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Bedingungen der Pflegeübernahme

5. Merkmale familialer Pflegearrangements

5.3 Bedingungen der Pflegeübernahme

Tabelle 2: Geschlecht, Verwandtschaftsbeziehungen und Wohnform der privaten Hauptpflegepersonen von Pflegebedürftigen in Privathaushalten:

Merkmal der Hauptpflegeperson 2002 Anteil (in %) Geschlecht

Weiblich männlich

73 27 Beziehung zur Pflegebedürftigen Person

(Ehe-) Partner Mutter

Vater Tochter Sohn

Schwiegertochter Sonstige Verwandte Nachbar/Bekannte

28 12 1 26 10 6 7 8 Wohnform

Alleinlebend

Gemeinsamer Haushalt

31 69 Quelle: Schneekloth, U. / Wahl, H.W. (2005): S. 69, eigene Darstellung

Bracker hat vor dem Hintergrund, dass Frauen die wichtigste Hauptpflegeper-son (73%) darstellen, geschlechterspezifische Kriterien für die Art der Über-nahme von Pflegeaufgaben aufgezeigt, die sie in die Organisation und die tat-sächliche Erbringung der Pflege unterteilt: „Die Pflege bedeutet für beide Ge-schlechter die Übernahme von Verantwortung für die Person und die Pflegesi-tuation insgesamt, aber während Frauen sich (meist allein-) zuständig fühlen für die Durchführung der Pflege, konzentrieren Männer eher ihr Verantwortungsge-fühl auf die Organisation der Pflege; sie sind überwiegend bereit und in der Lage, die Durchführung zumindest teilweise an andere Personen zu delegie-ren.“252

Bemerkenswert ist, dass mittlerweile verstärkt männliche Angehörige als Pfle-geperson tätig werden. So betrug nach dem Vierten Altenbericht der Bundesre-gierung der Anteil der pflegenden Ehemänner Mitte der 90er Jahre bundesweit ca. 17%253 und ist nach den jüngsten Veröffentlichungen von Schneekloth im Rahmen der Infratest Erhebung254 im Jahr 2002 auf inzwischen 27% angestie-gen. Vor allem der Anteil der Söhne, der nach den Erhebungen aus dem Jahr 1998255 noch ca. 5% betrug, beläuft sich im Jahr 2002 auf 10% (siehe S. 96).

252 Vgl. Bracker, M. (1992): S. 337; Bracker, M (1990): S. 38-41

253 Vgl. Deutscher Bundestag (2002) (a): BT-Drs.: 14/8822, S. 190

254 Vgl. Schneekloth, U. / Wahl, H.W. (2005): S. 77

255 Vgl. Schneekloth, U. / Müller, U. (2000): S. 52

Dennoch scheint ein Mann, der direkte Pflegeaufgaben übernimmt, mehr ge-sellschaftliche Beachtung zu erhalten als eine Frau, bei der diese Aufgabe eben noch selbstverständlich erscheint. Frauen scheinen in der öffentlichen Wahr-nehmung immer noch aufgrund ihres „weiblichen Arbeitsvermögens“ viel besser auf die Aufgaben der Pflege vorbereitet zu sein; einige dieser Tätigkeiten gelten gar als „natürlich“ weibliche Aufgaben, wie Hilfe bei der Körperpflege oder bei der Haushaltsführung (vgl. auch Kapitel 4.3). Mancher Pflegedienst unterstellt diese weibliche „Pflegereserve“ als selbstverständlich, wenn z.B. automatisch davon ausgegangen wird, dass bei diesen Tätigkeiten sowieso kein Unterstüt-zungsbedarf besteht.

Diese Daten scheinen in einem Widerspruch zu den Ergebnissen über die ge-schlechtsspezifische Verteilung des Gefühls persönlicher Verpflichtung zu ste-hen. Auf der Ebene der Normvorstellungen lassen sich keine Geschlechtsdiffe-renzen bei der Einstellung zur Familienpflege finden.256 Die Autorinnen sehen dadurch frühere Vermutungen bestätigt, dass die Geschlechtsspezifika bei der Verpflichtung Verantwortung zu übernehmen, weniger stark sind als von der Forschung angenommen.

Diese Einschätzung wird auch von ausländischen Studien gestützt. So kommt eine kanadische Studie zu dem Ergebnis, dass sowohl die Töchter als auch die Söhne dieselbe moralische Verpflichtung fühlen, emotionale, instrumentelle und finanzielle Unterstützungsleistungen zu erbringen.257 Entsprechend führten amerikanische Studien zu dem Ergebnis, dass Söhne genauso wie Töchter in der Pflege ihrer Eltern engagiert sind, wenn sie Einzelkinder sind oder nur Brü-der haben.258 Diese Ergebnisse sprechen gegen die Sichtweise einer einseiti-gen Geschlechtsorientierung der Pflegerolle.

Eine andere Studie führte zu dem Ergebnis, dass bei den pflegenden Personen so gut wie keine geschlechtspezifischen Unterschiede bestehen in Bezug auf den Schweregrad der Behinderung der pflegebedürftigen Person wie auch in Bezug auf den Aufgabenumfang der Pflege. Geringe Unterschiede ergaben sich lediglich darin, dass Frauen in der Tendenz eher die Aufgaben der Körper-pflege und des Haushalts übernehmen und sich höher belastet fühlen als Män-ner.259 Eine stärkere geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wurde in einer briti-schen Studie festgestellt: Danach ist im allgemeinen Verständnis die finanzielle Unterstützung der Eltern eine Aufgabe der Söhne, während die Pflege der Müt-ter die Aufgabe der TöchMüt-ter ist. Dagegen waren die befragten Personen der Auffassung, dass bei der Pflege der Väter sich die Töchter und Söhne die Auf-gaben teilen sollten auf Grund der bestehenden körperlichen Tabus.260

256 Vgl. Schütze, Y. / Wagner, M. (1995): S. 320

257 Vgl. Wolfson, u.a. (1993): S. 320 f.

258 Vgl. Matthews, S. (1987); Coward, R.T. / Dwyer, J.W. (1990)

259 Vgl. Miller, B. / Cafasso, L. (1992): S. 505

260 Vgl. Finch, J. / Mason, J. (1990): S. 159

Andere Forscher kommen dagegen zu dem Ergebnis, dass Söhne bei kleineren Pflegeaufgaben ähnlich häufig am Hilfenetzwerk beteiligt sind wie Töchter, dass sie jedoch bei steigendem Hilfebedarf immer seltener als Haupthelfer genannt werden.261

Die Forschungsbefunde zu der geschlechtsspezifischen Verteilung von Pflege-aufgaben lassen sich so zusammenfassen, dass auf der Ebene des Sich-verpflichtetfühlens keine Unterschiede zwischen Töchtern und Söhnen beste-hen bei der subjektiven Verpflichtung gegenüber pflegebedürftigen Eltern. Je-doch wird mit zunehmendem Hilfe- und Pflegeaufwand das Verhältnis zwischen Männern und Frauen immer unausgeglichener. Hier vermuten Schütze und Wagner, dass insbesondere bei Töchtern „ihre Lebenssituation es ihnen eher erlaubt, Pflegeleistungen zu erbringen und sie sich deshalb auch eher dazu verpflichtet fühlen.“262

Als zweiter wichtiger struktureller Faktor der Pflegeübernahme gilt das Zusam-menleben in einer gemeinsamen Wohnung oder in einem gemeinsamen Haus.263 Dabei setzt die Übernahme der Rolle der Hauptpflegeperson nicht unbedingt voraus, dass man mit der pflegebedürftigen Person im gleichen Haushalt wohnt. Ob Pflegende und Gepflegte getrennt oder zusammen leben, hat einen entscheidenden Einfluss darauf, welche Bewältigungsstrategien die Angehörigen entwickeln und in welchem Maße sie auf die Hilfe von Diensten zählen. Die Mehrheit der Hilfe- und Pflegebedürftigen lebt in einem gemeinsa-men Haushalt mit der Hauptpflegeperson, wie die Tabelle auf S. 96 verdeutlicht.

Dabei leisten Angehörige, die mit der pflegeabhängigen Person in demselben Haushalt leben, die zeitaufwändigste und intensivste Pflege.264 Überwiegend handelt es sich hier um Ehepaare. In dieser Gruppe ist die Belastung der Pfle-genden am größten; Hilfen von außen werden aus Unsicherheit eher selten einbezogen.265

Etwas anders stellt sich die Situation von allein lebenden Pflegebedürftigen dar.

Auffällig ist hier zunächst, dass sich im Vergleich zur Situation zu Beginn der 90er Jahre der Anteil der alleinlebenden Pflegebedürftigen von damals 20% auf 31% in 2002 erhöht hat (siehe Seite 96).266

Hier verfügen nur 37% über eine Hauptpflegeperson, die nicht weiter als maxi-mal 10 Minuten entfernt wohnt. Bei 14% sind es bereits bis zu 30 Minuten, bei 7% mehr als 30 Minuten, während 21% der allein lebenden Pflegebedürftigen

261 Vgl. Stoller, E.P. / Forster, L./Duniho, T.S. (1992)

262 Vgl. Schütze & Wagner (1995), S. 320

263 Vgl. Hedtke-Becker, A. / Schmidtke, Cl. (1985); Lamprecht, P. / Bracker, M. (1992)

264 Vgl. Parker, G. (1990): S. 12

265 Vgl. Schneekloth, U. / Müller, U. (2000) S. 56

266 Vgl. Schneekloth, U. / Wahl, H.W. (2005): S. 69

auf gar keine Hilfen zurückgreifen können. Hier erfolgt am ehesten die Versor-gung durch professionelle Dienste.267

Die Zahl der Einpersonenhaushalte nimmt ständig zu; sie beträgt nach den Angaben des Mikrozensus aus April 2002 36,7% der Privathaushalte,268 wobei die Zahl der Älteren Alleinstehenden zunimmt, so dass manche hier von einer

„Singularisierung“ im Alter sprechen.269 Für diese Entwicklung können sinkende Heiratsziffern und wachsende Scheidungsraten verantwortlich gemacht werden.

Eine Schätzung besagt, dass der Anteil der Geschiedenen unter den über 60-Jährigen von cirka vier Prozent im Jahr 1990 auf rund elf Prozent im Jahr 2030 ansteigen wird; der Anteil lediger Personen in diesem Alter soll von sieben Prozent auf elf Prozent wachsen.270

Es wird zukünftig daher von Bedeutung sein, ob sich neue Lebensformen jen-seits von Ehe und Elternschaft für die Erbringung von Pflegeleistungen als tragfähig erweisen. Gegenwärtig lässt sich nur feststellen, dass Defizite an Unterstützungsnetzwerken in bestimmten sozialen Lagen kumulieren, etwa bei alleinlebenden Frauen im Alter, die auf kein Verwandtschafts- oder Bekannt-schaftsnetz mehr zurückgreifen können. Vor dem Hintergrund der Individualisie-rungsprozesse wären „Polarisierungstendenzen bei der Verteilung von familia-len Unterstützungsressourcen“ zu erwarten.271 Die prognostizierten Verände-rungen der Haushaltsstrukturen deuten zumindest an, dass in Zukunft mit einer stärkeren Bedarf an professionellen Dienstleistungen zu rechnen ist, da immer weniger alte Personen mit Familienmitgliedern aus mehreren Generationen zusammenleben.

Diese Entwicklungen werden begleitet von steigender regionaler Mobilität und der Verminderung räumlich-sozialer Bindungen. Eine stärker individualisierte Lebensweise – auch in räumlicher Hinsicht – tritt immer mehr an die Stelle eher traditioneller und herkunftsverbundener Lebensformen. Räumliche Trennung muss kein Hindernis für die soziale Unterstützung zwischen Familienmitgliedern sein,272 aber sie erweist sich doch als relevanter „Kostenfaktor” für die Unter-stützung von Eltern durch ihre Kinder. Auch wenn sich das Zusammenleben von Familienmitgliedern nicht unbedingt förderlich auf deren Unterstützungsbe-reitschaft auswirken muss,273 ist offenkundig, dass aufwendige Unterstützungs-anforderungen – die häusliche Pflege stellt wohl eines der anspruchsvollsten Beispiele der Solidarpraxis dar – räumliche Nähe zwischen Hilfeempfänger und Hilfeleistenden notwendig machen.

267 Vgl. Infratest Sozialforschung (2003), S. 21

268 Vgl. Statistisches Bundesamt Deutschland (2003) (c)

269 Vgl. Rosenmayr, L. (1987): S. 460-485

270 Vgl. Rosenkranz, D. (1996): S. 209-218

271 Vgl. Diewald, M. (1991)

272 Vgl. Lüschen, G. (1989): S. 435-452; Backes, G. (1996): S. 29-32

273 Vgl. Parsons, T. (1964): S. 84-108

So kamen in einer Untersuchung 37% der Pflege in der Familie dadurch zu Stande, dass schon seit langen Jahren eine Wohngemeinschaft zwischen Tochter und Elternpflegeperson bestand.274 Die Autorin weist darauf hin, dass die Übernahme von Pflegeverantwortung oft schon eine Vorgeschichte hat, also bereits zuvor eine andere Person gepflegt wurde. Darüber hinaus findet sie auch einen ökonomischen Zusammenhang: Bei ausreichenden finanziellen Mitteln besteht eine Tendenz zur Inanspruchnahme professioneller Dienste und zur Heimpflege, da so die „Intimität auf Abstand“ gewahrt werden kann.

Bei der Betrachtung des Generationen übergreifenden Zusammenlebens als einen Faktor für die Pflegeübernahme muss aber bedacht werden, dass dieses auch als abhängige Variable verstanden werden kann, da es das Ergebnis früherer Entscheidungen in der Beziehungsgeschichte der Generationen ist. Für die Erklärung des Zustandekommens von Pflegebeziehungen kann dieser Fak-tor damit nur einen ersten Schritt darstellen.