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Strategische und methodische Perspektiven

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 174-182)

These 5 - Menschliches Verhalten ist zukunftsorientiert - Antizipation und Humanisation

4.3 Zur Problematisierung der Menschenbild-Kategorie in Jüttemanns „Psyche und Subjekt“

4.3.1 Das Subjektive und der analytisch-induktive Perspektivismus

4.3.1.2 Strategische und methodische Perspektiven

Es bleibt die Frage nach den Strategien und Methoden, die im Sinne dieses heuristischen Sub-jekt-Modells als geeignet gelten können, psychologische Grundlagentheorie unter einer in anthro-pologischer Hinsicht verzerrungsfreien „induktiv-analytischen“ Perspektive zu erneuern. Als pla-kativ, aber wenig differenziert erweist sich Jüttemanns Formel von der „empirisch-historischen Methode für die Psychologie“. Denn er umschreibt diesen methodischen Ansatz nur, ohne ihn zu explizieren, indem er auf LeGoff et al.716 Bezug nimmt. Nach Jüttemann meinen die Autoren mit ihrer Formel von der „Rückeroberung des historischen Denkens“

„eine Denkweise, die mit einer empirischen Arbeitsweise eng verbunden ist, und heben nicht nur den methodologischen Gegensatz (insofern er bestand) zwischen ‘historisch’ und

714 Vgl. Perrez, M.: Ist die Psychoanalyse eine Wissenschaft? Bern, 2. Aufl. 1979 715 Vgl. Abschnitt 4.2 dieser Arbeit.

716 LeGoff, J., Chartier, R., Revel, J. (Hrsg.): Die Rückeroberung des historischen Denkens. Frankfurt a.

M. 1990 (Literaturangabe nach Jüttemann 1992).

risch’ praktisch auf, sondern ermöglichen sogar eine Verbindung dieser Begriffe, so daß keine Dissonanz entsteht, wenn in diesem Sinne von einer empirisch-historischen Forschung ge-sprochen wird.“717

Damit ist aber die Perspektive einer empirisch-historischen Forschung nur vage angedeutet und keine neue methodologische Grundposition entwickelt. Insbesondere auf die Frage, wie der tra-dierte methodologische Gegensatz aufzuheben sei, gibt Jüttemann - im Gegensatz zu den Auto-ren des Forschungsprogramms Subjektive Theorien718 - keine Antwort. Ähnlich verhält es sich mit der Skizzierung tendenziell gegenstandsadäquater Positionen im Kapitel „Zur Frage der Aus-baufähigkeit vorhandener Ansätze“.719 Da sich die Ausführungen in diesem Kapitel auf spezifisch psychologische Theorieansätze beziehen und sich daher vom Thema meiner Arbeit, dem Zusam-menhang von anthropologischen und metatheoretischen Aspekten mit pädagogischer Relevanz, entfernen, verzichte ich darauf, sie hier zu referieren.

Wichtige Ausgangspunkte einer anthropologisch verzerrungsfreien psychologischen Grundlagen-theorie und -forschung und damit auch einer humanwissenschaftlichen Menschenbildreflexion erkenne ich in Jüttemanns Ausführungen (a) zur Bedeutung des „‘Verknüpfungszusammenhangs’

von Psychologie und Sprache“ für psychologische Begriffsbildung und deren Weiterentwicklung, (b) zur Problematisierung der Termini „idiographisch“ und „nomothetisch“ und (c) zur Bedeutung phänomenologischer Verfahrensweisen.

(a) Jüttemann verdeutlicht an einer Reihe von Beispielen und aktuellen Theorie- bzw. For-schungsansätzen,

„daß der ‘Verknüpfungszusammenhang’ von Psychologie und Sprache komplexer zu sein scheint, als man sich aufgrund der Dominanz einer naturwissenschaftlich betriebenen For-schung bisher eingestehen wollte, und - demgemäß - als weithin ungeklärt gelten muß.“720

Die Tendenz, „daß die Bedeutung der sog. hypothetischen Konstrukte, die als eine Kategorie von prinzipiell nicht definierbaren Begriffen proklamiert wurden, stark nachgelassen hat“721, setze sich fort. Gegenstand etwa von Prädikationsanalysen müsse „die als kognitive Relevanz der Begriffe gekennzeichnete subjektive Orientierungsfunktion“ sein. Die Erklärungsgrundlage für „kognitive Relevanz“ sieht Jüttemann in der von Austin722 begründeten Sprechakttheorie: In deren Sinne

717 Jüttemann 1992, S. 185.

718 Vgl. Abschnitt 5.4 dieser Arbeit.

719 Vgl. Jüttemann 1992, S. 126-143.

720 Jüttemann 1992, S. 165.

721 Jüttemann 1992, S. 165. Als Beispiel für ein hypothetisches Konstrukt nennt Jüttemann die opera-tionale Definition von „Angst“ durch Hörmann, die „heute kaum noch von jemandem ernst genom-men“ werde. Vgl. Hörmann, H.: Aussagemöglichkeiten psychologischer Diagnostik. Z. exp. angew.

Psychol. 11, 1964, S. 353-390 (Literaturangabe nach Jüttemann 1992).

722 Jüttemann bezieht sich auf Austin, J. L.: How to Do Things with Words. Oxford 1962. Zur aktuellen Bedeutung der durch Searle (Searle, J. R.: Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay. Frankfurt a.

M. 1971) sprachphilosophisch weiterentwickelten Sprechakttehorie, die im deutschsprachigen Be-reich von Maas und Wunderlich (Maas, U. und Wunderlich, D.: Pragmatik und sprachliches Handeln.

ließe sich zwischen einer allgemeinen „Verständigungsfunktion“ von Sprache, „die (lediglich) le-xikalische Begriffe erfordert“, und „der unmittelbar im Erleben zutage tretenden subjektiven (oder kognitiv relevanten) Orientierungsfunktion“ unterscheiden. Entscheidend sei, „daß die kognitive Relevanz der Begriffe nicht - wie die lexikalische - mehr oder weniger starr festgelegt ist, sondern von Situation zu Situation und von Subjekt zu Subjekt erheblich schwanken kann.“

Diese „Erlebens- bzw. Verhaltenswirksamkeit von Begriffen“

„läßt den Gedanken begründet erscheinen, daß die Sprache Ansatzpunkte für eine grundla-genwissenschaftliche psychologische Forschung bieten könnte, die bisher noch nicht oder zumindest noch nicht in angemessenem Umfang erkannt worden sind.“723

Im Rahmen einer „sprachzentrierten grundlagenwissenschaftlichen psychologischen Forschungs-arbeit“724 sei u. a.

„gegen den Versuch nichts einzuwenden, Differenzierungsprozesse der allgemeinen Erfah-rungsbildung, die sich noch in einem umgangssprachlichen Entstehungsstadium befinden, mit wissenschaftlichen Mitteln zu entdecken und - gegebenenfalls - neue psychologische Bezeich-nungen ‘systematisch’ einzuführen.“725

Das hier zum Ausdruck kommende Interesse an umgangssprachlich-pragmatischen Aspekten (subjektiven Handelns) scheint u. a. Prätor zu teilen, wenn er zur Überwindung eines dualisti-schen Sprachverständnisses empfiehlt, „von Sprache als einer uns vorwissenschaftlich schon bekannten und in der Wissenschaft auch immer schon benötigten Handlungsform“ auszuge-hen.726

(b) Die von Windelband727 eingeführte Dichotomie einer entweder idiographischen oder nomothe-tischen Forschungsstrategie habe vor allem in der Psychologie zu immer wieder neuen Differen-zierungsversuchen geführt. Dies sei aus der „wissenschaftspolitischen Sprengkraft“ dieser Un-terscheidung zu erklären, die mit dem Terminus „idiographisch“ die Wissenschaftlichkeit ganzer Disziplinen in Frage stelle. Unter Rekurs auf Riedel lehnt Jüttemann die Annahme ab, „auf einzig-artige Erscheinungen würden sich wohl grundsätzlich niemals allgemeine Aussagen beziehen las-sen“728:

Mit einer Kritik am Funkkolleg „Sprache“. Frankfurt a. M., 3. Aufl. 1974) handlungstheoretisch pro-blematisiert wurde, vgl. Miller, M. und Weissenborn, J.: Sprachliche Sozialisation. In: Hurrelmann, K.

und Ulich, D. (Hrsg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. Weinheim/Basel, 4., völlig neu bearb. Aufl. 1991, S.531-549, insbesondere S. 545. Vgl. auch Groeben 1986, insbesondere S.

211f.

723 Jüttemann 1992, S. 145.

724 Vgl. Jüttemann 1992, S. 147.

725 Jüttemann 1992, S. 146.

726 Vgl. Prätor, K.: Wozu braucht die Pädagogik eine Anthropologie? Überlegungen zur methodologi-schen Stellung der pädagogimethodologi-schen Anthropologie. In: König, E. und Ramsenthaler, H. (Hrsg.): Diskus-sion Pädagogische Anthropologie. München 1980, S. 226-236, Zitat S. 234.

727 Windelband, W.: Geschichte und Naturwissenschaft. Straßburg, 3. Aufl. 1904.

728 Jüttemann 1992, S. 100.

„Die Gegenüberstellung von idiographischer oder individualisierender und nomothetischer oder generalisierender Wissenschaft enthält eine falsche Alternative. Das Grundproblem der Theorie des Verstehens ist die Möglichkeit einer allgemeingültigen ‘Erkenntnis der Einzelpersonen, ja der großen Formen singulären menschlichen Daseins überhaupt’. Aber daraus folgt nicht, daß alle geisteswissenschaftlichen Aussagen singulär sein müssen, wie umgekehrt auch nicht alle naturwissenschaftlichen Aussagen generell sind. Die Geschichte auf bloße Beschreibung indi-vidueller Phänomene zurückführen hieße, ihr überhaupt den wissenschaftlichen Status abspre-chen und jenem Dogmatismus der vormodernen (klassisch-griechisabspre-chen und mittelalterlich-scholastischen) Philosophie verfallen, wonach es vom einzelnen keine Wissenschaft geben könne.“729

Riedel wende sich mit dieser Äußerung gegen eine Relativierung des Wissenschaftlichkeitsan-spruchs historiographischer Forschung; aber, so Jüttemann:

„Allerdings läuft die Proklamation einer - im Grunde als ‘Widerspruch in sich’ denunzierten - idiographischen Wissenschaft in letzter Konsequenz auch für die Psychologie auf einen Zwei-fel an ihrem wissenschaftlichen Status hinaus, da die Ansicht intendiert ist, daß der Mensch als Subjekt vor allem Einzigartigkeit verkörpert, diese aber wissenschaftlich gar nicht adäquat faßbar erscheint.“

Bezeichne man als nomothetisch „nicht nur Erkenntnisse auf naturgesetzlicher, universeller Erklä-rungsbasis, sondern alle ... verallgemeinerbaren Aussagen“, so werde der Begriff des Nomotheti-schen synonym zu „Wissenschaft“. Jüttemann empfiehlt daher, „auf die Windelbandsche Termi-nologie gänzlich zu verzichten“.730 Der „Blick auf das Wesentliche“ bestehe darin,

„daß in der Psychologie grundsätzlich vom gleichzeitigen Vorliegen eines thematisch-inhaltlichen und eines personalen Gegenstands ausgegangen werden muß (...), da psychische Phänomene singulär, differentiell oder universell hervortreten können.“

Deshalb erfordere jeder zu untersuchende Sachverhalt „gleichsam eine zweigliedrige Definition“

und zwar

„zum einen auf der intraindividuellen Dimension, die angibt, mit welcher Relevanzbreite der betreffende Sachverhalt in Erscheinung tritt oder eine zugrunde liegende Ursache wirksam wird, zum anderen auf der interindividuellen Dimension, auf der die Bezugspopulation festge-stellt wird (...).“731

In Anlehnung an Guilford732 und Graumann733 stellt Jüttemann diesen Zusammenhang in Form eines Ordnungsschemas dar:

729 Riedel, M.: Einleitung zu W. Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissen-schaften. Frankfurt a. M. 1981, S. 9-82, Zitat S. 70 (Hervorhebung im Orig.). (Literaturangabe nach Jüttemann 1992)

730 Jüttemann 1992, S. 101.

731 Jüttemann 1992, S. 102.

732 Guilford, J. P.: Personality. New York 1959 (dt.: Persönlichkeit. Weinheim, 6. Aufl. 1974). (Litera-turangabe nach Jüttemann 1992)

733 Graumann, C. F.: Eigenschaften als Problem der Persönlichkeits-Forschung. In: Lersch, Ph. und Tho-mae, H. (Hrsg.): Persönlichkeitsforschung und Persönlichkeitstheorie. Bd. 4. Handbuch der Psycholo-gie. Göttingen 1960, S. 87-154. (Literaturangabe nach Jüttemann 1992)

Abbildung 18

Ordnungsschema für subjektrelevante Sachverhalte nach Jüttemann734

Die diesem Ordnungsschema zugrunde liegende Argumentation widerlege die Windelbandsche Begriffsbildung vor allem durch den Nachweis, „daß auch die Differenzierungsaspekte psychisch relevanter Sachverhalte systematisch erfaßt werden können.“735 Diese auch außerhalb des fakto-renanalytischen Ansatzes bedeutsame Systematik beziehe die intraindividuelle Dimension auf die Pole der Spezifität „im Sinne von Situationsspezifität“ und der Generalität („Beispiel: Eigenschaf-ten“). Die interindividuelle Dimension erstrecke sich zwischen den Polen Singularität („=eine ein-zelne Person“) bzw. Universalität („=Gesamtpopulation aller Menschen“).736 Eine „radikale Tren-nung zwischen Sachverhalten und Personen“, die eine der beiden Dimensionen absolut setze, sei

„nur in abstrakter und künstlicher Weise möglich“ und führe in eine „‘anthropologische Falle’“.737

Jüttemann warnt davor, das von ihm modifizierte Ordnungsschema, das lediglich Sachverhalte unterscheide, als „Quasi-Gegenstandsmodell des Menschen“ zu betrachten. Ihm fehle die zeitli-che und damit vor allem die biographiszeitli-che Dimension, ferner ließe es in der interindividuellen Di-mension „soziale Verbindungen (Familie, Gruppe, Schicht, Gesellschaft)“ außer Betracht und schließlich unterscheide es nicht zwischen der „Oberfläche des Verhaltens (Beschreibungsrele-vanz)“ und einer „prinzipiell unterhalb der Verhaltensebene anzusetzenden ‘zentralen’ Verursa-chung (Erklärungsrelevanz)“.738 „Bei korrekter Darstellung“ müßten daher beide Dimensionen weiter differenziert bzw. „umdefiniert“ werden - die intraindividuelle Dimension müsse horizontal die erklärungsrelevante „Breite des Verhaltensausschnitts“ berücksichtigen und vertikal auf die erklärungsrelevante Dimension „einer stufenweise zunehmenden ‘Zentralität’ der aufdeckbaren Entstehungsbedingungen“ bezogen werden, um beide intraindividuellen Ebenen einander

734 Darstellung nach Jüttemann 1992, S. 103.

735 Jüttemann 1992, S. 102.

736 Jüttemann 1992, S. 103.

737 Jüttemann 1992, S. 104.

738 Jüttemann 1992, S. 104f.

überstellen zu können; die interindividuelle Dimension, „die eigentlich nur eine ‘überindividuelle’

Dimension darstellt“, sei „im Sinne der Einbeziehung sozialer Bezugsgrößen“ neu zu definieren und um den Zeitaspekt zu ergänzen.739

Es ist anzunehmen, daß Jüttemann sein Ordnungsschema auch in dieser korrigierten Form nicht als ein Gegenstandsmodell des Menschen verstanden wissen möchte. Dennoch ist der heuristi-sche Wert dieses Denkmodells kaum hoch genug einzuschätzen, heuristi-scheint es doch tatsächlich die Idiographik-Nomothetik-Dichotomie Windelbands als eine der entscheidenden erkenntnisblockie-renden Dichotomien entlarven und überwinden zu können; denn es eröffnet eine Forschungsstra-tegie, die zumindest tendenziell bisher als unvereinbar geltende Perspektiven plausibel aufeinan-der bezieht und dadurch die alten - plakativ formuliert - Monokelperspektiven in aufeinan-der Brillenperspektive des handelnden menschlichen Subjekts zusammenfaßt. Im Gegensatz zum Forschungsprogramm Subjektive Theorien740 läßt Jüttemann allerdings offen, wie diese For-schungsstrategie method(olog)isch umzusetzen ist.

(c) Weil „die Phänomenologie viele Gesichter hat“, sei die Frage differenziert zu beantworten,

„inwieweit der als gegenstandsangemessen angesehene psychologische Perspektivismus ... nicht einfach als eine phänomenologische Position identifiziert werden kann“. Wenn auch „eine gewis-se Ähnlichkeit besteht“, so gewis-sei doch „eine gewisgewis-se Divergenz der Intentionen“ wahrzunehmen:

„Dieser Widerspruch besteht darin, daß gerade Husserl es war, der auf der einen Seite ‘zu den Sachen’ durchdringen und insofern ... ein Analytiker sein wollte, auf der anderen Seite aber aufgrund seiner einseitigen Konzentration auf die Methode der Wesensschau zum Anwender einer indirekten Modellierungsstrategie und damit zu einem Konstruktivisten geworden ist.“741

Zwar könne der analytisch-induktive Perspektivismus „einige brauchbare Elemente der Phänome-nologie in sich aufnehmen“, im „Kampf gegen die Verhexung unsres Denkens durch die Mittel unserer anthropologischen Selbstdeutungsvorliebe“ sei jedoch gerade „im Hinblick auf die Phä-nomenologie Vorsicht geboten“:

„Schließlich haben manche Phänomenologen eine besondere Neigung zur Anthropologie be-kundet (...) und sind infolgedessen vor allem dort in die anthropologische Falle getappt, wo sie die Notwendigkeit einer historischen Betrachtungsweise außer acht gelassen haben. Somit hat sich die Phänomenologie ..., naheliegenderweise immer dort als fruchtbringend erwiesen, wo

739 Jüttemann 1992, S. 105.

740 Vgl. Groeben 1986, insbesondere S. 395f. Vgl. auch Abschnitt 5.4 dieser Arbeit.

741 Jüttemann 1992, S. 25. Im Gegensatz zur „direkten Modellierungsstrategie“, die darin bestehe, „ein allgemeines Menschenbild zu entwerfen und dieses in eine ‘Persönlichkeitstheorie’ umzuformen bzw.

als Gegenstandsmodell der Persönlichkeit zu beschreiben“, erfolge in der „indirekten Modellierungs-strategie“ die „Konzentration auf eine bestimmte wissenschaftliche Arbeitsmethode“ unter „Verzicht auf vorausgehende Gegenstandsbetrachtungen“. Dieses „Ideal der Voraussetzungslosigkeit“ ließe sich aber „gar nicht verwirklichen“, „weil jede gegenstandsunabhängig getroffene Entscheidung für eine allgemeine Methodenanwendung zwar nur implizit, aber dennoch unvermeidbarerweise mit der Festlegung eines bestimmten Menschenbilds verbunden ist“. Vgl. Jüttemann 1992, S. 55.

der Gesichtspunkt der Historizität des Psychischen nicht unberücksichtigt geblieben ist (...).“742

Diese Kritik an phänomenologisch konstruierten Menschenbildern läßt sich zweifellos auch auf den Mischansatz Meinbergs beziehen, der die Voraussetzungen und Grenzen einer phänomenolo-gischen Vorgehensweise weitestgehend unproblematisiert läßt und mit dem Entwurf des „homo totus“ bzw. „homo mundanus“ ein Menschenbild (bzw. Menschenbilder) mit eindeutig dogmati-scher Tendenz setzt.743

In der Entwicklung der Psychologie seit 1977 erkennt Jüttemann „vier thematisch voneinander unabhängige Arbeiten“, die die phänomenologische Orientierung verstärkt beachten. Die Metho-denposition der Arbeit von Graumann und Métraux744 sei

„durch die Berücksichtigung der Tatsache gekennzeichnet, daß das Handeln des Menschen vor allem aus dem Erleben heraus bestimmt wird und deshalb die Betrachtung des Subjekts im Rahmen jeder psychologischen Erkenntnisgewinnung eine besondere Beachtung verdient.“745

Als eine zweite Arbeit, die ebenso „den Trend einer zunehmenden Orientierung am Subjekt“ si-gnalisiere, nennt er das von Groeben und Scheele746 verfaßte Buch „Argumente für eine Psycho-logie des reflexiven Subjekts“:

„Darin wird ebenfalls die Einseitigkeit des experimentellen Ansatzes psychologischer For-schung kritisiert und eine stärkere Berücksichtigung des Subjekts gefordert. Groeben und Scheele entwickeln einen eigenen Ansatz, der später als ‘verstehend-erklärende Psychologie’

(...) bezeichnet wird und bei dem u. a. auf das phänomenologisch begründete Modell der per-sonalen Konstrukte von Kelly (1955) und auf das Konzept der subjektiven Theorien (vgl. Dann 1983) zurückgegriffen wird.“747

Zum method(olog)ischen Ansatz des Forschungsprogramms Subjektive Theorien ist anzumerken, daß Jüttemann an anderer Stelle die „spezielle“ „verstehend-erkärende Methode“ ebensowenig wie „fundamentale“ „phänomenologische Methoden“ von seiner generellen Methodenkritik aus-nimmt. Jede Methodenentscheidung, deren „paradigmatische Relevanz“ zu einem „Methodendik-tat“ führe, könne „als eine mißlungene Umgehung unverzichtbarer Gegenstandsbetrachtungen identifiziert werden“.748 An wieder anderer Stelle hebt Jüttemann hervor, daß die „Gefahr für die wissenschaftliche Anerkennbarkeit von Untersuchungsergebnissen“ nicht nur im Falle von

742 Jüttemann 1992, S. 26.

743 Vgl. Meinberg, E.: Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft. Darmstadt 1988, ins-besondere Abschnitt 3.3, Das Bild des Homo Mundanus und die Idee des „ganzen Menschen“, S.

256-306. Vgl. auch Abschnitt 3.3 dieser Arbeit.

744 Graumann, C. F. und Métraux, A.: Die phänomenologische Orientierung in der Psychologie. In:

Schneewind, K. A. (Hrsg.): Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Psychologie. München 1977.

(Literaturangabe nach Jüttemann 1992) 745 Jüttemann 1992, S. 48f.

746 Groeben, N. und Scheele, B.: Argumente für eine Psychologie des reflexiven Subjekts. Paradigmen-wechsel vom behavioralen zum epistemologischen Menschenbild. Darmstadt 1977. (Literaturangabe nach Jüttemann 1992)

747 Jüttemann 1992, S. 49.

rationalisierungsstrategien des experimentellen oder des faktorenanalytischen Ansatzes“ zum Tragen komme:

„Auch die generelle Entscheidung für ein geisteswissenschaftliches, z. B. hermeneutisches oder phänomenologisches Vorgehen ... birgt hier mindestens ähnliche Gefahren in sich wie im Bereich der naturwissenschaftlich orientierten psychologischen Forschungsarbeit.“749

Das Ziel, „daß die gleichsam hinter den Begriffen stehenden (vorfindbaren) Sachverhalte in einer allgemein zustimmungsfähig erscheinenden Weise identifiziert werden“, läßt sich nach Jütte-mann grundsätzlich durch vier Strategien erreichen. Eine davon sei die Anwendung phänomeno-logischer Methoden:

„Im Rahmen einer phänomenologischen Methodenanwendung können Sachverhalte als vor-sprachliche Phänomene direkt zu erfassen versucht werden, ohne eine Operationalisierungs-strategie anzuwenden. Beispiele für diese Vorgehensweise sind nicht nur die phänomenologi-sche Strukturanalyse (Linschotten 1953; Van den Berg 1955; Graumann 1960a, 1988a), sondern auch die Beschreibung (konkret vorfindlicher) symptomatischer Sachverhalte wie et-wa psychosomatischer Störungsphänomene, deren Ätiologie untersucht werden soll.“750

Eine weitere Vorgehensweise, „die ebenfalls der Phänomenologie nahesteht und bei der Erhe-bung und Auswertung spontaner Äußerungen Vorteile bietet“, sei im Ansatz von Kelly und in der Psychologischen Biographik Thomaes751 gegeben.

Als Quintessenz der Ausführungen Jüttemanns zur Anwendung phänomenologischer Methoden kann gelten, daß sie prinzipiell dann zur gegenstandsangemessenen - und das heißt zuallererst:

dem Menschen als nicht restlos objektivierbarem Subjekt angemessenen - Neufundierung psychologischer Grundlagentheorie beitragen können, wenn sie sich konstruktions- und modellie-rungsfrei auf „die als kognitive Relevanz der Begriffe gekennzeichnete subjektive Orientierungs-funktion“752 beziehen, in deren Kontext als „konkret vorfindbare Orientierungsmuster ... neben der Weltanschauung und dem Selbstbild (vielleicht) auch ein allgemeines, aber jeweils individuell zustande gekommenes Menschenbild“753 eine wichtige erlebens- und handlungsleitende Funktion einnimmt. Phänomenologische können aber wie alle geisteswissenschaftlichen Methoden dann

„den Erkenntnisfortschritt ... ebenso behindern (oder sogar verhindern) wie die konventionelle,

748 Vgl. Jüttemann 1992, S. 72.

749 Vgl. Jüttemann 1992, S. 83f. Vgl. auch Jüttemann 1992, S. 189.

750 Jüttemann 1992, S. 108f. Jüttemann bezieht sich auf Linschotten, J.: Nawoord. In: Van den Berg.

J. und Linschotten, J.: Persoon en wereld. Bijdragen tot de phaenomenologische Psychologie.

Utrecht 1953; Van den Berg, J. H.: The phenomenological approach to psychiatry. Springfield, Ill.

1955; Graumann, C. F.: Grundlagen einer Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität. Berlin 1960; Ders.: Phänomenologische Psychologie. In: Asanger, R. und Wenninger, G. (Hrsg.): Handwör-terbuch Psychologie. München, 4. Aufl. 1988, S. 538-543. (Literaturangaben nach Jüttemann 1992.) Vgl. auch Jüttemann 1992, S. 129f.

751 Jüttemann bezieht sich auf Thomae, H.: Das Individuum und seine Welt. Eine Persönlichkeitstheorie.

Göttingen 1968, 2., völlig neu bearb. Aufl. 1988. Vgl. auch die Ausführungen Jüttemanns zur Psy-chologischen Biographik auf S. 127ff. in Jüttemann 1992.

752 Vgl. Jüttemann 1992, S. 166.

753 Vgl. Jüttemann 1992, S. 12.

d. h. gegenstandsunabhängige Präferierung der experimentellen Methode“754, wenn sie im Sinne eines einseitigen „Methodendiktats“ die „unverzichtbare Gegenstandsbetrachtung“ unterlaufen755 und/oder den Gesichtspunkt der „Historizität des Psychischen“756 unberücksichtigt lassen.

4.3.2 Zur Kritik an der „Anthroposynthese“ in der naturwissenschaftlich-experimentellen und

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 174-182)