pflegepro-zess mit einbezogen werden, kann die eigentlich zu erbringende pflegerische Dienstleistung erfolgreich umgesetzt werden.

Hier ist zunächst § 28 Abs. 4 Satz 2 SGB XI in Betracht zu ziehen, denn diese Bestimmung sieht vor, dass die Pflege auch die Aktivierung des Pflegebedürfti-gen zum Ziel haben soll, um vorhandene Fähigkeiten zu erhalten und, soweit dies möglich ist, verlorene Fähigkeiten zurückzugewinnen. Um der Gefahr der Vereinsamung des Pflegebedürftigen entgegenzuwirken, sollen bei der Leis-tungserbringung auch die Bedürfnisse des Pflegebedürftigen nach Kommunika-tion berücksichtigt werden. KommunikaKommunika-tion wird aber hier nicht als notwendige Voraussetzung dafür gesehen, dass Aushandlungsprozesse innerhalb des Pflegedreiecks zustande kommen können, sondern ausdrücklich nur, um der Vereinsamung des Pflegebedürftigen entgegenzuwirken. Kommunikative Be-dürfnisse nach § 28 Abs. 4 SGB XI sollen bei der Erbringung von Pflegeleistun-gen gewissermaßen als selbstverständliches Qualitätsmerkmal mit berücksich-tigt werden, ohne dass diese als gesonderter Leistungsbestandteil auftauchen und mit entsprechenden Zeitansätzen bei den Vergütungen versehen werden.

In einer Stellungnahme der Bundesregierung zur Umsetzung der Pflegeversi-cherung wird in diesem Kontext darauf verwiesen, dass „… die Pflegeversiche-rung Hilfen bei der Kommunikation nicht als eigenständige Leistung vorsieht … und dass das Eingehen auf das Kommunikationsbedürfnis im Zusammenhang mit der Erbringung von Pflegeleistungen selbstverständlicher Bestandteil ist und damit Charakteristikum einer qualitativ guten und humanen Pflege“.408

Im gemeinsamen Rundschreiben zu den leistungsrechtlichen Vorschriften des Pflegeversicherungsgesetzes vom 10.10.2002409 wird weiterhin ausgeführt, dass es sich bei der Erfüllung des Kommunikationsbedürfnisses um einen Be-standteil der sozialen Betreuung handelt, die zwar im stationären Bereich, je-doch nicht in der häuslichen Pflege eine von der Pflegekasse zu gewährende Leistung darstellt. Ihrer Entstehungsgeschichte nach hat die soziale Betreuung die Funktion, die Betreuungsanteile abzudecken, die nicht von der Grundpflege (vgl. §§ 14,15 SGB XI) umfasst werden, die aber zur umfassenden Versorgung eines pflegebedürftigen Menschen erforderlich sind und bisher auch schon zum Leistungsangebot der Pflegeeinrichtungen gehörten. Dabei soll die soziale Betreuung eine Funktion erfüllen, die man im häuslichen Bereich den Angehöri-gen oder sonstiAngehöri-gen Bezugspersonen zuschreibt. Für die häusliche Pflege hat der Gesetzgeber deshalb keine Möglichkeit zur Abrechnung sozialer Betreu-ungsarbeit geschaffen.410

Zwar legt die getroffene Zuordnung des Kommunikationsbedürfnisses zur so-zialen Betreuung nahe, dass mit ihrer Hilfe ein allgemeines Bedürfnis nach zwischenmenschlichem Austausch abgedeckt werden kann. Dass notwendi-gerweise bei der Erbringung von Pflegeleistungen kommuniziert wird, und zwar

408 Vgl. Deutscher Bundestag (1996): Bt.-Drs. 13/3361, S.10

409 Vgl. Spitzenverbände der Pflegekassen (2002)

410 Vgl. Klie, Th. / Krahmer, U. (Hg.) (2000): § 43 Rz15

in spezifischer Weise mit dem Pflegedienst, führt jedoch nicht zu einer eigen-ständigen Würdigung dieser Leistung im Pflegeversicherungssystem.

Kommunikationsanteile finden sich bislang lediglich in den als „indirekte Pfleleistungen” bezeichneten Bestandteilen wieder, die ausdrücklich als nicht ge-sondert vergütungsfähig in der Bundesempfehlung der Spitzenverbände der Pflegekassen zum System der Vergütung von Leistungen in der häuslichen Pflege folgende Handlungsfelder ausgewiesen werden.411 Dabei handelt es sich um

• aktivierende Pflegeleistungen,

• Unterstützung, Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständi-gen Übernahme der Verrichtuneigenständi-gen nach § 14 Abs. 3 SGB XI,

• Prophylaxen zur Vorbeugung von Sekundärerkrankungen,

• Phasen der Vor- und Nachbereitung des Pflegebereichs einschließlich der benötigten Materialien, ggf. deren Entsorgung,

• Dokumentation der Leistungen.

So setzen insbesondere die aktivierenden, unterstützenden und anleitenden indirekten Pflegeleistungen eine intensive Interaktion und Kommunikation mit dem Pflegebedürftigen und seinen Angehörigen voraus, die jedoch weder im System der Leistungsmodule noch im Zeitabrechnungssystem als eigenständi-ge Leistung auseigenständi-gewiesen werden.

Allerdings stellen die zu einem Leistungskomplex zusammengefassten Verrich-tungen keine abschließende Aufzählung dar.412 Im Rahmen eines Leistungs-komplexes sollen alle Tätigkeiten, die unter Berücksichtigung der individuellen Pflegesituation erforderlich sind, durchgeführt werden. Im System der Leis-tungsmodule wird somit davon ausgegangen, dass innerhalb jedes Moduls ausreichend Zeit auch für die o.g. nicht gesondert vergütungsfähigen „indirekten Pflegeleistungen” vorhanden ist.

Diese Annahme findet im System der Leistungsmodule insofern Ausdruck, als die jeweils zusammengefassten Verrichtungen keine abschließende Aufzählung darstellen, sondern jeweils mit den Worten eingeleitet werden „Leistungskom-plex Nr. X beinhaltet insbesondere …“. Damit soll u.a. deutlich werden, dass auch die indirekten Leistungen und damit auch das Eingehen auf das Kommu-nikationsbedürfnis zum selbstverständlichen qualitativen Bestandteil der Leis-tungserbringung gehört. Da diese indirekten Pflegezeiten jedoch weder inhalt-lich noch zeitinhalt-lich gesondert innerhalb der Module ausgewiesen werden, hängt

411 Vgl. Empfehlung der Spitzenverbände der Pflegekassen für ein System zur Vergütung von Leistungen der häuslichen Pflege nach dem SGB XI, Stand November 1996

412 Vgl. Empfehlung der Spitzenverbände der Pflegekassen für ein System zur Vergütung von Leistungen der häuslichen Pflege nach dem SGB XI, Stand November 1996

die Frage, ob in der tatsächlichen Pflegesituation auch genügend Raum für diese Leistungen besteht, davon ab, welche Anteile der ausgehandelten Punkt-zahl für pflegerische Verrichtungen im engeren Sinne „verbraucht” werden.

Dies führt in der Praxis i.d.R. dazu, dass die Pflegekassen bei den Vergütungs-verhandlungen das Interesse verfolgen, die zeitliche und finanzielle Bemessung eines jeden Moduls möglichst gering zu halten. Denn je niedriger Punktwert und Punktzahl der Module bemessen sind, desto mehr Pflegeeinsätze können die Versicherten über die Pflegekasse im Monat abrechnen. Dies bedeutet im Er-gebnis, dass insbesondere die kommunikativen Bestandteile der „indirekten Pflegeleistungen” bei der Vergütungsverhandlung nicht regelhaft berücksichtigt werden und damit in der Konsequenz auch kein ausreichender Raum für Kom-munikation vorhanden ist. Für die Pflegedienste ist dieser Konflikt im Rahmen der Vergütungsverhandlungen kaum lösbar, wenn seitens der Kostenträger gefordert wird, dass auch diese Leistungen im Sinne einer „humanen und akti-vierenden Pflege” selbstverständlicher Leistungsbestandteil der Pflegedienst-leistung sind. 413

In der Berücksichtigung der kommunikativen Bestandteile der indirekten Pflege-leistungen in den Leistungs- und Vergütungsregelungen in den bestehenden Vergütungssystemen liegt daher ein Handlungsansatz zur Weiterentwicklung häuslicher Pflegearrangements.

6.4.2 Qualitätssicherung

Bemühungen um Qualitätssicherung können unerwünschte Nebeneffekte ent-falten, wenn nicht die interaktiven Besonderheiten der pflegerischen Dienstleis-tung (vgl. Kapitel 4) und die Einbeziehung der Perspektive der Pflegebedürfti-gen und der pflePflegebedürfti-genden AngehöriPflegebedürfti-gen im Mittelpunkt stehen, sondern Kontrollen zur formalen Überprüfung der erbrachten Leistungen. Damit steigt der hiermit verbundene personelle und zeitliche Aufwand bei gleichzeitig sinkender Flexibi-lität, die für eine dialogische Dienstleistung erforderlich ist.

Dies kann sich auf die Qualität der Interaktion zwischen Pflegedienst und Fami-lien negativ auswirken, wenn durch administrative Aufgaben und durch Kontrol-len personelle und zeitliche Ressourcen gebunden werden, die nicht mehr für pflegerische Aufgaben eingesetzt werden können.

Qualitätssicherung auf der Basis einer reinen Kostenrationalität aus der Per-spektive der Kostenträger erhält damit einen anderen Zuschnitt als Qualitätssi-cherung aus der Sicht der Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen.

413 Zur „dominanten“ Stellung der Pflegekassen in Vergütungsverhandlungen vgl. auch:

Strünck, Ch. (2000): S. 76-80

Die „weichen” Faktoren, die aus der Sicht der Familien eine gute Qualität in der Pflege ausmachen, wie das Entwickeln einer vertrauensvollen Beziehung, ein partnerschaftlicher Umgang, kommunikative Kompetenz und Kontinuität in der Pflege stehen der Handlungslogik der Kostenträger gegenüber.

Das Qualitätsverständnis der Kostenträger ist vorwiegend davon geprägt, dass sie kontrollieren wollen, welche Leistungen die Anbieter überhaupt erbringen.

Im Mittelpunkt stehen dabei Bemühungen, mit welcher personellen Besetzung welche Leistungen wann erbracht wurden. Die Ebene der Strukturqualität erhält dabei einen zentralen Stellenwert, weil Prozess- und Ergebnisqualität pflegeri-scher Dienstleistungen schwieriger zu kontrollieren sind, denn dies setzt z.B.

voraus, dass überprüfbare Kriterien einer Erfolgsmessung vorhanden sind.

Die zentrale Frage, woran sich eine gute Pflege bemisst, hängt auch davon ab, ob es allgemein anerkannte Kriterien gibt, die als Erfolgsindikator dienen könn-ten. Ein Problem bei der Ausdifferenzierung von Qualität ist das weitgehende Fehlen von allgemeinen Qualitätsstandards, die eine gewünschte Soll-Leistung beschreiben. Bis heute ist bis auf wenige Expertenstandards wie z.B. dem der Dekubitusprophylaxe in der Pflege414 für viele Bereiche (wie z.B. der sozialen Betreuung nach § 43 Abs. 2 SGB XI) in der Pflege nicht definiert, worin genau der in § 69 Satz 1 SGB XI geforderte „allgemein anerkannte Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse“ besteht.415

Hinzu kommt, dass die Sicht der Pflegebedürftigen und der pflegenden Angehö-rigen bei der Entwicklung von Standards und Verfahren zur Qualitätssicherung bislang nur eine untergeordnete Rolle spielt, was sich auch daran ablesen lässt, dass Interessenvertreter von Pflegebedürftigen nicht regelhaft beteiligt werden, wenn es z.B. um die Festlegung von Qualitätsstandards geht. Diese Verfahren liegen vielmehr in der Hand der Leistungsanbieter und der Kostenträger (vgl.

§ 80 Abs. 1 SGB XI).

Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die inhaltliche Ausgestaltung von Qualität je nach Sicht der Beteiligten mit völlig anderen Schwerpunkten verbunden wird. Das primäre Interesse von Kostenträgern, Leistungen im Vor-feld detailliert zu beschreiben und sie damit „kontrollierbarer” gestalten zu kön-nen, wird mit dem Schutzbedürfnis der Solidargemeinschaft und der Wahrneh-mung des Sicherstellungsauftrages (vgl. § 69 SGB XI) legitimiert.

Durch dieses Vorgehen soll potenziellem Missbrauch der Leistungsentgelte begegnet werden, auch um die Ausgaben in diesem Versorgungsbereich (im

414 Vgl. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) (2002) (a): Exper-tenstandard Dekubitusprophylaxe in der Pflege

415 Vgl. Roth, Günter (2002): S. 1

krankenversicherungsrelevanten SGB-V Bereich der Behandlungspflege) zu reduzieren oder zumindest einzugrenzen.

Um diesen Kontrollmechanismus installieren zu können, wird ein umfangreiches Paket aus Leistungs- und Qualitätsbeschreibungen über Verträge, über die Dokumentation der erbrachten Leistungen durch die Anbieter sowie über Quali-tätsprüfungen geschnürt. Die Vielfalt von Vorschriften zur Qualitätssicherung im Pflegeversicherungsgesetz führt zu einer zunehmenden Verrechtlichung. Ob die umfangreichen Regelungen zu einer Optimierung der Qualität in der Dienst-leistungserbringung führen, kann dann bezweifelt werden, wenn sich dadurch ein unvertretbarer bürokratischer Aufwand ergibt.416 Einige Einrichtungsvertreter kommen gar zu dem Schluss, dass bis zu 40% der Arbeitszeit für Bürokratie aufgewendet werden muss. Diese Zeit fehle für pflegerische Aufgaben. Ange-sichts der „Regelungswut” des Gesetzgebers besteht bei einigen Einrichtungs-vertretern der Eindruck, „ihre Pflegeeinrichtung sei offenbar gefährlicher als ein Atomkraftwerk“.417

Bürokratische Kontrollen und die fehlende Einbeziehung der Sichtweise der Betroffenen führen dazu, dass Kostenträger und Leistungserbringer unterein-ander vereinbaren, was eine gute Qualität in der Pflege ausmacht. Gerade weil aber die professionelle häusliche Pflege in die Lebenswelt der Familie eingreift, ist es jedoch unumgänglich, deren Werturteile – als weitere Experten – mit einzubeziehen. Ansonsten besteht die Gefahr, an der Lebenswelt der Betroffe-nen vorbei Regelungen zu treffen, die aus deren Sicht zu einer Minderung der Qualität führen können, wenn z.B. die Einhaltung Standards in der Pflege einen formalen höheren Stellenwert erlangt als emotionale Zuwendung und Kommu-nikation in der Pflege.