• Keine Ergebnisse gefunden

Solidarität in der Familie und in der Gesellschaft

5. Merkmale familialer Pflegearrangements

5.2 Solidarität in der Familie und in der Gesellschaft

Angehörigen muss deshalb heute als Ausdruck einer emotionalen Beziehung und nicht nur als Nutzenkalkül der gegenseitigen Verpflichtung betrachtet wer-den.214 Gefühle der Verantwortlichkeit können in Zeiten des sozialen Wandels fließend und unklar sein, bei den betroffenen Personen zu Ambivalenzen zwi-schen Verantwortungsbewusstsein und dem Wunsch nach einem eigenen Leben führen.215

Im Folgenden sollen daher Formen der Solidarität in Familien betrachtet wer-den, wobei auch Wechselwirkungen zwischen Familie und Gesellschaft in den Blick geraten.

nice to be near but not too near.“221 Dies wird auch von der älteren Generation gewünscht, die nur zu einem erstaunlich geringen Anteil gemeinsam mit ihren Kindern wohnen will. Gerade auch für ihre Seite gelte deshalb die Formel „Inti-mität – aber auf Abstand”.222

Die Art der Eingebundenheit von Großeltern in das familiale Unterstützungs-netzwerk zeigt allerdings auch hochkomplexe Bindungs- und Abstoßungsmus-ter223 und die Interaktion zwischen benachbarten Generationen ist ggf. konflikt-reicher als zwischen Großeltern und Enkeln.

Konzentriert man den Blick auf Unterstützungsleistungen zwischen familialen Generationen, zeigt sich, dass die Großelterngeneration gut in das familiale Tauschnetz integriert ist und die Unterstützungsleistungen sowohl von der jün-geren zur älteren Generation und umgekehrt vonstatten gehen.224 Jedoch zeigt sich die Integration „deutlicher in der Selbstwahrnehmung der Großeltern als in der Fremdwahrnehmung durch andere Generationen“.225

Eine andere repräsentative Studie über die privaten intergenerationellen Trans-fers von größeren Sach- und Geldbeträgen kommt zu dem Ergebnis, dass private Transfers hauptsächlich von der älteren zur jüngeren Generation flie-ßen. 226

Insgesamt kann festgestellt werden, dass durch die gestiegene Lebenserwar-tung und den damit einhergehenden Anstieg der Zahl an älteren pflegebedürfti-gen Menschen für die mittlere Generation folgt, dass neue Anforderunpflegebedürfti-gen so-wohl im privaten Bereich als auch an das soziale Sicherungssystem entste-hen.227

Die solidarischen Unterstützungsleistungen zwischen den Generationen einer Familie stehen in einem engen Wechselverhältnis zum Austausch zwischen verschiedenen Altersgruppen in der Gesellschaft. Hier ist zu berücksichtigen, dass der Begriff Generation in verschiedenen Zusammenhängen verwendet wird. Zur allgemeinen Definition bietet sich an: „Individuen verhalten sich als Angehörige von Generationen, wenn und insoweit sie ihr Handeln an

221 Vgl. Townsend, P. (1957): S. 27

222 Vgl. Hörl, J. / Rosenmayr, L. (1994): S. 87

223 Vgl. Ecarius, J. / Krüger, H.-H. (1997): S. 154

224 Vgl. Marbach, J. (1994): S. 194

225 Diese Unterschiede wurden in diversen Studien festgestellt und führten zu der These wo-nach zwischen familialen Generationen eine systematische Differenz in der Wahrnehmung der emotionalen Qualität der gegenseitigen Beziehung besteht (Vgl. Giarrusso, R. / Stal-lings, M. / Bengston, V.L., (1995): S. 227-263)

226 Vgl. Motel, A. / Szdylik, M. (1999): S. 3-22

227 Vgl. Borchers, A. (1997): S. 14 f.

ven orientieren, die sich auf ihre Zugehörigkeiten zu „Altergruppen“ in der Fami-lie, der Gesellschaft und weiteren sozialen Systemen beziehen.“228

Der Begriff wird dabei – wie es in der Definition auch anklingt – in hauptsächlich drei Bedeutungszusammenhängen verwendet:229

• Familiale Generationen bauen auf die Eltern-Kind-Beziehung auf, ihnen liegt also die biologische Abstammung zugrunde. Zwischen diesen Generationen besteht ein (mehr oder weniger direktes) Verwandtschaftsverhältnis und die jeweiligen Partner eine Generationenbeziehung kennen sich im Regelfall per-sönlich.

• Dagegen sind wohlfahrtsstaatliche Generationen ein sozialpolitisches Kon-strukt, das durch die Trennung der drei Gruppen Kinder – Erwerbstätige – Ruheständler entstehet. Die Umverteilung zwischen der Gruppe der Er-werbstätigen und den beiden nichterEr-werbstätigen Personengruppen wird durch den Generationenvertrag geregelt.230

• Weiterhin ist von gesellschaftlichen Generationen die Rede, wenn die Unter-schiede im Handeln von Alterskohorten untersucht werden sollen, die auf Grund der verschiedenen Erfahrung von historischen Ereignissen, der „sozia-len Lagerung“ entstehen.231 Als Beispiel sei hier die 68-er Generation ge-nannt.

Bei der Frage des Umgangs mit der Pflegebedürftigkeit eines Angehörigen spielen in der Hauptsache die Beziehungen zwischen familialen Generationen eine Rolle. Gerade die wohlfahrtsstaatlichen Generationen geraten dabei in die Diskussion, wenn die Belastungen von verschiedenen Alterskohorten und der Frage der Gerechtigkeit der Verteilung zwischen diesen betrachtet wird.

Das wichtigste Element der wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaften ist die interge-nerationelle Umverteilung (neben dem zu den Jüngeren über das Bildungs- Erziehungswesen – zu den Älteren über die Rentenversicherung) – diese hat durch die gestiegene Lebenserwartung stark zugenommen.232 An dieser Um-verteilung wird bemängelt, dass die Kosten der Kindererziehung überwiegend den Eltern aufgebürdet werden, die Kosten der Versorgung älterer oder pflege-bedürftiger Menschen dagegen – auch nach Einführung der Pflegeversicherung – zum Teil die Allgemeinheit.233 Daraus wird auf eine Überlastung des Genera-tionenvertrags geschlossen. Dieser wird durch die steigenden Schwierigkeiten

228 Vgl. Lüscher, K. (1993): S. 20

229 Zum Generationenbegriff siehe ausführlich Höpflinger, F. / Stuckelberger, A. (1999)

230 Vgl. Kaufmann, F.X. (1993): S. 95-108; Kohli, M. (1997)

231 Vgl. Mannheim, K.. 1928: S. 157-185

232 Vgl. Kohli, M. (1997): S. 291 f.

233 Vgl. Kaufmann, F.X. (1993)

der Finanzierung der Renten und der „explodierenden“ Kosten im Pflege- und Gesundheitswesen in Gefahr gesehen.234 Der Generationenvertrag erfährt aber große Unterstützung gerade durch die privaten Transfers zwischen den Gene-rationen einer Familie.

Fraglich ist auch, ob sich mit dem kulturellen Wandel auf der familiären Ebene Auswirkungen auf die gesellschaftliche Solidarität feststellen lassen. Unter Solidarität soll hier das Handeln verstanden werden, „das bestimmte Formen des helfenden, unterstützenden, kooperativen Verhaltens beinhaltet und auf einer subjektiv akzeptierten Verpflichtung oder einem Wertideal beruht.“235 Kaufmann236 sieht Entsolidarisierungstendenzen auf der individuellen, der kol-lektiven und der kulturellen Ebene. Pankoke237 vertritt die Meinung, der Wohl-fahrtsstaat sei mit seiner funktionalen Solidarität an seine Grenze gekommen.

Eine Versorgung sei nur noch durch eine „solidarische“ Steuerung über Netz-werke, also mittels einer auf Subsidiarität setzenden reflexiven Solidarität mög-lich. Andere fordern mehr Gemeinsinn und bürgerschaftliches Engagement.238 Um der Krise des Wohlfahrtsstaates zu begegnen, sollen informelle, private Beziehungen und ganz besonders Familien wieder stärker in die Pflicht ge-nommen werden. Hier muss allerdings vermieden werden, die Familie als „Ge-genstruktur“ zur Gesellschaft zu betrachten.239 Stattdessen wird heute von einer Parallelität der kulturellen Entwicklung von Familie und Gesellschaft ausgegan-gen.240

Andere sehen dagegen einen Wandel der Solidaritätsformen statt einer Entsoli-darisierung: „Das solidarische Kapital der Gesellschaft verkümmert nicht, es wechselt lediglich seine Formen“.241 Das soziale Engagement der Bevölkerung sei nicht geringer geworden, sondern habe sich nur verändert, es sei „zwanglo-ser, unpathetischer, vielseitiger, zeitlich und sachlich begrenzter, beweglicher, in gewissem Sinne auch unverbindlicher“242 als bisherige Formen von Solidari-tät. Diese neuen Formen der Solidarität werden als Ergänzung der wohlfahrts-staatlichen Institutionen gesehen, weshalb das „sozialdemokratische Konzept“

von Gleichheit ersetzt werden müsse durch ein Konzept von „komplexer

234 Vgl. Bengston, V.L. / Schütze, Y. (1994): S. 503 ff.

235 Vgl. Thome, H. (1998): S. 219

236 Vgl. Kaufmann, F.-X. (1996)

237 Vgl. Pankoke, E. (1995): S. 95

238 Vgl. Etzioni, A. (1995)

239 Im Rahmen des sogenannten „Strukturfunktionalismus“ wurde die Ansicht vertreten, dass in der Moderne eine strukturelle Differenzierung der Familie zur „isolierten“ Kleinfamilie erfolg-te, sowie eine funktionale Spezialisierung hin zur Herstellung und Erhaltung einer familiären Solidarität. Diese partikularistische familiale Solidarität stelle das Fundament für die soziale Solidarität dar und leiste damit die Funktion der Integration des Einzelnen in die ansonsten universalistische Gesellschaft (Parsons, T. 1970 S. 200 f.)

240 Kohli, M. (1997): S. 285

241 Vgl. Soosten, J. v. (1997): S. 43

242 Vgl. Hondrich, K.O. / Koch-Arzberger, Cl. (1992): S. 115

Gleichheit“.243 Das verweist auf die enge Wechselwirkung von Fragen der Soli-darität und Fragen der Gerechtigkeit. Einerseits wirken „gesellschaftlich institu-tionalisierte Gerechtigkeitsstandards zurück auf das Gerechtigkeitsempfinden“, das im Alltag verwendet wird, und andererseits „wirkt das Ensemble aus Ge-meinsinn und Gerechtigkeitsüberzeugungen über die Kanäle verschiedener Öffentlichkeiten zurück auf die Ebene, auf der die Verteilung von Gütern und Lasten institutionalisiert, organisiert und verrechtlicht wird“.244

Die Wechselbeziehungen zwischen Solidarsystem, also sozialpolitischen For-men der sozialen Sicherheit, und Solidarnetzen, also privater und gesellschaftli-cher Fürsorglichkeit, zeigt sich vor allem im internationalen Vergleich. Küne-mund und Rein245 kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass die meiste Hilfe von erwachsenen Kindern an ihre Eltern in Deutschland geleistet wird.

Allerdings gibt es eine Ausnahme in der Kategorie „häufige Hilfe“. Dort liegt Großbritannien an erster Stelle.

Großbritannien bildet hier zusammen mit Schweden und Belgien eine Gruppe von „Wohlfahrtsregimes“246: Erwachsene Generationen sind in diesen drei Län-dern rechtlich gesehen zu keiner gegenseitigen Hilfe und Unterstützung ver-pflichtet. Die andere Gruppe besteht aus der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz, die eine im Großen und Ganzen vergleichbare Pflicht zur gegenseitigen Unterstützung zwischen den erwachsenen Generationen gesetzlich festgelegt haben, wobei Italien ein andersartiges Regelungssystem hat, das aber in der Praxis auf ähnli-che Verpflichtungen hinaus läuft.

Die OASIS Studie247 hat den Zusammenhang zwischen wohlfahrtsstaatlichem Regime, Familienkulturen und deren Auswirkungen auf die Lebensqualität im Alter in Norwegen, Großbritannien, Deutschland, Spanien und Israel erforscht.

Diese Studie gibt wichtige Hinweise über Solidarität in den Familien, über die dort geltenden Normen und Werte, über Pflegepräferenzen, über die Nutzung von Diensten, über Bewältigungsstrategien und über Lebensqualitäten.

Hinsichtlich der Auswirkungen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und Dienste auf Familie liegen dabei grundsätzlich unterschiedliche Annahmen zugrunde: Die Substitutionsthese nimmt an, dass sich die Familie aus jenen Bereichen zu-rückzieht, in denen der Wohlfahrtsstaat Dienste oder Leistungen anbietet. Die Stabilisierungsthese nimmt dagegen an, dass sich Familie und Wohlfahrtsstaat aufgrund funktioneller Differenzierung und komplementärer Aufgaben gegensei-tig stützen. Es konnte jedoch kein Beleg dafür gefunden werden, dass sich die

243 Vgl. Sachße, Chr. (1995): S. 110

244 Vgl. Soosten, J. v. (1997): 44 f.

245 Vgl. Künemund, H. / Rein, M. (1996): S. 10

246 Vgl. Schwab, D. / Henrich, D. (1997); auch Esping-Andersen, G. (1990)

247 Vgl. Tesch-Römer, C / Motel-Klingebiel, A / Kondratowitz, H.-J. v. (2002): OASIS: S. 335-342

Familie aus jenen Bereichen zurückzieht, in denen der Wohlfahrtsstaat Dienste oder Leistungen anbietet. Obwohl die Ausweitung wohlfahrtsstaatlicher Leis-tungen zu einer Veränderung in den Familien geführt hat, hat dies aber nicht den Zerfall oder die Auflösung familialer Strukturen bewirkt.248

Die Ergebnisse der OASIS Studie stützen dabei die Annahme einer Interaktion zwischen familialer und wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung. So ist die Existenz von lebenden Kindern nur unter bestimmten wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen mit der subjektiven Lebensqualität älterer Menschen verknüpft. Demnach ist die Bedeutung familialer Netzwerke für die Lebensqualität in jenen Wohlfahrtsstaa-ten, in denen eine Infrastruktur professioneller Hilfe- und Unterstützungsleistun-gen flächendeckend erst seit einiUnterstützungsleistun-gen Jahren existiert (wie z.B. in Deutschland), höher als in jenen Wohlfahrtsstaaten mit sehr guter und langer Tradition einer Infrastruktur von Hilfs- und Unterstützungsleistungen (wie z.B. Norwegen).

Die Lebensqualität alter Menschen besteht auch bei rückläufiger Zahl erwach-sener Kinder unabhängig vom Vorhandensein wohlfahrtsstaatlich finanzierter Dienste. Für die Diskussion der Solidarität innerhalb von Familien ist dieses Ergebnis insofern von Bedeutung, da die Existenz von lebenden Kindern nicht automatisch unter wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen mit der subjektiven Le-bensqualität älterer Menschen verknüpft werden kann. Die Funktionen von Familien werden auch, aber eben nicht nur, durch die kulturellen und sozialpoli-tischen Strukturen bestimmt, in die sie eingebettet sind.

Die dargestellten Befunde zu den Auswirkungen des kulturellen Wandels auf die Vorstellungen und Umsetzungsformen von Solidarität zwischen den Gene-rationen lassen sich (trotz der unterschiedlichen Analyseergebnisse) dahinge-hend zusammenfassen, dass in den Familien eine Emotionalisierung der Gene-rationenbeziehungen feststellbar ist, auch bedingt durch den Anstieg des Bil-dungsniveaus und den Wandel der Erziehungsstile. Gleichzeitig müssen aber die Inhalte und Formen von Beziehungen stärker denn je ausgehandelt werden, was zu einer Rationalisierung der Beziehungen führen kann.

Im Folgenden sollen daher Bedingungen analysiert werden, die eine Pflege-übernahme in der Familie beeinflussen und welche Auswirkungen die Pflege eines Angehörigen auf die pflegende Person hat.

248 Vgl. Attias-Donfut, C. (2000): S. 222-244; Motel-Klingebiel, A. (2000)