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Soziobiologische Menschenbild-Implikationen im Ansatz Wilsons und ihre kritische Darstellung durch Wuketits

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 105-110)

3 Aktuelle Menschenbild-Implikationen im biologischen Kontext der Erziehungswissenschaft .0 Vorbemerkung

3.3 Soziobiologische Menschenbild-Implikationen im Ansatz Wilsons und ihre kritische Darstellung durch Wuketits

Setzt man Soziobiologie mit dem Ansatz gleich, den der US-amerikanische Insektenforscher Ed-ward O. Wilson in seinem 1975 erschienenen Buch „Sociobiology. The New Synthesis.“401 dar-gelegt hat, so verkennt man nach Wuketits402 die „große heuristische Bedeutung“ dieser „spezi-fischen Forschungsstrategie“, die mit ihren methodischen Innovationen403 als „ein unkonventioneller Zugang zum Verständnis tierischen und menschlichen (Sozial-)Verhaltens“

wichtige Perspektiven eröffne404:

„Die Soziobiologie befindet sich derzeit sozusagen noch im Fluß, und es wäre verfrüht, sie hier so zu beurteilen wie andere Richtungen der Verhaltensforschung, die Zweckpsychologie oder den Behaviorismus beispielsweise, die interessante Kapitel der Geschichte dieser Disziplin dar-stellen, teilweise bestätigt, teilweise aber überwunden sind. Gewiß aber kann man heute schon sagen, daß die Soziobiologie zu einem tieferen Verständnis tierischen und menschlichen (Sozial)Verhaltens beigetragen haben wird.“405

Eine ähnlich vorsichtige und zugleich tendenziell optimistische Einschätzung künftiger Möglichkei-ten des soziobiologischen „Denkmodells“ lag Wuketits’ fünf Jahre zuvor erschienenem Buch

„Gene, Kultur und Moral. Soziobiologie - Pro und Contra“ zugrunde.406 Auch hier wird dieses bio-logische Denkmodell neben der Humanethologie und Verhaltensgenetik/Verhaltensökologie als interdisziplinärer Ansatz und mögliche Synthese eingestuft:

401 Wilson, E. O.: Sociobiology. The New Synthesis. London 1975.

402 Wuketits, F. M.: Die Entdeckung des Verhaltens. Eine Geschichte der Verhaltensforschung. Darm-stadt 1995.

403 Wuketits nennt spieltheoretische und formale Modelle sowie Kosten-Nutzen-Rechnungen. Vgl. Wuke-tits 1995, S. 152.

404 Vgl. Wuketits 1995, S. 144-153.

405 Wuketits 1995, S. 153.

406 Wuketits, F. M.: Gene, Kultur und Moral. Soziobiologie - Pro und Contra. Darmstadt 1990.

„Inwieweit handelt es sich bei der Soziobiologie um eine Synthese? (Eine Synthese wovon?) Zunächst liegt es klar auf der Hand, daß die Soziobiologen ... verschiedene Ergebnisse aus un-terschiedlichen Gebieten, sofern diese Relevantes zum (Sozial-)Verhalten und seinem Ver-ständnis beitragen, aufnehmen und zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen wollen. Inso-fern handelt es sich um eine Synthese innerhalb der Biologie.“

Und Wuketits fährt fort:

„Was nun die sozialen Verhaltensweisen des Menschen betrifft - und das ist ja genau der springende Punkt -, wird von den Soziobiologen der Versuch gemacht, sozusagen eine einheit-liche Plattform zu schaffen, von wo aus die biologischen Vorbedingungen des Sozialverhaltens des Menschen erhellt werden sollen. So gesehen liefert die Soziobiologie Bausteine zu einer

‘Anthropologie von unten’. Das muß, so sei sogleich betont, nicht notwendigerweise zu einer Leugnung der Eigendynamik der kulturellen Entwicklung des Menschen führen; und damit auch nicht zu einem biologischen Determinismus. Der soziobiologische Ansatz könnte, wird er nicht überstrapaziert, sogar eher dazu führen, daß wir unser gespaltenes Menschenbild wieder ein wenig zusammenzuflicken in die Lage kommen.“407

Die in diesen Ausführungen in Aussicht gestellte anthropologische Synthese auf biologischer Grundlage könnte sich idealiter auf die Ergebnisse einer Reihe von Grundlagendisziplinen stützen und hätte für zahlreiche Zieldisziplinen wichtige Konsequenzen. Die betroffenen Disziplinen faßt Wuketits tabellarisch zusammen:

Abbildung 13

Grundlagen- und Zieldisziplinen der Soziobiologie nach Wuketits408

Diese Perspektiven auf eine „Anthropologie von unten“ sind in Wilsons Ansatz mit umfassenden Erklärungs- und Bedeutungsansprüchen verknüpft:

407 Wuketits 1990, S. 24.

408 Vgl. Wuketits 1990, S. 24.

Für die Soziobiologie wichtige Disziplinen und Disziplinen, die von der Soziobiologie beeinflußt werden:

Grundlagen: Evolutionsbiologie Genetik

Populationsbiologie

Vergleichende Verhaltensforschung

Physiologie Ökologie Konsequenzen: Soziologie

Kulturanthropologie Ethnologie

Psychologie

Ethik, Moralphilosophie

„Thesenartig kann man mit Wilson (1978b) festhalten:

1. Soziobiologie ist das systematische Studium biologischer Grundlagen aller Formen sozialen Verhaltens bei allen Arten von Organismen, einschließlich des Menschen.

2. Wir werden sicher noch in die Lage kommen, spezifische Gene zu lokalisieren und zu be-schreiben, die die komplexeren Formen sozialen Verhaltens verändern.

3. Es gibt a priori keinen Grund, irgendeinen Aspekt menschlichen Sozialverhaltens aus der Soziobiologie auszuschließen.

4. Soziobiologie kann als Brückenschlag zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften gesehen werden.“409

Die in diesen allgemeinen Formulierungen womöglich noch interdisziplinär konsensfähigen An-sprüche sind aber im Zusammenhang eines sozialwissenschaftlich-universalistischen Anspruchs angesiedelt: „WILSON (1975) ‘versprach’, daß die Sozialwissenschaften früher oder später sich völlig auf die (Sozio-)Biologie gründen, ja als eine Teildisziplin derselben zu verstehen sein wer-den.“410 Hinter diesem Anspruch läßt sich eine monistische Position vermuten, die (a) die Sozial-wissenschaften auf die Rolle interpretierender und anwendender Hilfsdisziplinen der Biologie re-duziert und (b) nichts anderes als ein bio-deterministisches Menschenbild beinhaltet.

Dieses Menschenbild bzw. der ihm zugrunde liegende Organismus-Begriff tritt nach Wuketits am deutlichsten im Vergleich mit dem ethologischem Verständnis des Verhaltens von Organismen und der Rolle der Gene hervor:

„Für die Ethologen steht ... die Art im Vordergrund, und sie sehen ihre Aufgabe darin, die art-erhaltende Bedeutung von Verhaltensmerkmalen zu studieren. Die Soziobiologen jedoch mei-nen, auf die Art komme es überhaupt nicht an, sondern nur auf den Fortpflanzungserfolg des Individuums und dessen Chancen, die eigenen Gene weiterzugeben. ... Soziobiologen ‘reduzie-ren’ das Verhalten der Organismen auf deren Gene bzw. von den Genen kommende Antrie-be“.411

Unter Abkehr vom klassischen Selektionsbegriff, der sich nicht auf das Gen, sondern auf das In-dividuum als Ganzes bezieht, komme die Soziobiologie zu ihrer spezifischen Konzeption des Or-ganismus:

„Organismen sind in soziobiologischer Sicht eigentlich Überlebensmaschinen, darauf pro-grammiert, die eigene Fitneß zu erhöhen; sie sind, anthropomorph ausgedrückt, beinharte Rechner, die genau kalkulieren, was sich zu investieren lohnt und welche Kosten ein zu erwar-tender Nutzen verursachen wird; die durchaus kooperieren, wenn sich daraus Eigenvorteile er-geben, die aber auch die eigenen Verwandten ‘betrügen’ oder gar eliminieren, wenn diese ih-rem jeweiligen Eigeninteresse im Wege stehen ...“412

409 Wuketits 1995, S. 150. Vgl. auch Wilson, E. O.: What is Sociobiology? In: Gregory, M. S., Silvers, A. und Sutch, D. (Hrsg.): Sociobiology and Human Nature. An Interdisciplinary Critique and Defense.

San Francisco 1978, S. 10-14. (Literaturangabe nach Wuketits.)

410 Wuketits 1995, S. 151. Hervorhebung durch Großbuchstaben im Original.

411 Wuketits 1995, S. 146f.

412 Wuketits 1995, S. 147.

Daß diese Menschenbildskizze Kritik ebenso von marxistisch-leninistischen Autoren413 wie von linksliberalen Harvard-Dozenten414 und eher konservativ denkenden Vertretern der Pädagogischen Anthropologie auf sich zog, ist nicht weiter verwunderlich angesichts ihrer brisanten ideologi-schen Implikationen, die freilich in der fiktionalen Realität US-amerikanischer und deutscher End-los-TV-Serien längst zum festen stofflichen und motivationalen Repertoire gehören.

In der Pädagogischen Anthropologie ist es vor allem Hamann, der in Anlehnung an Dickopp415 die Konsequenzen psycho- und soziobiologischer Menschenbildannahmen unter dem Oberbegriff der Evolutionstheorie zusammenfaßt und kritisch beleuchtet. Auch er sieht als Spezifikum der Sozio-biologie den Aspekt eines Verlangens, „für sich selbst als Individuum (in Auseinandersetzung mit Artgenossen) die bessere und mächtigere Position zu erreichen“416, der hier den Aspekt der Art-erhaltung verdrängt hat. Diese optimale Selbstreproduktion aus dem Motiv des genetischen Ei-geninteresses417 sei in diesen Ansätzen Mensch und Tier gemeinsam. Ohne daß „Wesensunter-schiede“ zwischen Mensch und Tier und zwischen Artgenossen unterstellt werden müßten, sei (beim Menschen) individuelles Verhalten denkbar, da die Genstruktur das Verhalten nicht univer-sell „vorprogrammiere“418, sondern auch „auf Erfahrung und Tradition basierende kulturelle Mu-ster“ in die „Entscheidungs“-Findung eingingen.

Mit dem Begriff der „Entscheidung“, der in biologischen Ansätzen zur Erklärung menschlichen Tuns419 nicht sinnvoll unterzubringen ist, leitet Hamann zu seiner Kritik sozio- und allgemein evo-lutionsbiologischer Ansätze aus pädagogischer Sicht über. Sein Fazit nimmt er vorweg:

„Biologische Gesetzmäßigkeiten allein - so die Meinung - reichen für die Erklärung des sozialen Verhaltens der Menschen und die Struktur ihrer Sozietäten nicht aus. Hierbei spielen auch an-dere Gesetzmäßigkeiten, in denen sich vernünftige soziale Bestrebungen der Menschen kund-tun, eine Rolle.“420

Diese Kritik421 stützt sich im wesentlichen auf drei Argumente:

(1) Handeln und Verhalten des Menschen seien durch „Denken“ mitbestimmt, „welches von der Vernunft aufgebracht wird“. Meines Erachtens erübrigt sich der problematische

413 Wuketits nennt Herter, D.: Soziobiologie im Lichte marxistisch-leninistischer Soziologie. In: Wiss. Z.

d. Univ. Halle, (33) 1984, S. 125-127. (Literaturangabe nach Wuketits 1990, S. 25.)

414 Wuketits nennt die „Sociobiology Study Group“ und verweist auf Wade, N.: Sociobiology: Troubled Birth for New Discipline. In: Science (191) 1976, S. 1151-1155 (Literaturangabe nach Wuketits).

Vgl. Wuketits 1995, S. 146.

415 Dickopp, K.-H.: Anthropologie der Erziehung - Aufbaukurs. Fernuniversität Hagen 1990.

416 Hamann, B.: Pädagogische Anthropologie. Theorien - Modelle - Strukturen. Eine Einführung. Bad Heilbrunn, 2. überarb. und erw. Aufl. 1993, S. 149.

417 Hamann verweist auf Wickler, W. und Seibt, U.: Das Prinzip Eigennutz. Hamburg 1977.

418 Eine sprachkritische Anmerkung: Der in der Bezeichnung „vorprogrammiert“ enthaltene Pleonasmus scheint niemanden mehr zu irritieren.

419 Ich verwende „Tun“ in diesem Zusammenhang als Oberbegriff für Handeln und Verhandeln.

420 Hamann 1993, S. 150.

421 Vgl. Hamann 1993, S. 151.

Begriff in diesem Kontext.422 Aus der Tatsache, daß Menschen über Reflexivität verfügen, läßt sich ein weniger strapazierter Aspekt zur Unterscheidung menschlichen und tierischen Verhaltens nennen: Im Gegensatz zu Tieren bringen Menschen in ihr soziales Tun bzw. in die Auswahl zwi-schen alternativen Verhaltens-/Handlungsweisen Selbst- und Fremdbilder ein, die allerdings nicht allein als Ergebnis „vernünftiger“ Reflexion zu fassen sind.

(2) In Anlehnung an Patzig423 stellt Hamann fest, daß im menschlichen Tun „eigennützige bzw.

egoistische Tendenzen hinter allgemein vernünftigen bzw. rationalen Interessen weit zurücktre-ten können“. Ob man dieses Phänomen menschlichen Tuns nun als Altruismus oder als Vorrang einer langfristigen (strategischen) Selbstverwirklichung vor unmittelbarer (taktischer) „Interes-senverwirklichung“ erklärt, ist dabei meines Erachtens nicht entscheidend. Entscheidend ist, daß ein wissenschaftlich formuliertes biologisches Menschenbild, das Egoismus in dieser oder jener Form als zentrales bzw. alleiniges Motiv menschlichen Tuns ausweist, (a) die menschliche Moti-vationsstruktur ohne Not reduziert und (b) in der Gefahr steht, normative Züge anzunehmen, da nicht-egoistisches Verhalten tendenziell als Ausdruck einer defizitären Genstruktur zu interpretie-ren ist.

(3) Die meines Erachtens entscheidende Kritik Hamannns besteht in der Feststellung, daß Tiere im Gegensatz zu Menschen nicht nur nicht „vernünftig“, sondern „überhaupt nicht“ handeln. Die Betonung sollte dabei - anders als bei Hamann - nicht auf „vernünftig“, sondern auf „Handeln“

liegen. Der Soziobiologie - wie offensichtlich allen anderen biologischen Erklärungsansätzen menschlichen sozialen Tuns überhaupt - ist es offensichtlich nicht gelungen, einen interdisziplinär vertretbaren Handlungsbegriff hervorzubringen; statt dessen wird eine weitestgehende Analogie zwischen Mensch und Tier als Organismen unterstellt, eine Analogie (oder Homologie?), die menschliches Tun homogenisierend unter die dieser Analogie inhärente Perspektive des „Verhal-tens“ zwingt.424

Eine Synthese von einerseits biologischen und andererseits psychologischen und soziologischen Aspekten humanen Sozialverhaltens und sozialen Handelns von Menschen ist der Soziobiologie

422 „Es ist die Vernunft selbst, die die Selbstzerstörung der Gesellschaft vorangetrieben hat.“ Vgl. Eder, K.: Die Vergesellschaftung der menschlichen Natur. Ab wann gibt es menschliche Gesellschaften? In:

Kamper, D. und Wulf, Chr. (Hrsg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkit. Frankfurt a. M. 1994, S. 101-118, Zitat S. 106. Diese These läßt sich nicht nur von einer postmodernistischen Position aus vertreten. Zudem: Menschliches Handeln ist weder zwangsläufig noch ausschließlich vernunftgeleitet.

423 Hamann verweist auf Patzig, G.: Ökologische Ethik. In: Markl, H. (Hrsg.): Natur und Geschichte.

München 1983, S. 335f.

424 Andererseits ist festzuhalten, daß auch die Pädagogische Anthropologie die Notwendigkeit einer Ab-grenzung von „Handeln“ und „Verhalten“ nicht ausreichend reflektiert hat und/oder eher bestrebt ist,

„Verstehen“ und „Handeln“ als alternative Konzepte zu stilisieren und gegeneinander auszuspielen.

So nennt Bock als „entscheidenden Einwand“ gegen eine handlungstheoretisch fundierte Anthropo-logie, „daß damit das Tun des Menschen (also auch „Mord und Krieg, Lüge und Betrug“ - Ergänzung J. K.) zugleich zur Norm erhoben werde“. Vgl. Bock, I.: Pädagogische Anthropologie der Lebensalter.

München 1984, S. 9.

im Ansatz Wilsons offensichtlich (noch) nicht gelungen. Statt dessen treten die Züge eines Hob-besschen Menschenbildes à la „homo homini lupus“ und eines Gesellschaftsentwurfs unverkenn-bar hervor, der betriebswirtschaftliches Kalkül als Nutzenmaximierung anthropologisiert und ahi-storisch auf die soziale Ebene projiziert. Fortschritte der Soziobiologie sind nur dann denkbar, wenn dieser Menschenbildentwurf aufgegeben und die unbestreitbare Tatsache, daß es eine

„genetische Basis“ auch des menschlichen Sozialverhaltens gibt, die nicht „mit genetischer De-termination zu verwechseln“ ist425, auf eine sozialwissenschaftlich - das heißt psychologisch und soziologisch - konzipierte Handlungstheorie bezogen wird. Zu problematisieren wären neben den

„Kultur“-Begriffen auch die „Gesellschafts“-Konzeptionen und die in letzter Konsequenz unverän-dert monistisch-organismischen Entwürfe des Menschen, die derzeit in unterschiedlichen biologi-schen Teildisziplinen und Ansätzen kursieren.

3.4 Sozialisation und Ontogenese: Zum Stellenwert organismischer Menschenbildannahmen im

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