• Keine Ergebnisse gefunden

Gewohnheitsrechtsprechung als Übersetzung

Im Dokument Recht als Übersetzung (Seite 98-103)

2.3.3 »Revival« in der Entwicklungszusammenarbeit

2.3.6 Gewohnheitsrechtsprechung als Übersetzung

Mit dem Begriff »Gewohnheitsrecht« werden sowohl bestimmte nor-mative Phänomene außerhalb des staatlichen Rechtsapparats wie auch die Operationalisierung dieser Phänomene durch staatliche Ge-richte im Wege einer juristischen Konstruktion bezeichnet. Auch wenn das Beispiel kolonialer VerAnderung Anlass gibt, Fremdheitserfah-rung und Differenz vorsichtig und selbstreflektiv zu beschreiben, bleibt festzuhalten, dass Gewohnheitsrechte anderen Rationalitäten folgen als »modernes« Recht, das Grundlage staatlicher Ordnungen ist. Wenn staatliche Gerichte Gewohnheitsrecht sprechen, kann dies in Anlehnung an Sally Engle Merry als »vernacularization«293 oder als Übersetzung bezeichnet werden – als Vorgang, bei dem staatliche Ge-richte lokale Normen in ihre rechtliche Mundart übersetzen.

Die Gegenüberstellung von gelebten und offiziellen Versionen von Gewohnheitsrecht ist allerdings irreführend, wenn hiermit die Exis-tenz einer authentischen, feststehenden Fassung von Gewohnheits-recht außerhalb offizieller Versionen suggeriert wird. Vielmehr exis-tieren neben den offiziellen weitere Versionen, die abhängig vom je-weiligen örtlichen, zeitlichen und sachlichen Kontext miteinander konkurrieren. Der Hinweis darauf, dass es sich bei offiziellen Versio-nen von Gewohnheitsrecht in den meisten Fällen um manipuliertes Recht handelt, zeigt, dass die Konstruktion von Gewohnheitsrecht kein neutraler Vorgang ist. Hinter jeder inhaltlichen Beschreibung von Gewohnheitsrecht stehen bestimmte Interessen. Insbesondere die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Praktiken des Rechtspluralismus verdeutlicht daher, dass es wichtig ist, wer in wel-chem Kontext (über) Gewohnheitsrecht spricht. Der Begriff des Über-setzens eröffnet eine neue Untersuchungsperspektive auf die Interak-tion zwischen normativen Ordnungen, die dies berücksichtigt.

293 Vgl. 2.1.4.2.

2.4 Übersetzungsschritte

Übersetzen dient sowohl als Metapher, die Verständigung suggeriert, als auch als Chiffre für Missverständnis und Verlust. Aufgrund dieses metaphorischen Gehalts erfreut sich der Begriff – etwa als »cultural translation«294 – disziplinübergreifend einer zunehmenden Beliebt-heit, um jegliche Formen des Austausches oder Transfers zwischen verschiedenen Kulturen zu beschreiben.295 Über dieses metaphorische Potenzial hinaus kann mit dem Begriff des Übersetzens – verstanden als Praxis des Austausches – ein Modell entwickelt werden, dass eine Analyse staatlicher Rechtsprechung als Prozess der Wissenskonstruk-tion ermöglicht. Allerdings zeigt sich schnell eine offensichtliche Schwierigkeit: Übersetzungsprodukte weisen sich grundsätzlich nicht als solche aus. Für staatliche Gerichte, die Gewohnheitsrecht »anzu-wenden« haben, gibt es anders als bei literarischen Übersetzungen im engeren Sinne auch kein schriftliches Original. Eine gerichtliche Ent-scheidung kann daher bestenfalls »Übersetzungsspuren« enthalten, d.h. Textfragmente, die darauf hindeuten, dass ein Übersetzungspro-zess stattgefunden hat. Allerdings stellt die Übersetzungsperspektive nur einen methodischen Zugriff auf das Phänomen der Gewohnheits-rechtsprechung dar. Übersetzungsspuren sollen also keinen »Beweis«

dafür erbringen, dass Gewohnheitsrechtsprechung als Übersetzungs-prozess verstanden werden kann. Stattdessen soll exploriert werden, inwiefern eine solche Übersetzungsperspektive die Analyse rechtsplu-ralistischer Entscheidungspraxis bereichern kann.

Um eine solche Analyse der gerichtlichen Entscheidungspraxis vor-zunehmen, bietet es sich an, den Prozess des Übersetzens in verschie-dene Phasen oder Schritte aufzuteilen. Eine solche Unterteilung wird auch in verschiedenen Modellen vorgenommen, um Übersetzungspro-zesse im engere Sinne – das Übersetzen eines Textes in eine andere

294 »Cultural Translation« ist eher ein Schlagwort als ein feststehendes Konzept und wird sehr unterschiedlich verwendet. Eine Übersicht über verschiedene Verwen-dungsarten des Begriffs findet sich bei Pym, Exploring Translation Theories, 2010, S. 143 ff.

295 Vor allem in USA wird der Begriff auch in der Rechtswissenschaft benutzt, etwa als Übersetzung von Alltagsgeschehen in den juristischen Diskurs bei Cunningham, 77 Cornell Law Review (1991-92), 1298 ff., oder als Methode der Verfassungsaus-legung bei Lessig, 71 Texas Law Review (1992-93), 1165 ff.

Sprache – zu untersuchen. Auch für das Übersetzen von Recht zwi-schen verschiedenen Sprachen gibt es entsprechende Modelle.296 An ihnen orientiert sich die hier vorgeschlagene Unterscheidung der Schritte des Feststellens, des Verstehens und des Reverbalisierens. Bei jedem dieser Übersetzungsschritte werden Entscheidungen getroffen, bestimmte Wege eingeschlagen, mögliche Alternativen verworfen. Ziel der Analyse ist deshalb festzustellen, ob in der ghanaischen Recht-sprechung gewisse Regelmäßigkeiten oder Brüche hinsichtlich der Übersetzungsschritte zu erkennen sind. Dies bedeutet nicht, dass die-se Unterscheidung mit einer tatsächlichen zeitlichen Aufeinanderfolge voneinander scharf getrennter Phasen gleichzusetzen ist. Es kommt zwangsläufig zu Überlagerungen, da die verschiedenen Schritte sich gegenseitig ergänzen und bedingen. Das hier vorgeschlagene Modell ist also lediglich ein deskriptiv-analytisches Schema. Das Feststellen des Rechts und damit des Ausgangsproduktes wird hier als essentiel-ler Teil des Übersetzungsprozesses verstanden. Dieser Schritt wird in Abhandlungen über das Übersetzen im engeren Sinne oft nicht proble-matisiert, da mit dem Ausgangstext das Übersetzungsobjekt regelmä-ßig bereits festzustehen scheint.297

2.4.1 Feststellen

Das »Feststellen« des Ausgangsproduktes ist ein grundlegender erster Schritt, um Gewohnheitsrecht in staatliches Recht übersetzen zu kön-nen. Für diesen Übersetzungsschritt ist die Frage entscheidend, auf welche Quellen staatliche Gerichte zurückgreifen, wenn sie Gewohn-heitsrecht sprechen. Denn bei der GewohnGewohn-heitsrechtsprechung kann nicht von einem fixen, bekannten Ausgangsprodukt ausgegangen wer-den kann: Beim Übersetzen von Rechtstexten in eine andere Sprache scheint die Vorlage klar definiert zu sein. Sie liegt in Form eines Aus-gangstextes vor, beispielsweise einer Gesetzesvorschrift oder einer ge-richtlichen Entscheidung. Wenn Gerichte dagegen Gewohnheitsrecht

296 Vgl. zum Beispiel das Modell bei Pommer, Rechtsübersetzung und Rechtsverglei-chung, 2006, S. 140 ff.

297 Anders ist dies etwa in der Rechtsvergleichung, vgl. etwa Constantinesco, Rechts-vergleichung, Band II, 1972, S. 139 ff.

zur Grundlage ihrer Entscheidung machen sollen, sind sie vor erhebli-che Herausforderungen gestellt, da gerade kein entspreerhebli-chender schriftlicher Text vorliegt. Die Auseinandersetzung mit der kolonialen Rechts(er)findung verdeutlicht, dass gerade bei diesem Schritt Aspek-te der BeAspek-teiligung und des Ausschlusses von entscheidender Bedeu-tung sind. Wer hat die Autorität, den Inhalt von Gewohnheitsrecht zu verkünden? Und wessen Stimme und Erfahrungen werden ausge-schlossen?

2.4.2 Verstehen

In der Analyse zeitlich nachgelagert – praktisch jedoch nur Schwer vom Feststellen zu trennen – ist der zweite Übersetzungsschritt, der hier als »Verstehen« bezeichnet wird. Wird Rechtspluralismus nicht nur als das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Rechte, sondern auch unterschiedlicher Vorstellungen von Recht verstanden, ist auch dieser Schritt problematisch. Auf der Ebene des Verstehens geht es nicht um allein um das richtige Verständnis, die adäquate Auslegung einzelner Normen. Denn diese wird beeinflusst durch das grundlegen-de Verständnis von »Recht« im Allgemeinen und die Frage, inwiefern normative Ordnungen diesem Verständnis entsprechen. Die Auseinan-dersetzung mit der Charakterisierung von Gewohnheitsrecht verdeut-licht, dass das Verstehen des »Anderen« untrennbar mit dem eigenen Selbstverständnis zusammenhängt. Das Verstehen ist also standortge-bunden. Eine maßgebliche Praxis bei der Begegnung mit dem Anderen – ob explizit vorgenommen oder unausgesprochen – ist der Ver-gleich.298 Durch Vergleichen wird Fremdes in den eigenen Erfahrungs-horizont eingeordnet. Dies ist erforderlich, um Unbekanntes verste-hen zu können. Unbekanntes (Fremdes) wird so in Relation zum Be-kannten (Eigenen) gesetzt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszumachen. Dies ist kein wertfreier Prozess; der Vergleich wird nicht von einem neutralen Standort aus vorgenommen. Gleichwohl

298 Dies bedeutet nicht, dass der Vergleich lediglich eine dienende Funktion für das Übersetzen einnimmt. Vielmehr handelt es sich um sich gegenseitig ergänzende Handlungen, vgl. Pommer, Rechtsübersetzung und Rechtsvergleichung, 2006, S. 117 ff., die konstatiert, dass »keine ernstzunehmende Theorie der Rechtsüber-setzung [...] die Bedeutung des Rechtsvergleichs außer acht lassen« kann, S. 140.

wird das Eigene regelmäßig als solch neutraler Ort und damit unter-schwellig als Normalität zu Grunde gelegt.299 Je nachdem, wie der zu vergleichende Gegenstand bewertet wird und dabei Ähnlichkeiten und Unterschiede bezüglich des Eigenen betont werden, kommt es in der Folge zu einer verfremdenden Unterscheidung oder einer assimi-lierenden Gleichsetzung. Insbesondere Ambivalenzen finden in dieser Vorgehensweise keinen Platz. Dies kommt beim Umgang mit Gewohn-heitsrecht in der Kolonialzeit besonders deutlich zum Ausdruck, wohnt aber letztlich jedem Vergleich inne.

2.4.3 Reverbalisieren

Der letzte Schritt des Übersetzungsprozesses ist das Reverbalisieren.

Hat das Gericht eine Norm festgestellt und in seinen Verständnishori-zont eingeordnet, muss es einen entsprechenden Rechtssatz formulie-ren und in den weiteformulie-ren rechtlichen Rahmen der staatlichen Rechts-ordnung einbinden. Hier spielen zunächst linguistische Fragen eine Rolle, also welche Sprache(n) verwendet wird (werden) und wie Mehrsprachigkeit gegebenenfalls im Text gekennzeichnet wird. Inwie-fern Fachbegriffe einer Sprache überhaupt geeignet sind, rechtliche Konzepte einer anderen Sprache wiederzugeben, ohne ein inhaltliches (Vor-)Verständnis zu transportieren, wurde beispielsweise in der rechtsethnologischen Forschung diskutiert, ohne zu einer allgemeinen Lösung zu kommen.300 Nicht nur sprachliche Herausforderungen er-schweren diesen Übersetzungsschritt. Auch der Umgang mit Konflik-ten zwischen den unterschiedlichen normativen Ordnungen – genauer zwischen der zu übersetzenden gewohnheitsrechtlichen Norm und dem restlichen staatlichen Recht – kann als Teil des Reverbalisierens verstanden werden. Die Systematik und Normenhierarchie staatlichen Rechts steht dann in einem Spannungsverhältnis zum Authentizitäts-anspruch, den ein staatliches Gericht hinsichtlich seiner Version von Gewohnheitsrecht erhebt.

299 Speziell zum Rechtsvergleich: Frankenberg, 26 Harvard International Law Journal (1985), 411 (423)

300 Vgl. Bohannan, Ethnography and Comparison in Legal Anthropology, in: Nader (Hrsg.), Law in Culture and Society, 1969, S. 417 f.

3 Gewohnheitsrecht in ghanaischen

Im Dokument Recht als Übersetzung (Seite 98-103)