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Gewohnheitsrecht vor staatlichen Gerichten

Im Dokument Recht als Übersetzung (Seite 90-98)

2.3.3 »Revival« in der Entwicklungszusammenarbeit

2.3.5 Gewohnheitsrecht vor staatlichen Gerichten

Regelmäßig steht die Frage nach der Ermittlung des anzuwendenden Rechts im Vordergrund, wenn untersucht wird, wie staatliche Gerichte Gewohnheitsrecht sprechen. Im Gegensatz zum hergebrachten Grund-satz »iura novit curia» kann nicht vorausgesetzt werden, dass ein Ge-richt das anzuwendende Gewohnheitsrecht kennt. Dies ist für die Ko-lonialzeit offensichtlich, da zu dieser Zeit Fremde in den staatlichen Gerichten Recht sprachen. Aufgrund der Vielfalt der Gewohnheits-rechte und deren Abhängigkeit vom jeweiligen sozialen Kontext dürfte das erforderliche Wissen aber auch heutzutage – jedenfalls in den Ge-richten der oberen Instanzen – fehlen.268 Die im Rahmen einer Ge-richtsverhandlung in Frage kommenden Erkenntnisquellen sind be-grenzt. Aufgrund dieser Schwierigkeiten und der Auseinandersetzung mit kolonialen Einflüssen ist anerkannt, dass sich offizielle Versionen von Gewohnheitsrecht von den tatsächlich praktizierten Normen un-terscheiden.269 Verbreitet wird offiziellen Versionen deshalb eine au-thentische Version – das »lebende« Gewohnheitsrecht270 – gegenüber-gestellt, wie es in den jeweiligen Gemeinschaften praktiziert wird.

For-266 Vgl. Woodman, A Survey of Customary Laws in Africa in Search of Lessons for the Future, in: Fenrich/Galizzi/Higgins (Hrsg.), The Future of African Customary Law, 2011, S. 29 f. Diesen »system fix«-Ansatz kritisieren etwa auch Chopra/Isser, 4 The Hague Journal on the Rule of Law (2012), 337 (346 f.).

267 Siehe etwa die harsche Kritik bei Mutua, 42 Harvard International Law Journal (2001), 201 ff.

268 Ocran, 39 Akron Law Review (2006), 465 (480).

269 In diesem Sinne schon früh Woodman, Wisconsin Law Review (1969), 128 (129 ff.).

270 Mit dem Begriff des lebenden Gewohnheitsrechts wird auf Ehrlichs Formulierung zurückgegriffen. Diese Bezeichnung wird für den afrikanischen Kontext bereits bei Allott/Epstein/Gluckmann, Introduction, in: Gluckmann (Hrsg.), Ideas and Proced-ures in African Customary Law, 1969, S. 6 verwendet.

derungen, staatliche Gerichte sollten auf dieses authentische Gewohn-heitsrecht zurückgreifen, sind jedoch irreführend, wenn sie suggerie-ren, dass es eine »richtige« Version von Gewohnheitsrecht gibt, die von staatlichen Gerichten unproblematisch angewendet werde könn-te. Gewohnheitsrechtsprechung durch staatliche Gerichte setzt not-wendig eine Re-Konstruktion als staatliches Recht voraus. Sie kann daher besser als Übersetzen dieses Rechts verstanden werden.

2.3.5.1 Erkenntnisquellen für Gewohnheitsrecht

Im Rahmen staatlicher Rechtsprechung hat ein Gericht normalerwei-se nicht die Möglichkeit, eine aufwendige Feldforschung durchzufüh-ren, deren Ergebnisse zur Klärung der Frage nach dem Inhalt von Gewohnheitsrecht beitragen könnten. Deshalb muss ein Gericht auf die ihm unmittelbar zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zu-rückgreifen. Diese lassen sich grundsätzlich in zwei Arten unterteilen:

Gerichte können – sofern eine solche vorliegt – auf eine schriftliche Fassung des jeweiligen Gewohnheitsrechtes oder auf Aussagen von Personen zurückgreifen. Beide Arten von Informationsquellen haben spezifische Nachteile.

Schriftliche Darstellungen von Gewohnheitsrecht lassen sich allge-mein danach unterscheiden, ob sie Rechtsfragen verbindlich regeln oder lediglich ein Informationsangebot an die Rechtsanwendung dar-stellen sollen. Bindende Gesetze – Kodifikationen von Gewohnheits-recht – finden sich vergleichsweise selten.271 Die Sammlungen gericht-licher Entscheidungen – insbesondere die offiziellen »Law Reports«272 – stellen eine weitere Informationsquelle dar. Entscheidungen anderer Gerichte sind aber nur zu einem bestimmten Grad verbindlich. Eine

271 Kodifikationen beinhalteten meist mehr oder weniger stark ausgeprägte Reform-programme. Der äthiopische Civil Code von 1960, der auch gewohnheitsrechtliche Elemente aufnahm, diente beispielsweise dazu, Gewohnheitsrecht zu vereinheitli-chen und zu reformieren. Die Kodifikation in Zululand sollte offiziell ein rein be-schreibendes Abbild des Gewohnheitsrechts darstellen, enthielt aber ebenfalls Modifikationen; vgl. zu beiden Modellen Bennett/Vermeulen, 24 Journal of African Law (1980), 206 (207 ff.).

272 Zu deren historischer Entwicklung aus rein privaten Beschreibungen zum Zwecke der Ausbildung: Baker, Records, Reports and the Origins of Case-Law in England, in: Baker (Hrsg.), Judicial records, law reports, and the growth of case law, 1989, S. 15 ff.

solche Bindungskraft kann sich insbesondere in Systemen des Com-mon Law über das Prinzip der »stare decisis« ergeben.273 Danach kommt einem bestimmten Teil einer vorherigen Entscheidung, der

»ratio decidendi«, eine rechtliche Bindungskraft zu. Voraussetzung hierfür ist, dass die vorherige Entscheidung von einer bestimmten – in der Regel hierarchisch höher oder zumindest auf gleicher Stufe ste-henden – Instanz zu einem annähernd gleich gelagerten Sachverhalt erging. Auch können Gerichte nicht selten innerhalb bestimmter Gren-zen von vorherigen PräzedenGren-zentscheidungen abweichen. Daneben existieren verschiedene Schriftfassungen, die zumindest offiziell ledig-lich der Information über den Inhalt von Gewohnheitsrecht dienen, aber keinerlei Bindungswirkung entfalten. Solche Beschreibungen sind teils genuin juristische Texte, teils eher ethnologische Arbeiten.

Juristische Texte finden sich in Fallsammlungen (»Textbooks«) und in sog. »Restatements«. Hierbei handelt es sich um Aufzeichnungen von Gewohnheitsrecht, die zwar nicht binden, aber als konkretes Regel-werk formuliert sind.274 Eine jüngere Variante dieser Art der Ver-schriftlichung sind »Self-Statements«, bei denen die Aufzeichnung nicht durch Externe, sondern durch die jeweiligen Gemeinschaften selbst erfolgt.275 Sämtlichen schriftlichen Versionen von Gewohnheits-recht ist gemein, das sie im Idealfall allenfalls Normen darstellen kön-nen, die zum Zeitpunkt ihrer Aufzeichnung Geltung entfaltet haben.

Ein etwaiger Wandel nach Aufzeichnung bleibt also unberücksichtigt.

In den Fällen, in denen keinerlei schriftliche Quelle zur Verfügung steht, bleibt dem Gericht nur die Möglichkeit, über Personen an In-formationen zum jeweiligen Gewohnheitsrecht zu gelangen. Auch die Einbindung von Informantinnen und Informanten kann

unterschied-273 Zu Inhalt und Bedeutung des Prinzips der »stare decisis«: Shiner, Legal Institu-tions and the Sources of Law, 2005, S. 31 ff.

274 Das größte und bekannteste Restatement-Projekt wurde in den 60er und 70er Jah-ren von der School of African and Oriental Studies (SOAS) in London für verschie-dene afrikanische Länder durchgeführt. Die Wahl eines einheitlichen Formats führte zu einer letztlich bezweckten Vereinheitlichung regionaler Unterschiede, vgl. Twining, 1 The Journal of Modern African Studies (1963), 221 (222 ff.).

275 Vgl. Hinz/Kwenani, The Ascertainment of Customary Law, in: Hinz (Hrsg.), The Shade of New Leaves, 2006, S. 206 ff., die mit dem Begriff sowohl von traditionel-len Eliten dominierte als auch stärker partizipativ ausgerichtete Verfahren be-schreiben.

lich gestaltet werden. Meist wird den Aussagen von Parteien und von diesen benannten Zeugen ein gewisses Misstrauen entgegengebracht, weil bei diesen ein unmittelbares Interesse am Ausgang des Verfah-rens vermutet wird. Ein größeres Maß an Objektivität wird Sachver-ständigen (im Englischen »expert witnesses«) zugeschrieben, die über besondere Expertise im Gewohnheitsrecht verfügen. Eine ähnliche Rolle können Laien aus einer bestimmten Gemeinschaft einnehmen, die das Gericht als Beisitzende beraten, ohne dass sie aber direkt von den Parteien befragt werden können. Eine solche Funktion wird im Englischen meist mit dem Begriff »assessor« beschrieben.276 Die Be-fragung von Informantinnen und Informanten ist neben der Beob-achtung von Konfliktlösungsmechanismen vor allem in der rechtseth-nologischen Forschung eine wichtige Erkenntnisquelle. Mittelbar be-ruhen daher auch die meisten schriftlichen Versionen auf personeller Auskunft.

2.3.5.2 Kritik offizieller Versionen von Gewohnheitsrecht

Offizielle, schriftliche Versionen von Gewohnheitsrecht – sei es das überlieferte Fallrecht staatlicher Gerichte oder andere verschriftliche Versionen – werden meist kritisiert.277 Hauptkritikpunkt ist dabei, dass sich offizielle Versionen von Gewohnheitsrecht in staatlichen Ge-richten und die tatsächlich praktizierten Normen unterscheiden.278 Für diese Diskrepanz werden verschiedene Ursachen genannt. Insbe-sondere die ethnologische Forschung befasst sich mit verschiedenen methodischen Problemen, die sich auch im Kontext eines gerichtli-chen Verfahrens auswirken. Auslöser für diese Methodendiskussion waren nicht zuletzt Konzeption und Erhebung von Gewohnheits-rechten zur Kolonialzeit.

276 Die Bezeichnung verdeutlicht, dass diese Einbindung von Laien ursprünglich vor allem für Strafverfahren vorgesehen war. Insbesondere die Bedeutung von tradi-tionellen Autoritäten als Informationsquelle wurde über diese Amt formell aner-kannt, ohne dass ihren Darstellungen eine rechtliche Bindungswirkung zukam, vgl. Allott, Essays in African Law, 1960, S. 78 f.

277 Etwa Himonga, The Future of Living Customary Law in African Legal Systems in the Twenty-First Century and Beyond, in: Fenrich/Galizzi/Higgins (Hrsg.), The Fu-ture of African Customary Law, 2011, S. 32.

278 Woodman, Wisconsin Law Review (1969), 128 (129 ff.).

Die Befragung von Personen ist mit Herausforderungen verbunden, die über eine etwaige Parteilichkeit von Beteiligten in einem konkre-ten Streitfall hinausgehen. Denn erskonkre-tens unterliegen bereits Fragen bestimmten Vorverständnissen und haben damit einen Einfluss auf die Antworten. Es ist also nicht unproblematisch, was gefragt wird.279 Zweitens hängt die Antwort auf eine Frage maßgeblich davon ab, wer gefragt wird. Heutzutage versucht die Forschung, durch die kriterien-bezogene Auswahl einer Mehrzahl an Informantinnen und Informan-ten ein gewisses Maß an Repräsentanz zu erreichen. Bei der Ermitt-lung von Gewohnheitsrecht wurde dagegen – insbesondere zur Kolo-nialzeit – bevorzugt auf einen bestimmten Teil der Bevölkerung zu-rückgegriffen, nämlich männliche traditionelle Autoritäten und Ältes-te.280 Dies entsprach gleichermaßen der Konzeption von Gewohnheits-recht als statischer Tradition wie auch den kolonialen Herrschafts-Arrangements. Diese Auswahl verfestigte die Exklusion und Benach-teiligung anderer Teile der Gesellschaft. Außerdem ergab die kritische Untersuchung von Erhebungen zu Gewohnheitsrecht, dass die Befrag-ten oftmals nicht einen Ist-Zustand angaben, sondern eher die Vorstel-lung, wie das Gewohnheitsrecht ihrer Ansicht nach sein sollte.281 Auch bei den Antworten handelt es sich demnach nicht um unproblema-tische Daten. Diese methodischen Herausforderungen begründen zu-nächst Zweifel an älteren schriftlichen Versionen, die von staatlichen Gerichten als Informationsquelle herangezogen werden. Sie stellen aber auch die Befragung in einer aktuellen Gerichtsverhandlung vor Probleme. Dort sind die zeitlichen und finanziellen Ressourcen zudem deutlich beschränkter als im Rahmen einer ethnologischen Feldfor-schung. Außerdem benötigt ein Gericht für seine Entscheidung eine eindeutige Grundlage, kann also weit weniger mit Widersprüchen und Ambivalenzen umgehen, als dies in einer ethnologischen Forschungs-arbeit möglich ist.

279 Eine entsprechende Kritik findet sich bereits in einigen frühen ethnologischen Ar-beiten, vgl. etwa Rattray, Ashanti, 1923, S. 84. Rattrays Haltung zur Repräsentativi-tät seiner eigenen Informanten war allerdings deutlich weniger reflektiert, vgl.

McCaskie, 10 History in Africa (1983), 187 (190 ff.).

280 Vgl. Ranger, The Invention of Tradition in Colonial Africa, in: Hobsbawm/Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, 1983, S. 258.

281 Lehnert, Afrikanisches Gewohnheitsrecht und die südafrikanische Verfassung, 2006, S. 84 f.

Gegen offizielle Versionen von Gewohnheitsrecht wird zudem ein-gewendet, dass bereits die Verschriftlichung nicht dem flexiblen und verhandelbaren Charakter von Gewohnheitsrecht entspricht.282 Ver-schriftlichung bedeutet das Fixieren von flexiblen Normen in starre Regeln, die dem Gewohnheitsrecht fremd sind. Dieses Einfrieren von Regeln wird in Ordnungen des Common Law insbesondere durch das Prinzip der »stare decisis« verstärkt, die Gerichte zu einem gewissen Grad an vorangegangene Präzedenz-Entscheidungen bindet.283 Es han-delt sich also um eine Verstetigungstechnik, durch die gerichtliche Entscheidungen vorhersehbar werden sollen, die also der Rechts-sicherheit dient.284 Dennoch wird die damit verbundene Verfestigung überwiegend negativ bewertet, da sie gewohnheitsrechtlichen Ord-nungen ihre Anpassungsfähigkeit nimmt. Verschriftlichung und Ver-stetigung des Rechts führen also dazu, dass dieses nicht mehr mit den sich wandelnden sozialen Praktiken übereinstimmt.285

Die Kritik an offiziellen Darstellungen wird üblicherweise im Wege einer dichotomischen Gegenüberstellung von offiziellem und gelebten Gewohnheitsrecht geäußert.286 Im Gegensatz zu offiziellen Versionen, die im Kolonialismus manipuliert, jedenfalls veraltet seien, stelle das lebende Gewohnheitsrecht eine authentische Version – das »wahre«

Gewohnheitsrecht – dar.287 Solche Gegenüberstellungen weisen zwar

282 Bryde, The Politics and Sociology of African Legal Development, 1976, S. 110. An-ders Sheleff, The Future of Tradition, 2000, S. 385, der sich zwar gegen die Kodifi-zierung von Gewohnheitsrecht wendet, eine Verschriftlichung aber grundsätzlich als unproblematisch ansieht.

283 Bereits der US-amerikanische »legal realism« formulierte allerdings Zweifel an der Objektivität dieser Bindungswirkung, da mangels Identität der Fallkonstellationen immer individuell über die Anwendbarkeit existierender Regeln entschieden wer-den müsse, vgl. etwa Cohen, 25 Columbia Law Review (1935), 809 ff.

284 Dieser Aspekt weist darauf hin, dass das Prinzip beschränkend wirkt, indem es Richterinnen und Richter an vorherige Entscheidungen bindet. Gleichzeitig kommt richterlichen Entscheidungen erst durch diese Bindungswirkung Rechts-kraft zu. Die Unklarheit über die inhaltlichen Konturen des Prinzips eröffnen Rich-terinnen und Richtern daher zugleich Spielräume und wirkend damit ermächti-gend, vgl. Dent/Cook, 16 Griffith Law Review (2007), 131 (138 ff.).

285 Bennett, Human Rights and African Customary Law under the South African Con-stitution, 1995, S. 60 ff.; Woodman, Wisconsin Law Review (1969), 128 ff.

286 Bennett, Human Rights and African Customary Law under the South African Con-stitution, 1995, S. 60.

287 Bennett, Customary Law in South Africa, 2004 S. 7. Diese dichotomische Gegen-überstellung von »schlechtem« offiziellen und »gutem« gelebtem

Gewohnheits-richtigerweise darauf hin, dass es einen Unterschied macht, wo Recht gesprochen wird. Auch ist älteren Darstellungen aufgrund kolonialer Einflüsse mit Vorsicht zu begegnen. Sie gehen jedoch fehl, wenn sie die Existenz scharf voneinander getrennter und in sich einheitlicher Ord-nungen suggerieren. Der Hinweis auf die Authentizität des »lebenden«

Gewohnheitsrechts verdeutlicht außerdem, dass binäre Gegenüber-stellungen nicht neutral, sondern zwangsläufig wertend, hierarchisie-rend sind.288 Zur Kolonialzeit wurde Gewohnheitsrecht als das fremde, primitive Recht dem entwickelten Recht der Kolonialmächte gegen-übergestellt. Heute stellen offizielle Versionen nur verzerrte Abbilder des »wahren, lebenden« Rechts außerhalb der Gerichte dar. Der Ver-weis auf das »lebende« Gewohnheitsrecht ist zudem problematisch, wenn er suggeriert, dass es eine eindeutige, wenn auch ungeschriebe-ne, richtige Version von Gewohnheitsrecht gibt, die von staatlichen Gerichten angewendet werden könnte.

2.3.5.3 Unvermeidbarkeit gerichtlicher Konstruktion

Die methodischen Herausforderungen bei der Feststellung von Gewohnheitsrecht legen nahe, dass es zwangsläufig zur Veränderung von Normen kommen muss, wenn staatliche Gerichte Gewohnheits-recht sprechen. Dies folgt letztlich bereits aus dem Umstand, dass die Rechtsprechung staatlicher Gerichte ungeschriebene in geschriebene Normen transformiert. Außerdem erfolgt eine Neuformulierung in der jeweiligen Amtssprache. Diese Neuformulierung beinhaltet mehr als eine Übersetzung im Sinne einer bloßen sprachlichen Re-Kodierung.

Denn die staatliche Rechtsprechung von Gewohnheitsrecht erfolgt in einem spezifischen institutionellen und diskursiven Rahmen.289 Gewohnheitsrecht trifft im staatlichen Gerichtsverfahren auf einen

recht findet sich auch in der Rechtsprechung Post-Apartheid-Südafrikas, vgl. etwa Bhe and Others v Magistrate, Khayelitsha and Others; Shibi v Sithole and Others;

SA Human Rights Commission and Another v President of the RSA and Another 2005 (1) BCLR 1 (CC), Rdnr. 86 f.

288 Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, in Derrida/Engelmann (Hrsg.) Randgänge der Philosophie, 1999, S. 350 f.

289 Zur Diskursivität von staatlichem Recht Paroussis, Theorie des juristischen Dis-kurses, 1995, der Rechtsprechung als einen Teildiskurs des juristischen Diskurses versteht, vgl. S. 62 ff.,

Kontext, der durch ganz andere Verständnisse und Verfahrensweisen gekennzeichnet ist. Gewohnheitsrechtliche Ordnungen, die für die Lö-sung eines Konflikts ein eher unbestimmtes und verhandelbares Normrepertoire bieten, kennen nicht die abstrakten Regeln, wie sie im staatlichen Recht zur Lösung einer Vielzahl gleichgelagerter Fallkon-stellationen verwendet werden. Wenden staatliche Gerichte Gewohn-heitsrecht an, (re-)formulieren sie dieses zugleich in staatliche Rechtssätze.290 Die Feststellung eines spezifisch für die staatliche Rechtsprechung strukturierten Rechtssatzes stellt daher zwangsläufig eine gerichtliche Konstruktion dar.291

Ein Gericht kann also gewohnheitsrechtliche Normen strengge-nommen nicht feststellen, sondern bestenfalls ein bestimmtes Ver-ständnis einer solchen Norm festlegen. Dies bedeutet nicht, dass das Gericht hierfür keine Informationen benötigt. Es bleibt auf die ge-nannten Quellen samt ihrer Nachteile (Parteilichkeit, mangelnde Ak-tualität, etc.) angewiesen. Entsprechend dieser Quellen kann versucht werden, durch die Festlegung als Gewohnheitsrecht soziale Praktiken und Normen im staatlichen Recht abzubilden. Ein auf diese Art »ver-staatlichtes« Gewohnheitsrecht ist aber zwangsläufig das Ergebnis ei-nes Transformationsprozesses – einer Übersetzung in staatliches Recht. Wie sehr ein solcher Prozess von Vorverständnissen beeinflusst wird, wurde in der Rechtsethnologie kontrovers diskutiert.292

290 In diesem Sinne auch Woodman, Customary Land Law in Ghanaian Courts, 1996, S. 44.

291 Dies folgt aus systemtheoretischer Perspektive aus dem Umstand, dass ein funk-tional ausdifferenziertes Rechtssystem auf eine multifunkfunk-tionale normative Ord-nung trifft. Es handelt sich also zwangsläufig um ein Re-Entry des Fremden, um eine Re-Produktion von Recht durch interne Kommunikation des ausdifferenzier-ten Rechtssystems, vgl. Teubner/Korth, Zwei Arausdifferenzier-ten des Rechtspluralismus, in: Köt-ter/Schuppert (Hrsg.), Normative Pluralität ordnen, 2009, S. 159 f. Hiermit kann allerdings nur die Reproduktion sozialer Normen durch staatliches Recht theore-tisch erfasst werden. Das Verhältnis wird also einseitig bestimmt; wechselseitige Dynamiken werden ausgeblendet.

292 Die Problematik wurde in der Methodendiskussion der Rechtsethnologie als sog.

Gluckmann-Bohannan-Kontroverse personalisiert, vgl. Bohannan, Ethnography and Comparison in Legal Anthropology, in: Nader (Hrsg.), Law in Culture and So-ciety, 1969, S. 401 ff.; Gluckman, Concepts in the Comparative Study of Tribal Law, ebd., S. 349 ff. Dies betraf nicht allein die Verwendung bestimmter Termini und Konzeptionen, sondern auch die Frage, inwiefern eine Loslösung von Vorverständ-nissen überhaupt möglich ist.

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