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Pflege als Aushandlungsprozess

6. Häusliche Pflegearrangements und ambulante Pflegedienste

6.3 Interaktionsstrukturen innerhalb des Pflegedreiecks

6.3.3 Pflege als Aushandlungsprozess

ve Kompetenz und mangelndes Einfühlungsvermögen beklagt; weiterhin bean-standeten die Patienten den häufigen Personalwechsel, Zeitknappheit, ein kompliziertes Abrechnungsverfahren sowie die Unpünktlichkeit der Pflegen-den.404

Aus einer weiteren, in Deutschland und den Niederlanden durchgeführten Be-fragung von 1000 Pflegebedürftigen geht hervor, dass die durch Angehörige oder andere nicht professionelle Pflegekräfte Gepflegten generell eher zufrie-dener sind als die Personen, die durch ambulante Pflegedienste gepflegt wer-den.405 Ein Viertel der in der genannten deutsch-niederländischen Studie be-fragten deutschen Pflegebedürftigen gaben zudem an406, dass die ausgeführten Pflegetätigkeiten nicht immer die seien, die sie selbst wünschten oder für nötig hielten. Ebenso berichtete nur ein Viertel, dass Leistungen verbindlich fest-gehalten seien. Sachleistungsempfänger waren weniger zufrieden mit der Dau-er und dDau-er Leistung dDau-er Pflege zu den vDau-ereinbarten Zeiten und mit dDau-er Anzahl der Besuche der Pflegekraft pro Woche. Sie mussten sich demnach auf durch-schnittlich vier Pflegekräfte einstellen. Nur knapp die Hälfte der Pflegebedürfti-gen, die Sachleistungen erhalten, waren mit der Koordination durch verschie-dene Pflegekräfte zufrieden.407

Diese Ergebnisse machen deutlich, dass der Vertrauensbildungsprozess zwi-schen Familien- und Pflegedienstsystem durch häufigen Personalwechsel be-hindert wird.

tergrund. Dennoch ist die Qualität dieser Arbeit auch von der Qualität dieses Beziehungsprozesses abhängig. Als personale Dienstleistung bewegt sich Pflege ständig auf der Grenze zwischen persönlichen und fachlichen Verhal-tenserwartungen, diffusen und spezifischen Rollen. Dies gilt für die Beziehung zwischen Pfleger und Pflegeempfänger, aber in höherem Maße dann, wenn mehrere Personen, professionelle Helfer und Angehörige in ein gemeinsames Pflegearrangement involviert sind. Unterschiedliche, mitunter konkurrierende Muster von Arbeit und Beziehung sind nun im Spiel, und das gemeinsame Ziel (Besserung des Wohlbefindens und Verhinderung einer Verschlechterung der Gesundheit des Hilfeempfängers) kann durchaus verschieden interpretiert und auf unterschiedlichen Wegen verfolgt werden. Auch sind der Grad der Einbin-dung in die pflegerische Beziehung und die Handlungskonsequenzen für die informellen und formellen Pfleger durchaus unterschiedlich.

Diese strukturellen Unterschiede müssen erkannt, toleriert und in den Gesamt-zusammenhang des Pflegearrangements integriert werden. Gleichermaßen ist dies Weg und Ziel einer erfolgreichen Kooperation der verschiedenen Helfer.

Unterschiedliche Realitäten, Identitäten und Orientierungen kommen dabei ins Spiel und sind interaktiv zu berücksichtigen. Eine effektive Kommunikation kann dabei durch unterschiedliche Rücksichtnahmen blockiert sein. Die Interpretati-onsleistungen, aufgrund derer die Beteiligten die Bedeutung ihres Handelns wechselseitig ermitteln und in denen sie sich des für die Gesamtsituation gülti-gen Orientierungsrahmens vergewissern, müssen zwar ausgetauscht werden, aber da dies zum Teil nur ausdrücklich und bewusst geschehen kann, sind erneut Interpretationen erforderlich. Missverständnisse und wechselseitige Blockaden der Kommunikation (z.B. über Mimik und Gestik) sind vor allem dann schwer zu vermeiden, wenn starke Gefühle ins Spiel kommen, wie dies gerade in belastenden familialen Pflegekonstellationen der Fall ist.

Sensibilität für diese Prozesse und die Fähigkeit, in kommunikativer Kompetenz an ihnen teilzunehmen, sie eventuell bewusst zu beeinflussen, sind daher wich-tige Ziele der Qualifizierung pflegerischen Handelns.

Konflikte können entstehen, wenn die Angehörigen nicht aktiv in das Pflegege-schehen mit einbezogen werden, wenn die Familienangehörigen nur als Laien in der Pflegearbeit gesehen werden, und wenn der Einsatz des Dienstes aus-schließlich den Pflegebedürftigen und nicht auch den Bedürfnissen der Angehö-rigen gilt. So darf bei der Analyse der häuslichen Pflegesituation die Einschät-zung der pflegenden Angehörigen nicht übersehen werden.

Verständigungs- und Abstimmungsprobleme entstehen vor allem an den Schnittstellen von pflegerischem und lebensweltlichem sowie fachlichem Hel-ferhandeln. Dabei ist zu berücksichtigen, dass familiale Pflege lebensweltlich

geprägt ist, nicht medizinisch-pflegerisch, nicht nach klinischen Hygienevor-schriften oder sonstigen Standards.

Die Interaktionsprobleme gewinnen besonders an Bedeutung, wenn professio-nelle Helfer nicht nur Interaktionsprobleme mit dem Hilfebedürftigen selbst zu lösen haben, sondern wenn sie in Kooperation mit vorhandenen lebensweltlich-familialen Hilfearrangements tätig werden. Spätestens jetzt kann die Situation nicht mehr nach professionellen medizinischen und pflegerischen Kriterien allein definiert werden, sondern nun bewegen sich die professionellen Helfer zwischen lebensweltlichen und beruflichen Orientierungsmustern.

Um bei diesen Problemen fachlich kompetent, menschlich entlastend und ohne Selbstüberforderung helfen zu können, muss die Wahrnehmung professioneller Helfer sensibel für die vorhandenen lebensweltlichen Steuerungsmuster sein und sie müssen dem Bedürfnis der Betroffenen gerecht werden, die Normalität ihres Alltagslebens so gut wie möglich zu retten.

Kommunikative Kompetenz bedeutet, nicht naiv davon auszugehen, dass die in diesem Feld möglichen Aushandlungsprozesse primär als vernunftgesteuerte Diskurse ablaufen. Es wäre naiv, sie als eine Form von ständiger Familienkon-ferenz zu betrachten, in der die Familienmitglieder um den Tisch bzw. um das Pflegebett versammelt wären, um in vernünftig-leidenschaftslosem und „herr-schaftsfreiem“ Diskurs einen flexibel dem Pflegeprozess angepassten Konsens zu erarbeiten. Wäre dies so, dann müssten sie – und dies konstant – überprü-fen, welche Pflegeleistungen erforderlich sind und bzw. von wem sie erbracht werden können und sollen. So allerdings läuft familiale Pflege nicht ab, denn bei der Entfaltung einer familialen Pflegekultur schlagen auch andere Logiken zu Buche als ausschließlich die der rationalen Steuerung.

Die Abstimmung von Erwartungen und gemeinsamen Handlungszielen ist häu-fig nur durch mühsames Transformieren von Beziehungsaspekten in Sachfra-gen möglich, die aber, um handlungswirksam zu sein, wieder den Anschluss an die Beziehungsebene finden müssen. Strukturell angelegte Interaktionsproble-me, wechselseitige Fehleinschätzungen und schlecht abgestimmte Erwartun-gen werden häufig nicht systematisch aufgedeckt und dann sehr leicht als per-sönliche Probleme fehlinterpretiert. Es wird deutlich, dass sich die effiziente ergänzende Leistung des Pflegedienstes nicht schematisch abbilden lässt, sondern dass es sich bei ihr um einen dynamischen Aushandlungsprozess handelt, die jedoch weniger nach rationalen Gesichtspunkten erfolgen.

Die Aushandlung von Arrangements für Hilfe und Pflege ist gerade nicht in jede Richtung offen. Sie findet in einem Kontext statt, in dem die Erwartungen und Verhaltens- und Reaktionsweisen auf beiden Seiten durch eine Reihe von Fak-toren vorstrukturiert sind. Darüber hinaus macht es für den

Aushandlungspro-zess einen Unterschied, ob die Pflegenden bereits Erfahrung im Umgang mit Diensten haben, ob sie einen Hilfebedarf haben, der in die Angebotsstruktur passt, wie weit die Dienste untereinander vernetzt sind, ob sie nur auf Anliegen reagieren oder aktiv an der Erreichung der jeweils bestmöglichen Lösung mit-wirken.

Aushandlungsprozesse zwischen familialem und professionellem System orien-tieren sich also nicht ausschließlich an rationalen Kriterien. Es handelt sich vielmehr um dynamische Prozesse, die besonders seitens des Pflegedienstsys-tems Sensibilität und kommunikative Kompetenz erfordern. Die Qualität der pflegerischen Dienstleistung wird in diesen Aushandlungsprozessen auch von der Fähigkeit bestimmt, die unterschiedlichen Arbeits- und Lebenswelten mit-einander zu verknüpfen.

Erst wenn die unterschiedlichen Lebens- und Arbeitswelten der hier handelnden Akteure wechselseitig wahrgenommen werden, also auch die pflegenden An-gehörigen mit ihren Erwartungen und Kompetenzen seitens des professionellen Teams nicht nur als Ressource, sondern als weitere „Experten” im Pflegepro-zess mit einbezogen werden, kann die eigentlich zu erbringende pflegerische Dienstleistung erfolgreich umgesetzt werden.