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Zur Verbreitung rechtspluralistischer Konzeptio- Konzeptio-nen

Im Dokument Recht als Übersetzung (Seite 32-36)

2 Rechtspluralismus, Rechtsprechung und Gewohnheitsrecht

2.1 Recht im Plural

2.1.2 Zur Verbreitung rechtspluralistischer Konzeptio- Konzeptio-nen

Die Vorstellung, Recht als Phänomen auch jenseits von Staatlichkeit zu begreifen, ist auch im Westen keinesfalls neu. Lange Zeit waren die Pluralität von Recht und die Bedeutung nicht-staatlicher Rechtsquel-len eine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig gab es immer wieder Be-strebungen, Recht zu zentralisieren und zu vereinheitlichen.52 Doch auch nach den großen kontinentaleuropäischen Kodifizierungen im 19. und 20. Jahrhundert argumentierte etwa Eugen Ehrlich gegen eine

50 Vgl. Fitzpatrick, 22 Osgoode Hall Law Journal (1984), 115 (117, 123).

51 Merry, 22 Law & Society Review (1988), 869 (886).

52 Für das Gebiet des heutigen Deutschlands stellte die Rezeption römischen Rechts den größten Vereinheitlichungsprozess dar. Die neuzeitliche Statutenlehre, die das Verhältnis zwischen allgemeinem römischen Recht und verschiedenen lokalen Rechten bestimmte, bewirkte nämlich die Verdrängung lokaler Rechte, vgl. Trusen, Römisches und partikuläres Recht in der Rezeptionszeit, in: Kuchinke (Hrsg.), Rechtsbewahrung und Rechtsentwicklung, 1970, S. 110 ff. Das Beispiel verdeut-licht, dass auch »Anerkennung« zu Verdrängung führen kann, da nach der Statu-tenlehre Gewohnheitsrecht eigentlich nicht nur seinen Rechtscharakter bewahrte, sondern hierarchisch über dem gelehrten Recht römischen Ursprungs stand. Ein historisches Gegenbeispiel zur Vereinheitlichung ist die Einrichtung von vier ober-sten Qadis für die jeweiligen Rechtsschulen des sunnitischen Islam durch den Sul-tan Baybar im Jahre 1265. Diese führte zu einer Dezentralisierung des offiziellen Rechts, da zuvor nur eine einzige Schule (Shafi'i) das staatliche Monopol ausübte, vgl. zu verschiedenen Erklärungsversuchen hierfür und zum kooperativ-konkur-rierenden Verhältnis zwischen den Gerichten: Shahar, 15 Islamic Law and Society (2008), 112 (131 ff.).

exklusive Bindung von Recht und Staat.53 Diese Sicht wurde jedoch durch den zentralisierenden Fokus auf den Staat verdrängt, der sich auch in der wissenschaftliche Auseinandersetzung durchsetzte.54 Zwar verschwanden »gewohnheitsrechtliche« oder religiöse Normen nicht. Sie verloren jedoch durch immer weitergehende staatliche Rechtssetzung ihren Raum. Aus der »relativen Bedeutungslosigkeit staatlichen Rechts«55 bei Ehrlich wurde die Bedeutungslosigkeit nicht-staatlichen Rechts. Die Reduzierung von Recht auf Normen nicht-staatlichen Ursprungs war also eng verbunden mit der Entwicklung des moder-nen Nationalstaats in Europa.56

In der Folge beschäftigte sich in erster Linie die Rechtsethnologie, die Gesellschaften ohne Staat an »exotischen« Orten in Asien oder Af-rika beschrieb, mit normativen Ordnungen jenseits des Staates. Von der übrigen Rechtsforschung57 disziplinär deutlich getrennt, konnte hier ohne dogmatische Zwänge ein Rechtsbegriff verwendet werden, der deutlich offener war.58 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewann das Nebeneinander von nicht-staatlichem und staatlichem

53 Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1989. Dass dies Ehrlich zu einem

»Ur-Vater« rechtspluralistischer Forschung macht, als der oft beschrieben wird, ist dagegen nicht zwingend. Vgl. zum Einfluss Ehrlichs auf verschiedene Strömun-gen aktueller rechtspluralistischer Forschung: Nelken, 9 Theoretical Inquiries in Law (2008), 443 (447 ff.).

54 Der Rechtspositivismus lieferte damit die rechtstheoretische Flankierung dieser Verstaatlichung. Kelsen, der nicht zuletzt wegen seiner harschen Auseinanderset-zung mit Ehrlich oft als Antipode rechtspluralistischer Konzeptionen dargestellt wird, verwirft in seinem Spätwerk jedoch den früheren Anspruch logischer Wider-spruchsfreiheit, den er in der Reinen Rechtslehre aufgestellt hatte. Mit der Kon-struktion der Grundnorm als reine Fiktion, die nicht zwangsläufig an den Staat ge-koppelt sein muss, öffnet er zudem Raum für die Berücksichtigung nicht-staatli-chen Rechts unabhängig von dessen Anerkennung durch den Staat. Er steht damit trotz aller Differenzen pluralistischen Ansätzen näher, als vielfach vermutet, vgl.

Fischer-Lescano, Monismus, Dualismus? – Pluralismus, in: Brunkhorst/Voigt (Hrsg.), Rechts-Staat, 2008, S. 212 ff.

55 So Röhl, Auflösung des Rechts, in: Lorenz/u.a. (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, 2005 S. 1162.

56 Vgl. Arthurs, »Without the law«, 1985, der die Verdrängung nicht-staatlicher Ord-nungen im viktorianischen England beschreibt.

57 Zum Verhältnis zwischen Rechtssoziologie und Rechtsethnologie Benda-Beck-mann, Unterwerfung oder Distanz, in: Benda-Beckmann/Benda-Beckmann (Hrsg.), Gesellschaftliche Wirkung von Recht, 2007, S. 177 ff.

58 Das bedeutet nicht, dass diese Verwendung frei von politischen Erwägungen war.

Gerade in der Kolonialzeit waren rechtsethnologische Forschung eng miteinander verbunden, vgl. 2.3.2.4.

Recht mit dem Blick auf die Anerkennung sogenannter gewohnheits-rechtlicher Normen und Institutionen im kolonialen und post-kolonia-len Kontext der nach Unabhängigkeit strebenden Kolonien zuneh-mend an Bedeutung. Diese Koexistenz verschiedener Rechte wurde schließlich mit dem Terminus Rechtspluralismus beschrieben.59 Hin-tergrund war hier also ein ganz spezifischer Diffusionsprozess,60 näm-lich das gewaltsame Aufdrängen einer Rechtsordnung im Zuge des Ko-lonialismus.

In den späten 70er Jahren markierte die Etablierung des Begriffs Rechtspluralismus in der rechtssoziologischen Forschung einen Wen-depunkt in zweierlei Hinsicht: Nicht mehr der Staat und dessen Um-gang mit anderen normativen Ordnungen standen im Vordergrund der Untersuchungen, sondern rechtliche Phänomene jenseits des Staates, die auch ohne dessen formelle Anerkennung Bestand hatten. Außer-dem erfolgte auch eine Loslösung vom bisherigen geographischen Forschungsschwerpunkt. Nicht-staatliche Normen wurden nun auch in den Industriestaaten des Nordens untersucht und ebenfalls als Recht bezeichnet.61 Im Rahmen dieses »new legal pluralism«62 wurde zugleich das Verhältnis verschiedener rechtlicher Ordnungen zueinan-der stärker betont. Die Hervorhebung des Austauschs zwischen ver-schiedenen Rechtsordnungen folgte der Einsicht, dass diese nicht ge-trennt voneinander koexistieren, sondern kontinuierlich interagieren und sich gegenseitig beeinflussen. Diese Wechselseitigkeit zwischen verschiedenen normativen Ordnungen führt zu normativen Phänome-nen, die sich nicht mehr ohne Weiteres und eindeutig einer normati-ven Ordnung zuordnen lassen, sondern zwischen diesen stehen.63 Mit

59 Gilissen (Hrsg.), Le Pluralisme Juridique, 1972; Hooker, Legal Pluralism, 1975. Der Begriff stammt ursprünglich aus Beschreibung sog. primärer oder materieller Rechtsquellen durch den französischen Rechtssoziologen Georges Gurvitch, vgl.

Gurvitch, L'Expérience Juridique, 1935, S. 145 ff.

60 In Anlehnung an Twining, General Jurisprudence, 2009, S. 296 ff. wird der Begriff der »Diffusion« für rechtliche Austauschprozesse verwendet, da dieser einerseits offener ist als die verbreiteten Alternativen des Transfers oder der Transplantati-on, andererseits den Austausch mit anderen Disziplinen und Forschungsgegen-ständen erleichtert, vgl. auch 4.3.

61 Grundlegend: Galanter, 19 Journal of Legal Pluralism (1981), 1 ff.; Griffiths, 24 Journal of Legal Pluralism (1986), 1 ff.

62 Merry, 22 Law & Society Review (1988), 869 (872).

anderen Worten geht es also um das Aufbrechen von binären Gegen-überstellungen unterschiedlicher normativer Ordnungen.64

Mitte der 90er Jahre hielt der Begriff Einzug in die Diskurse des in-ternationalen Rechts, insbesondere im Rahmen der Konstitutionalisie-rungs- und Fragmentierungsdebatte.65 Mit dem Verschwinden der All-macht des Staates bzw. dem Wandel von Staatlichkeit als Phänomen der Globalisierung trat eine Vielzahl nicht-staatlicher Akteure auf die Bildfläche, die zuvor von zwischenstaatlichen Beziehungen dominiert wurde. Die wachsende Bedeutung von Nichtregierungsorganisationen ist ein Beispiel für diesen Prozess, der auch als Transnationalisierung des Rechts beschrieben wird.66 Oft kreieren diese Akteure ihre eige-nen Regelwerke. Die »lex mercatoria« internationaler Konzerne ist hierfür nur das prominenteste Beispiel.67 Hinzu tritt die Zunahme von-einander unabhängiger Gerichte und anderer Konfliktlösungsinstan-zen, deren Zuständigkeitsbereiche sich überlappen. Zersplitterung und Desintegration sind die Folge und stellen die Rechtsforschung vor die Herausforderung, entsprechende Konzepte für die Berücksichti-gung und Analyse dieser Phänomene zu entwickeln. Diejenigen, die einen »global legal pluralism« verfechten, plädieren dafür, die »inter-nationale Unordnung« als solche anerkennen. Statt Einheit für den globalen Raum zu suchen, sollen Mechanismen gestärkt werden, die den Umgang mit rechtlicher Vielfalt inklusive der damit verbundenen Konflikte ermöglichen.68

Die historische Entwicklung und Verbreitung rechtspluralistischer Konzeptionen verdeutlichen, dass diese eng mit der theoretischen Fundierung des Nationalstaats verbunden sind. Seine Transformation im Zuge der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten begünstigte die

63 De Sousa Santos bezeichnet dies als »Interlegalität«, vgl. de Sousa Santos, Towards a New Common Sense, 1995, S. 472 f.

64 Binäre Gegenüberstellungen beinhalten regelmäßig eine hierarchische Ordnung, durch die ein Phänomen dem anderen untergeordnet wird, vgl. Goody, The Dome-stication of the Savage Mind, 1977, S. 1 ff., 36.

65 Snyder, 5 European Law Journal (1999), 334 ff.; Michaels, 5 Annual Review of Law

& Social Science (2009), 243 ff.; Berman, Global Legal Pluralism, 2012, mwN.

66 Hanschmann, Theorie transnationaler Rechtsprozesse, in: Buckel/Christensen/Fi-scher-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006, S.347 ff.

67 Dazu Teubner, 15 Rechtshistorisches Journal (1996), 255 (264 f.).

68 Berman, Global Legal Pluralism, 2012, S. 141 ff.

Verbreitung rechtspluralistischer Ansätze über den post-kolonialen Kontext hinaus. Angesichts der Wurzeln rechtspluralistischer Konzep-tionen kann deren Verbreitung innerhalb der OECD-Welt eher als eine Rückkehr bzw. Wiederentdeckung verstanden werden.69 Die Eintei-lung in einen »alten« oder »neuen« Rechtspluralismus ist daher – je-denfalls hinsichtlich eines damit verbundenen geographischen Be-zugspunkts – irreführend.70

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