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Zur Funktion des Verhaltens im Erziehungskontext

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 114-118)

3 Aktuelle Menschenbild-Implikationen im biologischen Kontext der Erziehungswissenschaft .0 Vorbemerkung

3.4 Sozialisation und Ontogenese: Zum Stellenwert organismischer Menschenbildannahmen im biosoziologischen Ansatz Promps

3.4.1 Zur biologischen Funktionalität von Erziehung

3.4.1.3 Zur Funktion des Verhaltens im Erziehungskontext

Die zweite Fragestellung erfährt zunächst eine Präzisierung: „Welchen Gesetzmäßigkeiten der Steuerung und des Ablaufs unterliegen die Verhaltensweisen, die von ihrem Kontext her unter dem Erziehungsbegriff gefaßt werden?“. Promp geht davon aus, daß auch Verhaltensweisen im Erziehungskontext „jenen allgemeinen Gesetzlichkeiten unterliegen, die Ethologie und Neurobio-logie für die Verhaltenssteuerung des Menschen gefunden haben“,456 und somit keine besondere Beschaffenheit anzunehmen sei. Zu diesem allgemeinen Erklärungshintergrund führt Promp aus:

„Das menschliche Verhalten wird antriebsseitig von neuralen Strukturen gesteuert, die stam-mesgeschichtlich sehr alt sind. Sie befinden sich unterhalb des Großhirns und entziehen sich dessen unmittelbarer Kontrolle. Die von ihnen hervorgebrachten Verhaltensäußerungen wer-den als ‘Instinkte’ bezeichnet. Sie stellen im wesentlichen artspezifische Koordinationsmuster der Motorik dar, deren Ablauf vom Organismus als ‘Endhandlung’ erstrebt wird. Jede End-handlung bedarf in der Regel einer bestimmten Situation, um auf lebensdienliche Weise, d. h.

in derjenigen Funktion, die ihr evolutionär zugewachsen ist, ablaufen zu können. Diese ‘auslö-senden Situationen’ werden von den ‘AAMs’, die nach LIEDTKE auch als angeborene

hat. Vgl. Gerner, B.: Einführung in die Pädagogische Anthropologie. Darmstadt, 3. Aufl. 1992, S. 20-28.

453 Vgl. Promp 1992, S. 97.

454 Promp 1992, S. 98.

455 Promp 1992, S. 106.

456 Promp 1992, S. 101. Promp verweist hier auf sein Buch „Sozialisation und Ontogenese“. Vgl. Promp 1990, insbesondere S. 42-56. Ferner nennt er exemplarisch folgende Publikationen: Leyhausen, P.

(1965): Über die Funktion der Relativen Stimmungshierarchie, dargestellt am Beispiel der phylogene-tischen und ontogenephylogene-tischen Entwicklung des Beutefangs von Raubtieren. In: Lorenz, K. und Ley-hausen, P.: Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. München 1968, S. 169-271. Eibl-Eibesfeldt, I.: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. München 1984. Ders.: Grundriß der verglei-chenden Verhaltensforschung. München, 7. Aufl. 1987. Guttmann, G.: Lehrbuch der Neuropsycho-logie. Bern/Stuttgart/Toronto, 3. Aufl. 1982. Bösel, R.: Physiologische PsychoNeuropsycho-logie. Berlin/New York, 2. Aufl. 1987. (Literaturangaben nach Promp 1992.)

tungsmechanismen fungieren, als solche erkannt. Zum Aufsuchen bzw. zur Herbeiführung der jeweils antriebsspezifischen ‘auslösenden Situationen’ können andere Instinktbewegungen, die sogenannten ‘Werkzeug-Aktivitäten’, aber auch solche, die in anderen Zusammenhängen

‘Endhandlungen’ darstellen würden, als ‘Appetenzverhalten’ dienstbar werden. Erweisen sich im Appetenzbereich bestimmte ‘Pfade’ immer wieder als erfolgreich, dann entwickeln sich aus mehreren, relativ kleinen ‘Erbkoordinationen’ größere zusammenhängende Verhaltensmuster.

Sie bilden beim Menschen das ‘gelernte’ Verhalten, wobei das Lernen nur auf die Zusammen-fügung der Einzelbausteine, nicht aber auf deren Herkunft zutrifft. Das menschliche Verhalten darf in diesem Sinne als vollständig von den phylogenetisch entwickelten Instinktmechanis-men abhängig betrachtet werden.

Da die einzelnen Antriebe sukzessive reifen, justiert sich das Steuersystem mehrfach im Laufe der Ontogenese nach, wobei es die Richtmarken in der erfahrbaren Umwelt des Individuums findet. Das im Appetenzbereich gelernte Verhalten ist daher einerseits an der individuellen Umwelt orientiert und verkoppelt andererseits die Antriebe miteinander zu einem ‘charakterbil-denden Verspannungssystem’.

Weil die Instinktmechanismen recht einfach strukturiert sind, müssen komplexe Situationen in der Regel erst auf ihre möglichen Auslösequalitäten hin ‘durchgespielt’ werden. Situationsana-lysen und -interpretationen gehören aber zu den Aufgaben des Großhirns. Dessen Tätigkeit wird somit erst im Zusammenhang mit der instinktiven Steuerung verhaltenswirksam. Würde das Großhirn von den Instinkten und ihren AAMs abgekoppelt, bliebe ‘die reine Ratio, die für sich eine tote Rechenmaschine ist, ohne jeden Antrieb und ohne jede Zielsetzung’. So aber werden Phantasie, Vernunft usw. in die zur Lebensbewältigung entwickelten Mechanismen eingebunden.“457

Dieses biologische Erklärungsmodell menschlichen Verhaltens weist meines Erachtens zumindest drei Stärken auf, die auch und gerade im erziehungswissenschaftlichen Kontext als relevant gel-ten können:

(1) Es überwindet weitreichende Reduktionen und überzogene Erklärungsansprüche früherer bio-logischer Ansätze. (a) Hatte von Cube mit seinem Aner ein lediglich phylogenetisch orientiertes Menschenbild entworfen und den Menschen so unter dem Aspekt seiner stammesgeschichtli-chen Entwicklung gesehen und nur als allgemeines Naturwesen bestimmt, so rückt bei Promp durch Einbeziehung des ontogenetischen Aspektes menschliche Individualität ins Blickfeld. Diese Konzeption menschlicher Individualität impliziert einerseits eine lebensgeschichtliche Dimension und andererseits eine je individuelle Umwelt. Demgegenüber blieb der verhaltensbiologisch-kybernetische Ansatz von Cubes statisch, indem er zwischen zwei Strukturen („dem stammes-geschichtlich programmierten Aktions- und Triebpotential und der natürlichen Umwelt“458) eine zeitenthobene Gleichgewichtsrelation postulierte, und insofern personenthoben-kopflastig, als er die jenes Gleichgewicht ermöglichende „reflektierende Ratio“ vom menschlichen Individuum ab-koppelte und sie in Form der wissenschaftlichen Erkenntnis als „Prüfungsinstanz für Überlebens-fragen“459 anonymisierte. (b) Mit Blick auf die Individualität menschlichen Verhaltens und lernge-leiteter Verhaltensentwicklung in Abhängigkeit von konkreten „Lebensumständen“ kann und muß die Ableitbarkeit positiver Erziehungsziele aus einer „phylogenetischen Betrachtungsweise“, der

457 Promp 1992, S. 101f. „AAM“ steht laut Promp 1990, S. 166, für „angeborener, auslösender Me-chanismus“.

458 Cube, F. v.: Verhaltensbiologie und Pädagogik. In: Roth, L. (Hrsg.): Pädagogik. Handbuch für Studi-um und Praxis. München 1991, S. 122-131, Zitat S. 125.

459 von Cube 1991, S. 127.

lediglich noch eine normenkritische Funktion zukommt, im Gegensatz zu Liedtke (und von Cu-be460) bestritten werden.461

(2) Das Modell erklärt, daß Erziehungssituationen als „Umweltarrangements“ nicht nur „bewußt-verstandesmäßig“ und intentional gestaltet werden (können), sondern daß sie z. B. auch durch Instinktmechanismen der Beteiligten, „durch starke Instinkteinflüsse als Folge der Unmittelbarkeit ihres Sozialkontaktes“ gekennzeichnet sind, „sofern Erzieher und Zögling sich als handelnde Per-sonen in einem kommunikativen Zusammenhang gegenüberstehen“.462

„Die breite Palette phylogenetisch bestimmter Verhaltens- und Wahrnehmungsmuster im Rahmen des menschlichen Sozialverhaltens wird mithin für Erziehung relevant, wenn auch nicht im Sinne allgemeiner Zielbestimmungen, so doch bezüglich der Beurteilung konkreter Handlungen bzw. Handlungsvorschriften im Erziehungskontext.“463

Als „Teile“ der erziehungsrelevanten Umwelt werden neben Personen auch „Medien oder sonsti-ge ‘Instanzen’“ sonsti-gesehen.464 Dies hat (zumindest) zwei wichtige Konsequenzen für das allgemeine Verständnis von Erziehung: (a) Erziehung kann offensichtlich auch aus der verhaltensbiologischen Perspektive Promps nicht auf isoliertes intentionales Geschehen bzw. Handeln verengt werden;

„Erziehung“ muß vielmehr, wie aus Promps Buch „Sozialisation und Ontogenese“ geschlossen werden kann, im Kontext von Sozialisation bestimmt werden. (b) Die bewußte und willentliche Einflußnahme auf „bestimmte Aspekte“ der Erziehungsumwelt auch im Arbeitskontext von Di-daktik und Methodik ist im Ansatz Promps u. a. auf die „Kunst des Erziehers“ bezogen, „die bis-lang entwickelten Möglichkeiten und Ansätze des Zöglings realistisch abzuschätzen und dement-sprechend Erziehungssituationen einzurichten“.465 Bezeichnungen wie „Umweltarrangement“ und

„Ökosystem“ verweisen in diesem Zusammenhang auf mögliche Berührungspunkte mit der Theo-rie Bronfenbrenners,466 die Promp nicht erwähnt.

(3) Das Modell impliziert einen Ansatz zur Erklärung menschlichen Lernens, der sich in der ihm unterlegten Denkfigur von Hansens Metapher von Natur und Kultur als „Material und Ausfüh-rung“ bzw. von deren exemplarischer Erläuterung am Beispiel der modernen Hirnforschung nicht wesentlich zu unterscheiden scheint.467 Die „größeren zusammenhängenden Verhaltensmuster“

460 Vgl. von Cube 1991, S. 127: „Tatsächlich lassen sich ... aus der Forderung nach dauerhaftem Über-leben und aus den Erkenntnissen der Verhaltensbiologie eine Reihe notwendiger Verhaltensbedingun-gen ableiten.“

461 Vgl. Promp 1992, S. 106.

462 Vgl. Promp 1992, S. 103.

463 Promp 1992, S. 103.

464 Vgl. Promp 1992, S. 102.

465 Vgl. Promp 1992, S. 102f.

466 Vgl. Bronfenbrenner, U.: Ökologische Sozialisationsforschung. Stuttgart 1976. Vgl. auch Ders.: Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart 1981.

467 Vgl. Hansen, K. P.: Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen/Basel 1995, insbeson-dere S. 26f. und 175. Vgl. auch Abschnitt 6 dieser Arbeit.

stehen beim Menschen für das „gelernte Verhalten“ im Sinne einer „Zusammenfügung der Ein-zelbausteine“, deren „Herkunft“ nach Promp nur phylogenetisch erklärbar ist.

Der Satz: „Das menschliche Verhalten darf in diesem Sinne als vollständig von den phylogene-tisch entwickelten Instinktmechanismen abhängig betrachtet werden“, wird insofern durch Promp selbst relativiert, als er (a) von einer mehrfachen ontogenetischen Nachjustierung des ver-haltenssteuernden „Systems“ ausgeht und (b) die Abhängigkeit des Verhaltens von der individu-ellen Umwelt einräumt. Vollständige phylogenetische Abhängigkeit menschlichen Verhaltens kann daher nicht im Sinne eines biolog(ist)ischen Determinismus verstanden werden: Phylogene-tisch ist in diesem Erklärungsansatz offensichtlich lediglich ein Repertoire möglicher muster vorgegeben, und diese Annahme schließt nur aus, daß sich (ontogenetische) Verhaltens-muster ausbilden können, die keine phylogenetische Grundlage aufweisen.

Promp bezieht damit insofern eine dem Grundansatz behavioristischer Lerntheorie konträre Posi-tion, als eine prinzipiell unbegrenzte Formbarkeit (und Vorhersagbarkeit) menschlichen Verhaltens unter Hinweis auf dessen natürliche Grundlagen ausgeschlossen wird, ohne in das andere Extrem einer organismischen Determiniertheit menschlichen Verhaltens zu verfallen. Er überwindet damit das anthropologische Dilemma von Cubes, der zwar um eine verhaltensbiologische Orientierung bemüht ist, aber ohne die problematische Reduktion des Menschen auf die behavioristische Black box nicht auskommt. Auch die Funktion des Großhirns im Kontext von Verhalten und Lernen wird differenzierter dargestellt als im Ansatz von Cubes: War die „reflektierende Ratio“ dort als wissenschaftliche Erkenntnis vom Individuum isoliert und absolut gesetzt, so werden hier der Zu-sammenhang zwischen Funktionen des Großhirns (den „Situationsanalysen und -interpretationen“) und instinktiver Steuerung468 und - in Anlehnung an Leyhausen469 - der Cha-rakter der reinen Ratio als „tote Rechenmaschine“ betont, und der „Zögling“ wird - nicht nur in kommunikativer Hinsicht - als aktiver Teilnehmer am Erziehungsgeschehen und als aktiver Ge-stalter bzw. Organisator seiner Lernprozesse gesehen:

„Die Auseinandersetzung mit der Sache selbst muß der Zögling allerdings alleine leisten, denn aufgrund der Autonomie seines Nervensystems kann ihm diese Aufgabe nicht abgenommen werden. Ihm steht dazu seine Instinktausstattung zur Verfügung, ergänzt und vorjustiert durch die Erfahrungen, die sich schon in der Verhaltenssteuerung niedergeschlagen haben.“470

468 Zur Gegenüberstellung von „Instinkt“ und „Intelligenz“ und zum intelligenten Verhalten als „erweiter-tem Instinktverhalten“ vgl. den Abschnitt „Intelligentes Verhalten“ in Promp 1990, S. 56-65.

469 Leyhausen, P.: Das Verhältnis von Trieb und Wille in seiner Bedeutung für die Pädagogik. In: Lorenz, K. und Leyhausen, P.: Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. München 1952, S. 62. (Li-teraturangabe nach Promp 1992, S. 102.)

470 Promp 1992, S. 102.

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 114-118)