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Das familiale Helferpotenzial im demografischen und

5. Merkmale familialer Pflegearrangements

5.1 Das familiale Helferpotenzial im demografischen und

Der demografische Wandel zeichnet sich dadurch aus, dass die Lebenserwar-tung steigt und die Kinderzahl sinkt. Es werden also immer mehr ältere Men-schen immer weniger jüngeren MenMen-schen gegenüberstehen. Mit der steigenden Lebenserwartung nimmt aber auch das Risiko zu, krank und pflegebedürftig zu werden. Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, trifft in erster Linie die Perso-nengruppe der hochaltrigen über 80-jährigen Personen. Bezogen auf die Ge-samtbevölkerung beziehen 15% der über 80-jährigen Männer und 21% der über 80-jährigen Frauen in Privathaushalten Leistungen aus der Pflegeversiche-rung.202 Der wachsende Anteil der pflegebedürftigen Menschen erklärt sich daraus, dass die Zahl der hochbetagten Menschen im Alter ab 80 Jahren ins-gesamt steigt. So kommt etwa die 10. koordinierte Bevölkerungsvorausberech-nung203 zu dem Ergebnis, dass sich die Zahl und der Anteil der Hochbetagten an der Gesamtbevölkerung im Jahr 2020 bereits auf etwa 6,9% belaufen wird.

Während die Zahl der pflegebedürftigen Personen weiter ansteigt, verringert sich der Anteil der Bevölkerungsgruppe, welche die meisten Hauptpflegeperso-nen stellt. Mit 73% sind es in der Regel noch in überwiegender Anzahl die Frauen, die die Hauptverantwortung im Rahmen der häuslichen Pflege über-nehmen.204 Die demographischen Entwicklungen führen in Zukunft zu einem deutlichen Rückgang des Potenzials an pflegenden Frauen.

202 Vgl. Infratest Sozialforschung (2003), S. 10

203 Vgl. Statistisches Bundesamt 2003 (b)

204 Vgl. Infratest Sozialforschung (2003), S. 19

Der Geburtenrückgang und die damit einhergehende rückläufige durchschnittli-che Kinderzahl in den Familien hat weiter zur Konsequenz, dass die Anzahl der Verwandten in der horizontalen Linie abgenommen hat. Das heißt, dass die Menschen heute weniger Verwandte in der gleichen Generation haben, als dies noch bei unseren Eltern oder Großeltern der Fall war. Gleichzeitig verlängert sich durch die gestiegene Lebenserwartung die gemeinsame Lebenszeit zwi-schen Eltern und Kindern; die vertikalen Beziehungen werden zeitlich ausge-dehnt. Zusammen mit der skizzierten Ausdünnung der horizontalen Linie führt dies zu einer Zunahme des Anteils der vertikalen Beziehungen bei den Famili-en. Diese Art von Familien wird auch „Bohnenstangen – Familie“ genannt, weil deren Stammbaum lang und dünn wie eine Bohnenstange ist.205

Die Veränderungen des Verhältnisses zwischen potenziell pflegefähigen Er-wachsenen und Pflegebedürftigen müssen jedoch nicht zwangsläufig dazu führen, dass immer mehr Hilfebedürftige keine Pflege bekommen werden, son-dern dass die evtl. Pflegeverantwortlichen nur weniger Personen (neben der Tochter auch den Sohn!) betreffen.206 Nach dieser Auffassung stehen in Zu-kunft pro Familie weniger Kinder, die pflegen könnten, zur Verfügung, ohne dass zunächst die Zahl der kinderlosen Pflegebedürftigen entscheidend zu-nehmen würde. In diesem Sinne wäre also zunächst kein Rückgang des fami-lialen Pflegepotenzials zu erwarten, sondern eine stärkere Belastung der ver-fügbaren Angehörigen. Von zentraler Bedeutung wird dann die Frage sein, ob sich der stärkere Druck auf die verantwortlichen Familienangehörigen nachteilig auswirkt und ob dies die Bereitschaft zur Einbeziehung fremder Helfer in das häusliche Pflegearrangement befördert. Diese Entwicklung kann daher auch dazu führen, dass bei der familialen Versorgung eines Hilfebedürftigen in Zu-kunft auch vermehrt auf andere Hilfepersonen, als der Familienangehörigen zurückgegriffen werden muss.

Neben den dargestellten demografischen Veränderungen unterliegen auch Wertevorstellungen von der Familie einem Wandel, die sich in den Ge-schlechterbeziehungen und den Vorstellungen von Solidarität in der Familie äußern.

Im Zusammenhang mit den Veränderungen der Wertvorstellungen werden Trends angeführt, wie die abnehmende Bedeutung von Pflicht- und Akzeptanz-werten und der Zunahme von SelbstentfaltungsAkzeptanz-werten, die jedoch nicht zu einer allgemeinen Individualisierung führt, wie sie von Beck & Beck-Gernsheim207 beschrieben wird. Mit anderen Worten: aus dem Wertewandel folgt keine indivi-dualistische Beliebigkeit, sondern es lässt sich zumindest in großen Teilen der

205 Vgl. Hörl, J. / Rosenmayr, L. (1994): S. 76

206 Vgl. Evers, A. / Rauch,U. (1997) in Bezug auf Sundstroem, G. (1995)

207 Vgl. Beck, U. / Beck-Gernsheim, E. (1994) S. 3-14

Gesellschaft ein verändertes Verantwortungsbewusstsein feststellen, dass zu neuen Formen von Solidarität in der Familie führt.

Im Bereich der Familie ist ein kultureller Wandel an der zumindest teilweisen Abkehr vom Leitbild der „bürgerlichen” Familie festzumachen, der sich bei den Geschlechterbeziehungen und bei den Generationenbeziehungen äußert. Der Wertewandel mit der Abkehr von Pflicht- und Akzeptanzwerten zeigt sich in den Beziehungen zwischen Frauen und Männern besonders deutlich an den Ein-stellungen zur Ehe.

Beziehungen werden heute weniger auf der Erfüllung von Rollenanforderungen aufgebaut als auf der Befriedigung von emotionalen Bedürfnissen. Ein ähnlicher Einstellungs- und Verhaltenswandel, der sich von traditionellen Rollenzuord-nungen löst, wird auch für die Inanspruchnahme von Krankenbetreuung, das Konsumverhalten gesehen, nicht jedoch für das Putzen und Kochen und das Durchführen von Reparaturen.208 Dort ist der Wandel jedoch eher ein Einstel-lungswechsel als ein Verhaltenswandel, wobei der Einfluss von externen Fakto-ren wie der Struktur der Arbeitswelt berücksichtigt werden muss. Die konkrete Arbeit im Haushalt bleibt dagegen im Verantwortungsbereich der Frauen mit konstant geringem Hilfeanteil der Männer: „Die absolute Beteiligung der Männer an der Hausarbeit liegt stets und komme, was wolle, bei ca. 10. Stunden in der Woche – unabhängig von der Erwerbstätigkeit der Partnerin“, so lautet das Ergebnis einer umfassenden Sekundäranalyse von Studien zu diesem The-ma.209

Das Infragestellen der geschlechtspezifischen Rollenstereotypen interpretiert Honneth in Bezug auf Giddens so: Die moderne Familie hat sich „von einer Institution, deren interne Verhältnisse noch wesentlich von sozialen und öko-nomischen Zwängen bestimmt sind, (…) inzwischen weitgehend in ein „reines”

Beziehungsverhältnis verwandelt, in dem affektive Bindungen zur wichtigsten Quelle der Integration geworden sind.“210

Die Ablösung vom Leitbild der bürgerlichen Familie zeigt sich ebenso an der steigenden Erwerbstätigkeit der Frauen. Der steigende Grad der Erwerbstätig-keit der Frauen wird als ein weiterer Grund für den Rückgang des familialen (weiblichen) Pflegepotenzials angeführt:

Bei insgesamt steigender Quote der Erwerbsfähigkeit der Frauen stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die gestiegene Erwerbstätigkeit der jüngeren Frauen auf ihr Engagement in der häuslichen Pflege zukünftig haben wird. Die relativ hohe Erwerbsquote von Frauen, die heute zwischen 25 und 40 Jahren alt

208 Vgl. Garhammer, M. (1996): S. 328

209 Vgl. Künzler, J. (1994): S. 200

210 Vgl. Honneth, A. (1995): S. 990

sind, wird sich in ca. zehn Jahren auf ihre Verfügbarkeit für die Pflege der Eltern niederschlagen. Dass häusliche Pflege und Berufstätigkeit nur schwer zu ver-einbaren sind, ist in verschiedenen Studien dokumentiert.211

Die Ergebnisse der Infratest-Befragung zu den Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung hilfe- und pflegebedürftiger Menschen in privaten Haushalten212 machen auf das Problem aufmerksam, dass Frauen im mittleren, erwerbsfähigen Lebensalter, die Angehörige zu Hause versorgen, neben den alten und hochbetagten Frauen und Männern, die ihre pflegebedürftigen Ehe-partner versorgen, die Hauptlast der häuslichen Pflege tragen. Insgesamt 65%

der Hauptpflegepersonen in der häuslichen Pflege sind demnach unter 64 Jah-re alt und somit im erwerbsfähigen Alter. Dabei üben in der Altergruppe der bis zu 64-jährigen, die privat eine pflegebedürftige Person betreuen, derzeit nur 19% eine Vollzeittätigkeit aus, 15% einer Teilzeitbeschäftigung (bis zu 30 Stun-den pro Woche) und 6% einer geringfügigen Beschäftigung (unter 15 StunStun-den pro Woche) nachgehen.

Auch vor dem Hintergrund der sich verlängernden Phasen der Erwerbstätigkeit in unserer Bevölkerung wird es für die Hauptpflegeperson zukünftig immer mehr von Bedeutung sein, Berufstätigkeit und Versorgung pflegebedürftiger Angehö-riger zu vereinbaren. Ob Frauen angesichts instabiler Familienverhältnisse (Rückgang der Eheschließungen, hohe Ehescheidungsraten und Zunahme der Alleinerziehenden) auch in Zukunft das ökonomische Risiko eingehen, auf ihre Erwerbstätigkeit zugunsten der Pflege eines Angehörigen zu verzichten, ist fraglich.

Die Abkehr von traditionellen Rollenzuweisungen in privaten Beziehungen wird häufig als ein Wandel der Geschlechterbeziehungen beschrieben und neben der steigenden Anzahl von Scheidungen und Wiederverheiratungen an den neuen Formen der Partnerschaft von nichtehelichen Lebensgemeinschaften oder räumlich getrennt lebenden Personen festgemacht.

Kaufmann hat diese Veränderungen im Blick, wenn er schreibt: „Ehe und Fami-lie können nicht mehr als vorgegeben, sondern Ehe kann nur als zu leistende Partnerschaft, als Verknüpfung zweier Biografien und als Koevolution zweier Individuen, und Familie nur noch als zu leistende Nestbildung, als mühsam zu erringender Erholungs- und Gestaltungsraum inmitten einer geräuschvollen und übermächtigen Umwelt angemessen verstanden werden.“213

Es muss Beziehungsarbeit geleistet werden, und diese Arbeit kostet Zeit und Kraft. Solidarität in den Familien wie die Sorge um einen pflegebedürftigen

211 Vgl. Beck, B. / Dallinger,U. / Naegele,G. / Reichert,M. (1997)

212 Vgl. Infratest Sozialforschung (2003): S. 20

213 Vgl. Kaufmann, F.-X. (1993): S. 102

Angehörigen muss deshalb heute als Ausdruck einer emotionalen Beziehung und nicht nur als Nutzenkalkül der gegenseitigen Verpflichtung betrachtet wer-den.214 Gefühle der Verantwortlichkeit können in Zeiten des sozialen Wandels fließend und unklar sein, bei den betroffenen Personen zu Ambivalenzen zwi-schen Verantwortungsbewusstsein und dem Wunsch nach einem eigenen Leben führen.215

Im Folgenden sollen daher Formen der Solidarität in Familien betrachtet wer-den, wobei auch Wechselwirkungen zwischen Familie und Gesellschaft in den Blick geraten.