• Keine Ergebnisse gefunden

Der geisteswissenschaftliche Ansatz Berthold Gerners (1974)

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 38-50)

5. Der implizite Ansatz begreift den Menschen als: imago hominis. Der Mensch erscheint im Modus des Bildes (Scheuerl)

2.2 Der geisteswissenschaftliche Ansatz Berthold Gerners (1974)

Im Jahr 1992 erschien Berthold Gerners „Einführung in die Pädagogische Anthropologie“ in ihrer dritten, unveränderten Auflage. Im Nachwort zur zweiten, ebenfalls unveränderten Auflage von 1986 hatte Gerner mit Blick auf die Beibehaltung der Fassung von 1974 festgestellt: „ ... Ande-rerseits scheinen keine prinzipiell neuen Konzepte auf den Plan getreten zu sein, die verlangen würden, diese ‘Einführung’ in wesentlichen Teilen zu verändern.“119 Daß pädagogische Anthropo-logie aus sich heraus im Zeitraum von 1974 bis 1986 keine prinzipiell neuen Konzepte entwickelt habe, mag man so stehen lassen. Es hat aber in diesem Zeitraum, wie u. a. bei Wulf120 und Ha-mann121 nachzulesen ist, zahlreiche Weiterentwicklungen gegeben, die zwar die Grundproblema-tik pädagogischer Anthropologie nicht zu bewältigen vermochten, aber zum Teil Versuche einer Konsolidierung und zum Teil Versuche einer Systematisierung darstellen. Da auch die dritte Auf-lage unverändert blieb, fallen aus Gerners Betrachtung u. a. so wichtige Entwicklungen wie die versuchte Runderneuerung eines pädagogisch-anthropologischen Profils durch Meinberg122 und der Neuansatz der Sozialisationstheorie bei Hurrelmann123 heraus.

118 Roth, H. 1965, S. 169.

119 Gerner, B.: Einführung in die Pädagogische Anthropologie. Darmstadt, 3., unveränderte Aufl. 1992, S. 171f. (1. Aufl. 1974).

120 Vgl. Wulf, Chr. (Hrsg.): Einführung in die pädagogische Anthropologie. Weinheim/Basel 1994.

121 Vgl. Hamann, B.: Pädagogische Anthropologie. Theorien - Modelle - Strukturen. Eine Einführung. Bad Heilbrunn, 2., überarb. und erw. Aufl. 1993 (1. Aufl. 1982).

122 Meinberg, E.: Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft. Darmstadt 1988.

123 Vgl. u. a. Hurrelmann, K.: Einführung in die Sozialisationstheorie. Über den Zusammenhang von So-zialstruktur und Persönlichkeit. Weinheim und Basel 1986 (4., überarbeitete und ergänzte Auflage 1993). Vgl. auch Tillmann, K.-J.: Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Reinbek 1994 (1. Aufl. 1989).

Der Begriff „Sozialisation“ kommt in Gerners Sachwortverzeichnis nicht vor, wenngleich Soziali-sationstheorie und -forschung schon 1974 und Jahre zuvor in pädagogischen Kreisen für Aufse-hen gesorgt hatten, zumal aus ihrem Arbeitskontext heraus massive Kritik an Pädagogischer An-thropologie und ihrem geschichtslosen Erziehungs- und Bildungsverständnis geübt worden war.124 Diese Kritik und die inneren Entwicklungen pädagogischer Anthropologie fortgesetzt zu ignorieren, läßt sich mit dem selbstbewußten Anspruch Gerners, der in folgenden Worten zum Ausdruck kommt, schwer in Einklang bringen:

„Will man in die Pädagogische Anthropologie einführen, wird man die historische Entwicklung berücksichtigen müssen, wie sie im vorliegenden Band dargestellt ist; da sie nirgendwo sonst in der gleichen Ausführlichkeit und differenzierenden Reflexion behandelt ist, wird man von unserer Schrift wohl nicht gerne absehen.“125

Wenn Gerners Arbeit vor diesem Editionshintergrund auch nicht mehr als ausführlichster, umfas-sendster und differenziertester Systematisierungsversuch pädagogischer Anthropologie gelten kann, so wirken doch dessen programmatische und heuristisch kreative Potentiale unverkennbar nach. Vor allem die Kapitel „Pädagogisch-anthropologische Grundverhältnisse“ und „Anthropolo-gisch-pädagogische Dimensionen“ werden noch heute von zahlreichen Pädagoginnen und Päd-agogen als Fundgrube und Bezugsrahmen für die Konsolidierung unterschiedlichster theoretischer und ausgesprochen praxisbezogener Arbeiten genutzt.126

Gerner geht es um die Darstellung einerseits anthropologischer Implikationen in pädagogischen Theorien und andererseits um die pädagogische Interpretation anthropologischer Konzeptionen.

Diesen Reflexionszusammenhang habe es als „implizite Pädagogische Anthropologie“ „seit länge-rem“ gegeben; Ziel seiner Ausführungen ist es nun, „eine inhaltliche Skizze der wichtigsten Grundbegriffe - und damit der wichtigsten Einsichten“ zu geben, die sich als „Grundverhältnisse“

beschreiben lassen. Seine „Erläuterung“ beginnt Gerner mit einer Darstellung seines Verständnis-ses von „Erziehung“:

„Wir verstehen unter Erziehung einen Vorgang, der immer von zwei Seiten aus bedenkbar ist - entsprechend dem doppelten, einmal ‘passiven’, einmal ‘aktiven’ Verständnis des Begriffs:

daß unter Erziehung sowohl das Erzogenwerden wie das Erziehen verstanden werden kann und auch verstanden wird (...).“127

124 Vgl. u. a. Kamper, D.: Anthropologie. In: Wulf, Chr. (Hrsg.): Wörterbuch der Erziehung. München, 2.

Aufl. 1976, S. 23-25 (1. Aufl. 1974). Vgl. auch Kamper, D.: Neuere Ansätze zu einer „pädagogi-schen Anthropologie“. In: Th. Ellwein u. a. (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliches Handbuch, Bd. III 1. Berlin 1971, S. 101-105; 142-147.

125 Gerner 1986, S. 172.

126 Hierfür zwei Beispiele: Antonius Sommer hat sein gesundheitspädagogisches Konzept auf der von Gerner entwickelten „pädagogisch-anthropologischen Grundlage“ errichtet (vgl. u. a. Sommer, A.:

Gesundheitspädagogik - Skizzierung eines Konzeptes auf pädagogisch-anthropologischer Grundlage.

In: Knörzer, W. (Hsrg.): Ganzheitliche Gesundheitsbildung in Theorie und Praxis. Heidelberg 1994, S.

31-48.); für Irmgard Bock „scheint ... der Gesichtspunkt Gerners ... der fruchtbarste“ (Bock, I.: Päd-agogische Anthropologie der Lebensalter. Eine Einführung. München 1984, Zitat S. 19.).

127 Gerner 1974, S. 21.

Diesen Doppelcharakter von „Erziehung“ personifiziert er dann im Rahmen eines „vereinfachten Modells“ („der Gegenüberstellung zweier Menschen - eines, der erzogen wird, und eines, der er-zieht“) in den „Grundfiguren Zögling und Erzieher“. Auch wenn Gerner einschränkt, „daß reale Erziehung nicht in dieser vereinfachten Form verläuft“128, sind an dieser Stelle einige kritische Anmerkungen zu diesem Denkmodell geisteswissenschaftlicher Pädagogik angebracht. Ange-sichts des Wortumfelds für „Schüler“ stellt Wünsche zur Bezeichnung „Zögling“ fest:

„Dieses alte Synonym für Schüler, von der deutschen Pädagogik des 19. Jahrhunderts durch-weg gebraucht, meinte einen Knaben, welcher der Obhut und Leitung eines einzelnen Lehrers, seines Hofmeisters oder Hauslehrers anvertraut war. Solcher Zögling war dem pädagogischen Denken bis in die Reformpädagogik um 1900 hinein der Modell- und Idealschüler. Der Lehrer besaß einen individuellen Zugang zu seinem Zögling, eine vitale Kraft zur Betätigung eigener Bildsamkeit ging von diesem Bezug auf den Schüler aus, der unbedingt mit Selbsttätigkeit sei-nem Lehrer zu antworten hatte.“129

Nicht ausschließen läßt sich, daß bis in die 70er Jahre und darüber hinaus im Gebrauch der Be-zeichnung „Zögling“ eine Art pädagogischer Nostalgie angesichts eines einstmals „idealen“ päd-agogischen Bezuges mitschwingt, eine Nostalgie, die allerdings von der damals üblichen Hofmei-ster-Honorierung absieht. Wichtiger ist: Prinzipiell läßt sich in Anlehnung an Merkens festhalten, daß die reflexive Beschränkung auf dyadische Interaktion eine weitreichende Reduktion des Er-ziehungsbegriffs mit sich bringt:

„ ... die Schwäche kann gesehen werden in der ... Beschränkung auf die Reflexion sowie in der Notwendigkeit, alle institutionalisierten Formen der Interaktion auf dyadische zu reduzie-ren, weil andere sich dem besonderen Ansatz des pädagogischen Verhältnisses als Grundmu-ster pädagogischen Handelns nicht einpassen.“ 130

Dieses reduzierte Erziehungsverständnis - setzt sich in Gerners Abgrenzungsversuch von „Erzie-hung“ einerseits und „Sozialisation“ andererseits fort:

„Wir wissen zwar sehr wohl, daß die bewirkenden Instanzen von Erziehung (als Erzogenwer-den) von manchen Autoren in zwei sehr unterschiedliche Typen klassifiziert werden: Erziehung durch Menschen einerseits (die mehr oder weniger absichtsvoll und planmäßig vorgehen), an-dererseits Erziehung durch alles nur Denkbare bis zu Blumen oder Landschaften oder Sternen (einschließlich Menschen, die in keiner Weise an Erziehung denken) - dieses zweite unter der Bedingung, daß im Kinde Veränderungen angeregt werden, die sich als Etappen oder Phasen auf dem Weg zu dem Zustand verstehen lassen, den die gewollte Erziehung durch ihre Maß-nahmen erreichen möchte. Wir stellen diese Unterscheidung - früher als intentionale und funk-tionale benannt, heute meist als eigentliche Erziehung und Sozialisation - beiseite, ohne damit den hinter dieser Differenzierung stehenden tatsächlichen Unterschied leugnen zu wollen.“131

128 Gerner 1974, S. 22.

129 Wünsche, K.: Der Schüler. In: Lenzen, D. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1994, S. 362-382, Zitat S. 363.

130 Merkens, H.: Wissenschaftstheorie. In: Roth, L. (Hrsg.): Pädagogik. Handbuch für Studium und Pra-xis. München 1991, S. 19-31, Zitat S. 22.

131 Gerner 1974, S. 21f.

Sozialisation wird hier verstanden als funktionale Erziehung „durch alles Denkbare“ wie Blumen, Landschaften, Sterne. Wenn überhaupt eine Erwiderung nötig ist, dann soll sie mit Gudjons’ Aus-führungen zum Begriff der funktionalen Erziehung erbracht werden:

„Gemeint sind mit der funktionalen Erziehung die gesellschaftlich wirksamen Faktoren, die nicht zum Zwecke der Erziehung geschaffen wurden, gleichwohl aber Einfluß auf Kinder und Jugendliche haben: Ihr Spektrum reicht vom Fernsehen, Illustrierten und anderen Medien über soziale Normen (z. B. im Sportverein) bis zu Sitten und Bräuchen. ... Da es sich bei der ‘funk-tionalen Erziehung’ um eine Vielfalt und ungemein hohe Komplexität aller möglichen Faktoren handelt, darf der Begriff nicht einfach mit ‘Sozialisation’ - einem vergleichsweise genau defi-nierten theoretischen Begriff - gleichgesetzt werden!“132

Auf der Grundlage eines eingeschränkten Erziehungsverständnisses entwickelt Gerner seine päd-agogisch-anthropologischen Grundverhältnisse, die er jeweils in einem „dreifachen Ansatz“ mit-tels der Kategorien „Hilfe“, „Erziehung“ und „Lernen“ skizziert.

Abbildung 3

„Pädagogisch-anthropologische Grundverhältnisse“ bei Gerner133

Man könnte nun versuchen, für die einzelnen fünf „Grundverhältnisse“ Ordnungskategorien zu finden: So scheinen die Kategorien der ersten Gruppe auf einen verbindenden ethischen Aspekt bezogen zu sein und die der dritten Gruppe auf einen motivationalen; die vierte Gruppe scheint sich auf das prozessuale Moment von Erziehung zu beziehen und die zweite Gruppe am ehesten

132 Gudjons, H.: Pädagogisches Grundwissen. Überblick - Kompendium - Studienbuch. Bad Heilbrunn, 3.

Aufl. 1995, S. 179f.

133 Gerner 1974, S. 28.

Pädagogisch-anthropologische Grundverhältnisse

Hilfsbedürftigkeit Hilfsverantwortung

Erziehungsbedürftigkeit 1 Erziehungsverantwortung

Lernbedürftigkeit Lehrverantwortung

Hilfsempfänglichkeit Hilfsbefähigung

Erziehbarkeit 2 Erziehungsbefähigung

Lernfähigkeit Lehrbefähigung

Hilfsannahmebereitschaft Hilfswille Erziehungsbereitschaft 3 Erziehungswille

Lernbereitschaft Lehrwille

Helfenlassen Helfen

Erziehenlassen 4 Erziehen

Belehrenlassen Lehren

Selbsthilfe Hilfe

Selbstgestaltung 5 Erziehung

Selbständiges Lernen Belehrung zunehmend bis zur vollen

Selbständigkeit abnehmend bis zur Überflüssigkeit

auf die „natürlichen“ (biologischen, kognitiven etc.) und vielleicht auch sozialen Voraussetzungen kompetenten Erziehungshandelns. Gruppe fünf stünde für die Ebene der Erziehungsziele134:

„Wenn Erziehung nun tatsächlich geschieht und der Erzogene mit Hilfe von Erziehung immer ein Stück weiterkommt (auch unter Rückfällen), dann wird der Erzogene dem Ziel der Erzie-hung näher kommen.“135

Nur: Wie kommt der „Zögling“ über die Erziehung zu „Selbsthilfe“, „Selbstgestaltung“ usw.?

Oder: Wie wird aus Fremdbestimmung Selbstbestimmung? Daß dies möglich sei, wird lediglich behauptet; eine Erklärung (etwa: Imitation, Identifikation) wird nicht angeboten. Das eigentliche Problem dieses formalen Funktionsmodells von Erziehung besteht aber in der dyadischen Struktur von Erziehungshandeln, deren eingeschränkte Perspektive vor allem den sozialen Erziehungskon-text ausblendet: Das (realiter plurale) Verhältnis zwischen denen, die erziehen, und denen, die erzogen werden, weist aber zumindest auch eine institutionelle und eine normative Dimension auf, die sich zum intentionalen Erziehungsgeschehen nicht neutral verhalten (können).

Im Gegensatz zum Reflexionsmodell der „pädagogisch-anthropologischen Grundverhältnisse“, das letztlich spekulativ bleibt und dessen Systematisierung willkürlich und nicht konsistent an-mutet, scheint der andere systematische Ansatz Gerners die geisteswissenschaftliche Konzepti-on des „ganzen Menschen“ als PersKonzepti-on in einer bis dahin unerreichten Dichte zu präzisieren. Ger-ner möchte die aus pädagogischer Sicht „wichtig scheinenden Dimensionen des Kindes - und damit des Menschen im Hinblick auf Erziehung“ bestimmen. „Dimension“ soll dabei „ganz allge-mein ... jeweils eine Richtung“ bezeichnen, „in der das Kind seine Menschwerdung realisiert und die darum für Erziehung wichtig ist“. Das Motiv, daß der Mensch erst durch Erziehung zum Men-schen werde, findet sich vor Gerner etwa in der Auffassung des MenMen-schen als „extrauterine Frühgeburt“ in den Wendungen „extrauterines Frühjahr“ 136 und „physiologische Frühgeburt“137 bei Portmann, im von Gehlen138 rezipierten „Mängelwesen“ Herders, in Ansätzen bei Nietzsche und im Kontext des in der Biologie u. a. von Lorenz139 beschriebenen Phänomens der „Fötalisati-on“, das wiederum von Gehlen philosophisch-anthropologisch adaptiert wurde. Abgesehen da-von, daß hier eine biologisch (heute) so nicht (mehr) haltbare Hypothese vertreten wird140, schafft Gerner ein pädagogisches Konstrukt, dessen Verhältnis zur Realität von Alltags- und

134 Die Grenzen der hier angedeuteten Systematisierung wären rasch erreicht: Eine Evidenz von „Hilfs-bedürftigkeit“ etwa ließe sich für den Säugling konstatieren und als (auch) biologisch beschreibbares Phänomen ebenso der zweiten Gruppe zuordnen usw.

135 Gerner 1974, S. 27.

136 Vgl. Portmann, A.: Biologie und Geist. Frankfurt 1973.

137 Portmann, A.: Die Menschengeburt im System der Biologie. In: Bamberger, R. u. a. (Hrsg.): Das Kind in unserer Zeit. Stuttgart 1958, Zitat S. 27.

138 Vgl. Gehlen, A.: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt/Bonn, 8. Aufl.

1966.

139 Vgl. etwa Lorenz, K.: Ganzheit und Teil in der tierischen und menschlichen Gemeinschaft (1950). In:

Ders.: Über tierisches und menschliches Verhalten. 2 Bände. München 1965, Band 2, S. 114-200.

140 Vgl. Promp, D. W.: Sozialisation und Ontogenese - ein biosoziologischer Ansatz. Berlin/Hamburg 1990, insbesondere S. 15ff.

senschaftlicher Erfahrung sich nur als paradox bestimmen läßt und das eine Aufwertung von Er-ziehung/Pädagogik durch eine spekulative Reduktion auf der Ebene des Menschenbildes erkauft.

Ganz zu schweigen von den konkreten psychologischen, pädagogischen und selbst juristischen Konsequenzen, die sich einstellten, wenn man diese Auffassung beim Wort nähme.141

Einen Anspruch auf hermetische Dichte seines Modells der „anthropologisch-pädagogischen Di-mensionen“ erhebt Gerner nicht:

„Wichtig bei diesem Versuch bleibt: daß keine festen Grenzen zwischen den erwähnten Di-mensionen gedacht sind; daß ihre Bezeichnung variiert und ihre Zahl begründet vermehrt oder verringert werden kann; daß die Reihenfolge nicht zeitlich und nicht im Sinne einer Wertung aufgefaßt werden sollte, wenngleich weder geleugnet werden kann noch will, daß gewisse Dimensionen, anthropologisch gesehen und damit pädagogisch, ‘wichtiger’ sind insofern, als sie mehr als andere die Eigentümlichkeit des Menschen (gegenüber anderen Lebewesen, be-sonders natürlich dem Tier) zur Geltung bringen.“142

Abbildung 4

Anthropologisch-pädagogische Dimensionen und pädagogisch-anthropologische Grundverhältnisse nach Gerner143

Dieser Einladung zur „begründeten Vermehrung“ anthropologisch-pädagogischer Dimensionen ist dann u. a. Antonius Sommer gefolgt, indem er als neunte die kreative Dimension hinzufügte und das Modell um Umwelt-Aspekte ergänzte.

141 Weniger drastisch stellt sich die idealtypische „Rollenverteilung“ auf educans und educandus bei Heinrich Roth dar: Seine Auffassung, daß am reifen Erwachsenen rekonstruktiv zu erforschen sei, was Entwicklung zur Reife ermöglicht, verweist auf das Forschungsproblem, daß der „erwachsene“

Mensch als Gegenstand z. B. psychologischer, soziologischer, pädagogischer etc. Forschung immer schon „erzogen“ ist, daß eine willkürlich mechanistische Trennung in psychologische, soziologische, pädagogische usw. „Anteile“ daher nicht möglich und eine integrative Zusammenschau erforderlich ist.

142 Gerner 1974, S. 30.

143 Gerner 1974, S. 37.

Abbildung 5

Das Modell der anthropologisch-pädagogischen Dimensionen Gerners in seiner Weiterentwicklung durch Sommer144

Sommers graphische Darstellung der „Dimensionen“ läßt in ihrer kreisförmig-konzentrischen Konstellation eher das kreative Potential des Gernerschen Denkmodells hervortreten. Im Kontext der Sommerschen Konzeption von Gesundheitspädagogik stellt es nicht nur einen Teil der an-thropologischen Theoriegrundlage dar, es soll zugleich den angehenden Gesundheitspädagogin-nen und -pädagogen als Ideenlieferant für die Bestimmung gesundheitlich relevanter Zusammen-hänge und für die Entwicklung von Bildungs- und Erziehungsangeboten im Sinne von Aufbaufaktoren dienen.145 Dieser Denkansatz, den Gerner selbst nicht formuliert hatte, läßt sich auf den gesamten pädagogischen Bereich generalisieren, wenn und insofern intentionale und ge-plante Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen bzw. -angebote als Beiträge zur „Persönlichkeitsför-derung“ konzipiert werden.

Im Modellansatz Sommers sind die einzelnen Dimensionen miteinander verbunden, was Gerners

„Einsicht in die gegenseitige Verflochtenheit und Abhängigkeit dieser verschiedenen Momente“146 entspricht. Einzelne „Phänomene“ lassen sich daher auf mehrere Dimensionen beziehen; mit

„Sexualität“ etwa wären primär die leibliche und die affektive Dimension angesprochen, sekun-där lassen sich im Kontext von „Sexualität“ Beziehungen zu und zwischen sämtlichen

144 Sommer, A.: Entdecke, was für dich Gesundheit ist. Anregungen und Übungen zur Steigerung von Wohlbefinden und Lebensfreude. Freiburg 1989, S. 61.

145 Mitentscheidend für das Gelingen einer so konzipierten Gesundheitserziehung und -bildung dürfte sein, daß die Gernerschen Implikationen der „Zögling-Erzieher-Dyade“ und der „Grundverhältnisse“

bewußt ausgegrenzt werden; was bliebe, wäre die formale Orientierung an den „Dimensionen“ als Hilfsmittel der Ideenfindung und Zielfestlegung.

146 Gerner 1974, S. 30.

nen herstellen. Insofern sich den einzelnen formalen Dimensionen unter einzelnen Aspekten zahl-reiche Inhalte zuordnen lassen, läßt sich folgende Annahme Gerners bestätigen: „Zugespitzt for-muliert ließe sich vielleicht sagen: je vielfältiger der Mensch erscheint, desto mehr erscheint er als innerer Zusammenhang.“147 Aber (1) wie kommt dieses Modell zustande, (2) inwiefern ist es als „Menschenbild“ interpretierbar, und (3) unter welchen Voraussetzungen läßt es sich für die Theoriekonzeption nutzen?

(1) Gerner sieht sein mehrdimensionales Modell „anthropologisch-pädagogischer Dimensionen“ in der Tradition psychologischer Persönlichkeitstheorien und in Analogie zur Philosophischen An-thropologie, ohne anzugeben, welche Theorien und Autoren er meint, und ohne die methodologi-sche Grundlage der Modellentstehung zu bestimmen:

„Das in zahlreichen psychologischen Persönlichkeitstheorien verwendete Schichtenmodell, das ja auch Autoren Philosophischer Anthropologie nicht fremd ist, gibt dieser Vieldimensionalität bildhaft Ausdruck. Heute finden wir unter der breiten Literatur, die Erziehung als speziell menschliches Phänomen und den Menschen als Wesen der Erziehung reflektiert, eine Vielzahl von Gesichtspunkten, die frühere Ansätze geradezu in den Schatten stellt. Der geschärfte an-thropologische Blick unserer Zeit entdeckt auch im Hinblick auf Erziehung immer neue Diffe-renzierungsmöglichkeiten; parallel dazu muß man allerdings die wachsende Einsicht in die ge-genseitige Verflochtenheit und Abhängigkeit dieser verschiedenen Momente betonen.“148

Und:

„Wer die pädagogisch-psychologische Literatur überschaut, findet ... zahlreiche Ansätze vor, mehr oder weniger klar expliziert und reflektiert im einzelnen, meist weniger als mehr aus zu-fälliger und fragmentarischer Behandlung herausgehoben und selten in einen Zusammenhang gebracht, der als Vorform (Hervorhebung J. K.) einer eigentlich anthropologischen Betrach-tungsweise interpretiert werden könnte.“149

Gerners Denkmodell wird auf diesem Hintergrund interpretierbar als formal-hermeneutische Auf-arbeitung phänomenologischer Einzelbetrachtungen aus den Bereichen von Pädagogik, Psycholo-gie und Philosophischer AnthropoloPsycholo-gie. Was ihm in seinem formalen Charakter fehlt, ist die ana-lytische Potenz, denn es gibt ja nur formal und deskriptiv an, was in der Betrachtung des Menschen zu berücksichtigen sei, nicht aber, wie, d. h. mittels welcher Verfahren „es“ zum Ge-genstand von Forschung im weitesten Sinne werden könne. Die Bezeichnung „Vorform“, die sich offensichtlich auf beides, die „Grundverhältnisse“ und die „Dimensionen“ bezieht, verweist dabei - eher entgegen Gerners Intention150 - auf einen letztlich integrativen Ansatz im Sinne eines for-malen Bezugsrahmens für eine „eigentlich anthropologische Betrachtungsweise“ in der Pädago-gik.

147 Gerner 1974, S. 30.

148 Gerner 1974, S. 29f.

149 Gerner 1974, S. 29.

150 Vgl. hierzu Gerners kritische Würdigung des Rothschen integrativen Ansatzes (Gerner 1974, S. 66-77) und seinen „Exkurs zum Problem der Integration“ (S. 77-82).

Im Doppelaspekt der Bezeichnung „anthropologisch-pädagogisch“ klingt die Analogie der „Viel-falt“ menschlichen Lebens und der „Viel„Viel-falt“ von Erziehungsansätzen an, eine Analogie, die einen engen Zusammenhang zwischen einem Erziehungsverständnis und einem impliziten Menschen-bild anspricht:

„Wenn hier von Dimensionen der Erziehungsbedürftigkeit und Erziehbarkeit die Rede ist, reicht schon ein Blick auf (allerdings recht lückenhaft überlieferte) ältere Erziehungspraktiken, der uns belehrt, daß Erziehen einer Vielfalt von Ansätzen folgte und eine Vielzahl von Zielen an-strebte, wie (Hervorhebung J. K.) eben das menschliche Leben in einer Vielfalt von menschli-chen Dimensionen gelebt wird.“151

(2) Diese Analogiebehauptung, Erziehung strukturiere bzw. dimensioniere sich „wie“ das menschliche Leben, verweist auf einen Kausalzusammenhang zwischen „Erziehung“ und

„Mensch“, der die formalen Strukturen/Dimensionen des Menschlichen als Struktu-ren/Dimensionen von Erziehung abbildet: Weil der Mensch durch Erziehung erst zum Menschen wird, gibt der Begriff der „Dimension“ „jeweils eine Richtung“ an, „in der das Kind seine Menschwerdung realisiert und die darum für Erziehung wichtig ist.“152 Daß die Perspektive auf den Menschen, die jene „Dimensionen“ und „Grundverhältnisse“ zum Ergebnis hat, selbst schon eine pädagogisch-psychologisch-philosophische war, problematisiert Gerner nicht. Diese spekula-tive Dialektik, das Menschliche zunächst aus pädagogischer (usw.) Perspekspekula-tive zu definieren, es dann als „das Menschliche“ zu deklarieren und schließlich Menschliches und Pädagogisches auf-grund einer (künstlich geschaffenen) analogen Struktur zu einer Einheit zu verschmelzen, kann sich des Verdachts nicht erwehren, eine simple Ringschluß-Konstruktion zu sein. Dies gilt für die von Gerner als „Vorform“ einer „anthropologischen Betrachtungsweise“ postulierte Einheit von

„Dimensionen“ und „Grundverhältnissen“153, nicht aber für die „Dimensionen“ an sich, die in der um das Attribut „pädagogisch“ bereinigten Form Reflexionsergebnis jeder humanwissenschaftli-chen Teildisziplin sein könnten oder - dank ihrer Variabilität in Bezeichnung, Anzahl, Bedeutung - zumindest humanwissenschaftlich konsensfähig sein dürften. Die Problematik der Konstruktion Gerners ergibt sich letztlich aus dem Versuch, unausgesprochen ein (implizites) „pädagogisches“

Menschenbild in ein in seinem Formalcharakter unangreifbares Denkmodell der „Dimensionen“

einzubringen: Inhaltliche Komponenten dieses Bildes sind das Herdersche Motiv des „Mängelwe-sens“ Mensch, das erst durch Erziehung zum Menschen werde und daher auch hinsichtlich sei-ner Erziehungsbedürftigkeit, Erziehbarkeit und Erziehungsbereitschaft pädagogisch zu definieren ist. Dieser Mängelkonzeption entspricht bei Gerner - wie bei vielen anderen Pädagogischen An-thropologen und Anthropologinnen - die formale Strukturhypothese menschlicher Polarität: die

151 Gerner 1974, S. 29.

152 Gerner 1974, S. 30.

153 Dazu Gerner 1974, S. 37: „Bei aller Vorläufigkeit der soeben skizzierten anthropologisch-pädagogischen Dimensionen möchte nun doch noch einmal darauf hingewiesen werden, daß wir uns erst recht verständlich gemacht haben, wenn der Leser diese Dimensionen auf die vorher umrissenen

153 Dazu Gerner 1974, S. 37: „Bei aller Vorläufigkeit der soeben skizzierten anthropologisch-pädagogischen Dimensionen möchte nun doch noch einmal darauf hingewiesen werden, daß wir uns erst recht verständlich gemacht haben, wenn der Leser diese Dimensionen auf die vorher umrissenen

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 38-50)