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Gesamtbetrachtung und Würdigung

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 160-165)

These 5 - Menschliches Verhalten ist zukunftsorientiert - Antizipation und Humanisation

4.2.2 Gesamtbetrachtung und Würdigung

Jüttemann hat die Beiträge Thomaes zu einer „zur Diskussion stehenden (Ergänzung J. K.) Ver-änderung der Psychologie“ ausdrücklich gewürdigt. Zum einen nennt er

641 Thomae 1991, S. 117f.

642 Thomae nennt Bergius, Kelly, Heckhausen, Lersch, Lewin und Nuttin. Vgl. Thomae 1991, S. 118.

643 Thomae bezieht sich auf Kelly, G.: Man’s construction of his alternatives. In: Lind, G. (Hrsg.): As-sessment of human motives. New York 1958, S. 33-64, Zitat S. 51. (Literaturangabe nach Thomae 1991.)

644 Thomae 1991, S. 118f.

„die Verbreitung der Einsicht, daß in der Psychologie nicht von den Ergebnissen einer laborato-riumsexperimentellen (oder faktorenanalytischen) Forschung entscheidende Erkenntnisfort-schritte zu erwarten sind, sondern vor allem vom Ansatz einer auf den Lebenszusammenhang bezogenen, alltagsnahen Psychologie. ... Er hat ... zur Entdeckung des unschätzbaren Werts spontaner Äußerungen für jede grundlagenwissenschaftliche psychologische Forschung beige-tragen.“646

Zum anderen nennt Jüttemann

„die Vorgehensweise, auf der Grundlage explorativ erhobener Daten biographisch bedeutsame und inhaltlich interpretierte Kategorien zu identifizieren. Thomae ist damit zugleich zu einem wichtigen Vorkämpfer einer qualitativen methodologischen Orientierung geworden, auch wenn er sich weitgehend darauf beschränkt, qualitative Strategien als Alternative der Datenerhe-bung und nicht der Datenauswertung einzusetzen.“647

Darüber hinaus habe Thomae das psychologische Verständnis individueller Sozialisation erwei-tert:

„Eine besondere Beachtung verdient die Tatsache, daß Thomae im Zusammenhang mit der Anwendung der biographisch-individualhistorischen Methode auch sozialgeschichtlichen Ge-sichtspunkten seine Aufmerksamkeit zuwendet (Kruse und Thomae 1992; vgl. Lehr 1988).

Damit geht einher, daß auch die Sozialisation des Individuums, anders als in der herkömmli-chen Entwicklungspsychologie, nicht einseitig unter dem Aspekt der Reifung, d. h. einer mehr oder weniger vollständigen endogenen Vorprogrammiertheit des Geschehens betrachtet, son-dern außerdem unter dem Gesichtspunkt ihrer historisch-kulturellen Bedingtheit untersucht wird.“648

Der einzige kritische Einwand Jüttemanns geht dahin, daß sich Thomae „darauf beschränkt, qua-litative Strategien als Alternative der Datenerhebung und nicht der Datenauswertung einzuset-zen.“ Worauf diese Kritik zielt und von welchem Stellenwert quantitativer Methoden im grundla-genwissenschaftlichen Kontext der Psychologie sie ausgeht, wird in der Betrachtung des Jüttemannschen Ansatzes deutlich werden.649 Entscheidend an Thomaes Ausführungen insbe-sondere zur Sozialisationsthese ist das Postulat einer Synthese von quantitativen und qualitativen Methoden, wie sie grundsätzlich auch vom Forschungsprogramm Subjektive Theorien und in der neueren Sozialisationstheorie angestrebt wird - dort allerdings unter Zugrundelegung eines expli-ziten Subjekt-Modells, während Thomae zwar wesentliche Implikationen dieser Subjekt-Modelle teilt, vom Menschen als Individuum und Person auszugehen, und offensichtlich nur die Bezeich-nung „Subjekt“ vermeidet.

Tatsächlich weist das von Thomae skizzierte Menschenbild bzw. anthropologische Modell der gegenwärtigen Psychologie nahezu alle Kennzeichen eines elaborierten Subjekt-Modells auf. Dies

645 Thomae 1991, S. 119.

646 Jüttemann 1992, S. 43.

647 Jüttemann 1992, S. 43f.

648 Jüttemann 1992, S. 44. Jüttemann bezieht sich auf Kruse, A. und Thomae, H.: Menschliche Ent-wicklung im historischen Wandel. Empirisch-psychologische Beiträge zur Zeitgeschichte. Heidelberg 1992.

649 Vgl. Abschnitt 4.3 dieser Arbeit.

wird deutlich, wenn man die Ausführungen Thomaes auf die Dimensionen Schneewinds bezieht, die - wie gesagt - ein System von anthropologischen Grundannahmen650 bezeichnen; bleiben die-se Grundannahmen unausgesprochen, so nehmen sie den Stellenwert subjektiver Präsuppositio-nen an, die - so zeigt das Beispiel des Oerterschen Stufenmodells651 - in der spezifischen Theorie nicht nur „selbst nicht mehr thematisiert werden“652, sondern im Sinne der Jüttemannschen Kri-tik an der empiristischen Orientierung in der Psychologie eine Scheinverifizierung erfahren und so einen dogmatischen Charakter annehmen653.

Thomae legt die Grundannahmen „seines“ anthropologischen Modells der gegenwärtigen Psycho-logie, soweit sie in Schneewinds Kriterienkatalog erfaßt sind, weitestgehend offen; zumindest aber sind sie im wesentlichen interpretativ rekonstruierbar. Der Versuch, diese Grundannahmen nach Schneewinds Kriterienkatalog (tabellarisch) zu ordnen, verweist auf das Grundproblem, daß Schneewind von polaren Einzelpositionen ausgeht, wie sie sich etwa für die extremen Alternati-ven des organismischen und des mechanistischen Modells oder einer idiographischen und einer nomothetischen Strategie nachweisen lassen. Damit bildet er in seinem Modell diese polare Grundstruktur ab, die im Großteil der von Thomae formulierten Grundannahmen aufgebrochen wird, insofern diese auf die Intention einer synthetischen Verknüpfung verweisen. Zudem ver-weist Schneewinds Kriterienbildung auf eine elementaristische Tendenz in dem Sinne, daß sie in elaborierten Menschenbildkonzeptionen eng zusammengehörige Aspekte zergliedernd trennt.

Dennoch oder gerade deshalb kann die (tabellarische) Beziehung von Thomaes Grundannahmen auf Schneewinds Kriterien die elaborierte Struktur des weit(est)gehend konsensfähigen anthropo-logischen Modells der gegenwärtigen Psychologie zumindest andeuten.

650 Vgl. Schneewind 1992a, S. 85.

651 Vgl. Abschnitt 5.1 dieser Arbeit.

652 Vgl. Zimbardo 1995, S. 8.

653 Vgl. Jüttemann 1992, S. 9ff. und S. 77ff.

Dimension/Kriterium Kurzcharakterisierung Erläuterungen Freiheit vs. Determiniertheit Betonung eines (relativen) personalen

Entscheidungsfreiraums Das Individuum „schafft sich selbst“ im Rah-men der durch Organismus und Umwelt vor-gegebenen Einflüsse

Rationalität vs. Irrationalität Bewußte Planung auf der Grundlage kognitiver Strukturen; sprachliche

Environmentalismus Vorrang der Umwelt nur „sehr formale Verhaltenstendenzen“ here-ditär verankert

Subjektivität vs. Objektivität Subjektive Erfahrungen/Erlebnisse

ver-haltens-/handlungsleitend laboratoriumsexperimentelle Objektivität infra-gegestellt; „Verhalten“ ist nicht einseitig no-mothetisch bestimmbar

Proaktivität vs. Reaktivität Aktivität, Antizipation Reaktive Verhaltensanteile von untergeordne-ter Bedeutung

Homöostase vs. Heterostase zeitliche Gleichgewichtsregulation; kein

„Gleichgewichtsmodell“ (heterostatischer) Selbstaktualisierungsansatz Charlotte Bühlers?

Erkennbarkeit vs.

Unerkennbarkeit Verhalten nur in „Annäherungsgraden“

erfaßbar bzw. vorhersagbar Verhalten der „Person“ nicht vollständig wis-senschaftlich erklärbar

Sozialität vs. Asozialität Sozialisation als „primäre Formung des

Menschen“ „Ein aktiver Organismus steht in Interaktion mit bestimmten Entwicklungsbedingungen“;

Sozialisation prägt „Verhaltenstendenzen“

Abbildung 17

Grundannahmen des von Thomae formulierten „anthropologischen Modells der gegenwärtigen Psychologie“ - geordnet nach dem Kriterienkatalog Schneewinds

Thomaes anthropologisches Modell der gegenwärtigen Psychologie ließe sich insofern als Sub-jektmodell bestimmen, als es die aktive Qualität des reflexiv und intentional handelnden, situativ interagierenden Menschen betont, der seine Persönlichkeit in einem auf Individuierung und Ver-gesellschaftung bezogenen Sozialisationsprozeß entwickelt. Entscheidend ist dabei (a) die (postu-lierte) Verknüpfung der idiographischen Perspektive auf den einzigartigen Menschen als Person, die auf eine kasuistische Verfahrensweise bezogen ist, mit der nomothetischen Perspektive, die nach universellen, allen Individuen (einer Gruppe, Gesellschaft oder Kultur) gemeinsamen Eigen-schaften und Eigenschaftsdimensionen fragt und mittels der korrelativen Methode intersubjektiv gültige gesetzmäßige Beziehungen zu eruieren sucht. Entscheidend ist dabei ferner (b) ein Ver-ständnis bewußten menschlichen Handelns, das an die Stelle des auch in der früheren umweltde-terminstischen Sozialisationstheorie üblichen Verständnisses menschlichen Verhaltens im Sinne von Reflexen oder einfachen Reaktionen tritt. Thomaes schon 1977 formulierte Konzeption der bewußten Handlung654 geht von einer dem mechanistischen Modell des Behaviorismus entge-gengesetzten „Objektbeziehung“ aus; unter Rekurs auf Rubinstein655 stellt er fest: „Erst durch

654 Vgl. Thomae, H.: Psychologie in der modernen Gesellschaft. Göttingen 1977.

655 Rubinstein, S.: Grundlagen der allgemeinen Psychologie. Berlin 1958.

diese spezifische Objektbeziehung (die „Bezugnahme auf das Bewußtsein“ - Erläuterung J. K.) werde aus der Reaktion eine Handlung“656.

Damit sind wesentliche Grundlagen bezeichnet, die die Frage nach Menschenbildern als subjekti-ven Orientierungsmustern auch im Erziehungskontext handelnder Menschen und die Frage nach deren Wirksamkeit als sinnvolle Objekte im Kontext einer Stufenhierarchisierung erscheinen las-sen, die nicht-wertend verfährt und auf die Berücksichtigung wissenschaftlicher Modelle in Kon-zepten praktischen Handelns nach Maßgabe ihrer Elaboriertheit zielt. Damit sind wesentliche Grundlagen auch für ein humanwissenschaftlich tragfähiges Menschenbild bezeichnet, das in Anerkennung der menschlichen „Doppelnatur“ die spezifischen Erkenntnisinteressen von Einzel-disziplinen wie Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft (und selbst Biologie) zu berück-sichtigen verspricht, indem es sie auf das integrative und multimethodale Konzept der Sozialisa-tion (nicht: der SozialisaSozialisa-tionstheorie) als eines umfassenden Prozesses der Persönlichkeitsentwicklung bezieht.

Das von Thomae skizzierte anthropologische Modell läßt (a) offen, wie die postulierte Verknüp-fung der bislang „disjunktiv“657 gedachten Orientierungen - etwa der idiographischen und der nomothetischen Strategie, der qualitativen und der quantitativen Methoden, des Handlungs- und des Verhaltenskonzepts, der Innensicht- und der Außensichtperspektive, der verstehenden und der erklärenden Wissenschaftsstruktur etc. - zu erreichen ist. Es leistet (b) keine Thematisierung bzw. Problematisierung des Subjekt-Begriffs, der nach Jüttemann „eine mehr oder minder auto-nome Instanz von zentraler Wirksamkeit repräsentiert“658. Es stellt (persönlichkeits)psychologisch relevante Prozesse und Strukturen in den Kontext von Sozialisation, ohne (c) ein sozial- und ver-haltenswissenschaftliches Integrationsmodell (erziehungswissenschaftlich-)psychologisch-soziologischer Kooperation zu entwerfen, das „makroanalytisch-gesellschaftsstrukturelle und mi-kroanalytisch-persönlichkeitsstrukturelle Ebenen der Analyse“659 aufeinander bezieht.

656 Thomae 1991, S. 112. Damit wird die Nähe des von Thomae referierten Modells zum interaktionisti-schen Ansatz erkennbar. Die pauschale Kritik Schneewinds, daß - wie die behavioristische - „auch die interaktionistische Position Verhalten letztlich als eine durch innere und äußere Bedingungen aus-gelöste Reaktion versteht“ bzw. empiristisch als „Resultat des Einflusses von Situations- und Per-sonvariablen sowie deren Wechselwirkung“ (vgl. Schneewind 1992a, S. 81), greift m. E. fehl, weil sie den prinzipiellen Unterschied, der sich durch die „spezifische Objektbeziehung“ des (nach Thomae auch „antizipativen“, und das heißt zumindest, des planenden und die jeweilige Situation mitgestal-tenden) Bewußtseins ergibt, unberücksichtigt läßt. Zum spezifischen Verständnis von „Situation“ in Ansätzen des in bewußter Abgrenzung zum Behaviorismus konzipierten symbolischen Interaktionis-mus vgl. Brumlik, M.: Der symbolische InteraktionisInteraktionis-mus und seine pädagogische Bedeutung. Versuch einer systematischen Rekonstruktion. Frankfurt a. M. 1973, insbesondere S. 45-54 und S.78-90.

657 Vgl. Groeben 1986, S. 380. Vgl. auch Abschnitt 5.4 dieser Arbeit.

658 Vgl. Jüttemann 1992, S. 122. Vgl. auch Abschnitt 4.3 dieser Arbeit.

659 Vgl. Hurrelmann 1993, S. 86f. Vgl. auch Abschnitt 5 dieser Arbeit.

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