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Beziehungsorientierte Pflege

7. Handlungsansätze für die Weiterentwicklung

7.1 Handlungsansätze innerhalb bestehender

7.1.1 Beziehungsorientierte Pflege

Die Analyse der möglichen Rollenzuordnungen für pflegende Angehörige im Pflegeprozess in Kapitel 6.2 und 6.3.2. hat gezeigt, dass die Angehörigenper-spektive in der Tätigkeit der Pflegedienste noch nicht ausreichend Berücksichti-gung findet.

Hier liegen für die Pflegewissenschaft sowie für die Aus-, Fort- und Weiterbil-dung wichtige Aufgaben.419 Die Berücksichtigung der Angehörigenperspektive in der Praxis der Pflegedienste erfordert eine Erweiterung des bisherigen Leit-bildes, das sich noch vorwiegend an medizinisch-pflegerischen Bedürfnissen des Pflegebedürftigen und zu wenig an den sozialen Bedürfnissen der Angehö-rigen orientiert. So beinhalten z.B. Leitbilder kirchlicher Pflegeanbieter (von wenigen Ausnahmen abgesehen) vor allem das dem Handeln zugrunde liegen-de Menschenbild, Ethik und Weltanschauung, Führungsgrundsätze sowie das zugrunde liegende Qualitätsverständnis, nicht jedoch auch die Angehörigenper-spektive.420

Pflegefachkräfte müssen auf die Zusammenarbeit mit Angehörigen durch ihre Erstausbildung sowie durch Fort- und Weiterbildung systematisch vorbereitet werden, damit Bewältigungsstrategien nicht ausschließlich „on the job“ erlernt werden müssen, was ja nur innerhalb enger Grenzen möglich ist.421

Es geht dabei um eine qualitativ andere Sicht des Pflegearrangements, da Pflege immer Auseinandersetzungsprozesse aller Familienmitglieder und nicht nur der Betroffenen selber erfordert. Die Befähigung der Familienmitglieder, mit

419 Vgl. Jansen, B. (1999): S. 604-629

420 Vgl. z.B. Caritasverband Hannover, (2002): „Unser Leitbild“

Vereinzelt vorfindbare positive Beispiele für die Verankerung der Angehörigenperspektive machen jedoch auch deutlich, dass die Angehörigenarbeit bereits heute ein wichtiges Ele-ment des Leitbildes darstellen könnten. Ein positives Beispiel für ein solches Leitbild findet sich z.B. in der Darstellung der Caritas Wien über ihr Verständnis und deren Einbeziehung von Angehörigen in der ambulanten und stationären Pflege; vgl. Caritas Wien (2005): Ange-hörigenarbeit

421 Vgl. Evers, A. / Olk, Th. (1996): S. 360

belastenden Situationen zurechtzukommen, sollte ebenfalls eine Aufgabe der professionellen Pflegekraft sein. Befähigung im Sinne von empowerment (Vgl.

Kapitel 6.3.1) setzt voraus, dass die Familien zunächst in die Lage versetzt werden, belastende Situationen zu erkennen um eigenverantwortlich handeln zu können. Dabei bedürfen Kommunikations- und Interaktionsprozesse inner-halb des Beziehungsgeflechtes Pflegebedürftiger – Angehörige – Betreuungs-team besonderer Beachtung, da sie für eine konstruktive Zusammenarbeit aller Beteiligten von zentraler Bedeutung sind, zumal sich Aushandlungsprozesse, wie in Kapitel 6.3.3 dargelegt, nach eigenlogischen Verhaltensmustern richten und nicht nach objektivierbaren Kriterien.

Ziel solcher Qualifizierungsmaßnahmen sollte es sein, die Sensibilität für verba-le und non-verbaverba-le Signaverba-le in Interaktionsmustern zu stärken, patientenzentrier-te Möglichkeipatientenzentrier-ten des Umgangs mit empfangenen Botschafpatientenzentrier-ten kennenzulernen und in Beispielssituationen zu erproben. Dabei können eigene Anteile im Ge-sprächs- und Beratungsverhalten erkannt und auf der Basis der zu vermitteln-den Kenntnisse kritisch reflektiert wervermitteln-den. Darüber hinaus sollten Beratungs-strategien vermittelt werden, die im Rahmen der kommunikativen Aushand-lungsprozesse helfen können, Kommunikationsmuster für den Umgang mit Konfliktsituationen zu finden. Dieses Erfordernis resultiert vor allem aus dem interaktiven Charakter der personenbezogenen Dienstleistung (vgl. Kapitel 4), da erst durch kommunikative Kompetenzen die erforderliche Vertrauensbasis für eine erfolgreiche Koproduktion mit dem Pflegebedürftigen und seinen Ange-hörigen geschaffen werden kann.

Dieses professionelle Qualifikationsprofil wird bisher allenfalls in Ansätzen ver-mittelt. So sieht die Stundentafel der Altenpflege- Ausbildungs- und Prüfungs-verordnung vom 26. November 2002 auch die „Anregung und Beteiligung von Familien- und Nachbarschaftshilfe und die Beratung pflegender Angehöriger”

vor.422 In den auf Landesebene auszugestaltenden Rahmenlehrplänen für die Altenpflege werden diese Aspekte zwar konkretisiert, wie am Beispiel des hes-sischen Entwurfs deutlich wird423; als Lernziel wird hier aber nur formuliert,

„dass Schüler in der Lage sein sollen, zu älteren Menschen, ihren Angehörigen und Bezugspersonen Kontakt aufzunehmen, eine wertschätzende Beziehung zu gestalten und Beratung und Anleitung in altenpflegerisches Handeln zu integrieren“.

Kontaktaufnahme und Wertschätzung sind zwar wichtige Voraussetzungen für Kommunikations- und Interaktionsprozesse im Pflegedreieck, aber die Angehö-rigen werden hier doch noch in erster Linie als Adressaten von „Beratung und

422 Vgl. Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für den Beruf der Altenpflegerin und des Alten-pflegers (2002): Anlage 1 zu § 1 Abs. 1, BGBL S. 4418

423 Vgl. Hessisches Sozialministerium (2003): Entwurf eines Rahmenlehrplans für die Altenpfle-ge in Hessen auf der Basis der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für den Beruf der Alten-pflegerin und des Altenpflegers (ALtPflAPrV)

Anleitung“ gesehen und nicht als potenziell gleichberechtigte Partner im Pflege-dreieck.

Um als Moderator in Aushandlungsprozessen mit dem Familiensystem qualifi-ziert agieren zu können, wären in der Aus-, Fort- und Weiterbildung Module der Moderation, Anleitung, Beratung, Kommunikation und Interaktion erforderlich.

Neben der theoretischen Vermittlung von Kenntnissen sollte vor allem auch den praktischen Fähigkeiten zur Gesprächsführung und Beratung sowie den Aspek-ten Lebenswelt, Beziehungs- und Familiendynamik mehr Bedeutung beigemes-sen werden.

Die Erarbeitung angemessener systematischer Lösungsstrategien, die aus den Belastungssituationen pflegender Angehöriger resultieren, müsste daher in weitergehenden „Interaktionsmodulen” und Rollenübungen ausreichend Platz in der berufspraktischen Ausbildung sowie in der Fort- und Weiterbildung fin-den424. Diese im angloamerikanischen Raum als „caring for the carers”425 etab-lierte Aufgabe bedeutet, der Angehörigenperspektive im Sinne von Bezie-hungsarbeit Rechnung zu tragen. Dann erst können sich – kooperativ – auch neue Wege zu situationsgerechteren Lösungen finden lassen.

Die Rolle der verantwortlichen Pflegefachkraft

Ambulante Pflegeeinrichtungen handeln als selbständig wirtschaftende Einrich-tungen, die unter ständiger Verantwortung einer ausgebildeten Pflegefachkraft Pflegebedürftige in ihrer Wohnung pflegen und hauswirtschaftlich versorgen (§ 71 Abs. 1 SGB XI).

Die verantwortliche Pflegefachkraft muss neben dem Abschluss einer Ausbil-dung als Krankenschwester oder Krankenpfleger, als Kinderkrankenschwester oder Kinderkrankenpfleger oder als Altenpflegerin oder Altenpfleger über eine berufspraktische Erfahrung im erlernten Pflegeberuf verfügen (§ 71 Abs. 3 SGB XI). Darüber hinaus muss sie nach den Bestimmungen der „Gemeinsa-men Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung”426 den Abschluss einer Weiterbildungsmaßnahme von mindestens 460 Stunden nach-weisen können.

424 Vgl. hierzu: Fachhochschule Frankfurt (2000): Prüfungsordnung des Fachbereichs Pflege und Gesundheit für den Studiengang Pflege vom 26.02.2000, Fach G 5: „Moderation, Anlei-tung, BeraAnlei-tung, Kommunikation“

425 Vgl. Schaeffer, D. (1997): S. 83-95

426 Vgl. Gemeinsame Grundsätze und Maßstäbe zur Qualität und Qualitätssicherung nach § 80 SGB XI

Die Inhalte dieser Weiterbildungsmaßnahme sind in einer Empfehlung der Spit-zenverbände der Pflegekassen427 vorrangig auf Managementkompetenzen (z.B. Personalführung, Betriebsorganisation, betriebswirtschaftliche Grundla-gen, RechtsgrundlaGrundla-gen, Gesundheits- und sozialpolitische Grundlagen) ausge-richtet, wobei Kompetenzen, die für die Zusammenarbeit mit den Familien in-nerhalb des Pflegedreiecks erforderlich sind, weitestgehend unberücksichtigt bleiben.

Die Übernahme der ständigen Verantwortung für die Kommunikation mit dem Familiensystem im Pflegeprozess erfordert, dass auch hierfür die erforderlichen Kompetenzen vermittelt werden. Diese gehen über rein pflegerische Kompe-tenzen weit hinaus. Die verantwortliche Pflegefachkraft müsste in der Lage sein, neben den Managementaufgaben zur Ablaufgestaltung der Pflegedienst-aufgaben (wie z.B. der Dienst- und Tourenplanung, der fachlichen Planung der Pflegeprozesse, der fachgerechten Führung der Pflegedokumentation, der regelmäßigen Durchführung und fachlichen Leitung von Dienstbesprechungen) auch die Grundlage für die Einbeziehung der pflegenden Angehörigen in die Pflegeprozesse zu schaffen.

Gemeinsame Pflegeplanung

Wenn in gemeinsamer Absprache Aufgabenverteilungen vorgenommen werden und dabei jeder die Handlungssphäre des anderen respektiert, kann ein aktiver, dialogisch orientierter Kooperationsprozess entstehen. Die Pflegekräfte des professionellen Pflegedienstes und die pflegenden Angehörigen könnten ideal-typisch ein Team unterschiedlicher Kompetenzen bilden, deren Handlungen aufeinander abgestimmt sind. Dieser Handlungsansatz geht letztlich auf den interaktiven Charakter der personenbezogenen Dienstleistung Pflege zurück, der sowohl die Arbeit für als auch mit dem Klienten prägt (vgl. Kapitel 4.1).

Bei einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Angehörigen und Pfle-gedienstmitarbeitern können durch eine Berücksichtigung biografischen Wis-sens bei der Pflegeplanung das Pflegeergebnis verbessert und das Selbsthilfe-potenzial pflegender Angehöriger gefördert werden.428

Bei der Erstellung der individuellen Hilfeplanung sollte neben den erforderlichen pflegerischen Maßnahmen und Zielen auch als Teil der Planung die

427 Vgl. Ständige Konferenz der Weiterbildungsinstitute für Leitende und Lehrende Pflegeperso-nen (1998): Rahmenkonzept für die Weiterbildung zur verantwortlichen Pflegefachkraft

428 Dass allein durch die Einbeziehung biografischen Wissens eine Verbesserung der Pflege-planung erreicht werden kann, wird am Beispiel einer Demenzkranken deutlich, die allmor-gendlich starke Unruhe und Weglauftendenzen entwickelte, weil sie sich – wie früher ge-wohnt – auf den Weg ins Büro machen wollte. Nachdem der tägliche Besuch des Pflege-dienstes in den entsprechenden Zeitraum verlegt wurde, konnte das Problemverhalten an-gemessen aufgefangen werden, (BMFSFJ: 2004: S. 147)

hung pflegender Angehörigen vorgesehen werden. Professionell Pflegende müssen sich darauf einlassen können, dass sie pflegerische Unterstützungs-maßnahmen nicht einseitig vorschlagen, sondern dass diese im Rahmen eines dialogischen Aushandlungsprozesses zwischen Pflegebedürftigem, Angehöri-gen und Pflegedienst vereinbart werden.

Die Einbeziehung von pflegenden Angehörigen in das Pflegegeschehen erfor-dert, diese nicht als Störfaktor wahrzunehmen, sondern sie aktiv an der Pla-nung, Durchführung und Evaluation der Pflegeprozesse zu beteiligen. Von den Pflegekräften verlangt dies organisatorische und planerische Fähigkeiten, so z.B. die Identifikation vorhandener familialer Hilfepotenziale im Umfeld des Patienten und ihre systematische Einbindung in die Pflege. Um Konzepte zur Einbindung von Angehörigen realisieren zu können, bedarf es spezieller Fähig-keiten für die kontinuierliche Begleitung von Angehörigen, also praxisbegleiten-der und -anleitenpraxisbegleiten-der Kompetenzen. Dies gilt um so mehr, als die Pflege – wie in dem Konzept der aktivierenden Pflege gefordert – nicht lediglich an, sondern gemeinsam mit dem Klienten geplant und durchgeführt werden soll.

Eine wesentliche Voraussetzung für eine gelingende Kooperation liegt somit in der Vermittlung zwischen privaten Pflegebeziehungen und professionellem Hilfe- und Pflegesystem. Auf der einen Seite geht es darum, die private Kultur familialer Pflege durchlässiger und offener für Hilfeangebote von außen zu gestalten.

Erkenntnisse empirischer Untersuchungen zur Beurteilung der Qualität häusli-cher Pflege aus der Sicht der Nutzer unterstützen diese Notwendigkeit (vgl.

Kapitel 6.3.1). Denn hier wird deutlich, dass für den Aufbau einer vertrauensvol-len Beziehung personelle Kontinuität, Sorgfalt, gegenseitiger Respekt und Be-rücksichtigung der individuellen Gewohnheiten und Bedürfnisse wesentlich sind.

Idealerweise kann so eine neue Form von Teamarbeit entstehen, in der die Angehörigen als kompetente Partner im Pflegeprozess anerkannt werden, auch wenn sie bei der Bewältigung ihrer komplexen Aufgaben Unterstützung benöti-gen. Nach Steiner-Hummel429 könnte eine Pflegepartnerschaft folgende Merk-male umfassen:

• instrumentelle Unterstützung bei der Vermittlung und dem Zugang von Hilfen für Pflegende, die an die Erfordernisse der jeweiligen Pflegesituation ange-passt werden,

• informative Unterstützung, die versucht, für die Betroffenen ein überschauba-res Umfeld von Diensten zu schaffen und ihre Kompetenz im Umgang mit Hilfeangeboten zu stärken,

429 Vgl. Steiner-Hummel, Irene (1993): S. 140

• evaluative Unterstützung, die den Pflegenden Lern- und Vergleichsmöglich-keiten zur Verfügung stellt, zum Beispiel durch Gesprächs- und Selbsthilfe-gruppen oder den Dialog mit professionellen Helfern.

Eine partnerschaftlich orientierte Zusammenarbeit setzt voraus, dass die Pfle-gefachkräfte vom stellvertretenden Expertenhandeln zu einer unterstützend-assistierenden Hilfeform übergehen, damit die Verbesserung der gesamten Pflegesituation gelingen kann.

Das notwendige Eingehen auf die Bedarfe der pflegenden Angehörigen, das Sicheinlassen auf die Eigenlogik des Familiensystems mit den hierfür erforderli-chen Aushandlungsprozessen führt zu einer notwendigen Ausdifferenzierung des bisherigen Angebotsspektrums und des Leitbildes der ambulanten Dienste.

Die Etablierung der Angehörigenperspektive in der Versorgungslandschaft setzt auch voraus, dass familiale Pflege als wichtiger Beitrag zur Bewältigung einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe stärker wahrnehmbar wird. Ein breit angeleg-ter gesellschaftlicher Diskurs, in dessen Rahmen häusliche Pflege und Pflege-kultur aus der privat-intimen Isolation heraustreten und zu einem öffentlich diskutierten Thema werden, das alle angeht, könnte hierzu wichtige Beiträge leisten.