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Die These von der primären Formung des Menschen durch Sozialisation Zur psychologischen Akzeptanz dieser These führt Thomae aus:

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 157-160)

„Trotz neuerdings wieder stärker in den Vordergrund tretender erbbiologischer Gedankengänge kann man als Überzeugung einer Mehrheit von Psychologen die entscheidende Bedeutung von Sozialisationsvorgängen bei der Bildung der menschlichen Persönlichkeit festhalten ...“632

Die Annahme einer hochgradigen erblichen Festlegung von Persönlichkeitseigenschaften gewinne zwar wieder an Aktualität, sie könne aber nicht als durch Forschung bestätigt gelten.633 Vielmehr sei festzustellen:

628 Thomae 1991, S. 113.

629 Thomae 1991, S. 114.

630 Thomae verweist auf Lenneberg, E. H.: Sprache in biologischer Sicht. In: Wenzel, U. und Hartig, E.

(Hrsg.): Sprache - Persönlichkeit - Sozialstruktur. Hamburg 1977. (Literaturangabe nach Thomae 1991.)

631 Thomae 1991, S. 114.

632 Thomae 1991, S. 109.

„Die Ergebnisse der psychologischen Vererbungsforschung lassen lediglich den Schluß zu, ei-nige sehr formale und weit zu fassende Verhaltenstendenzen wie etwa Höhe der allgemeinen Intelligenz, der Aktivität, Aspekte der Grundstimmung und Tendenz zur Extraversion seien in einem gewissen Umfang hereditär verankert (...).“634

Man müsse daher kein Anhänger einer radikalen Tabularasa-Theorie sein, wenn man seine Auf-merksamkeit auf den „Vorgang der Bildung der Persönlichkeitsstruktur im lebenslangen Interakti-onsprozeß zwischen Individuum und Umwelt“ richte. Und weiter:

„Da diese Umwelt für den Menschen aber weitgehend mit einer sozialen Umwelt identisch ist, hat man den Vorgang der kontinuierlichen Prägung des Persönlichkeitsgefüges durch die Gruppen und die Gesellschaft als Sozialisation umschrieben (PARSONS, WURZBACHER, SCHARMANN u. a.).“635

Zu diesen Ausführungen Thomaes ist zwar anzumerken, daß kein Vertreter des aktuellen soziali-sationstheoretischen Ansatzes von einer (passiven) „Prägung des Persönlichkeitsgefüges“ spre-chen636, sondern den Aspekt der aktiven Auseinandersetzung als produktive Leistung menschli-cher Subjekte betonen würde; dennoch können Thomaes Ausführungen als (ein) Indiz (unter vielen) für die in der Psychologie zunehmende Bereitschaft gelten, die Bildung und Entwicklung von „Persönlichkeit“ als Aspekt von „Sozialisation“ zu sehen. Diesen aktiven Charakter der Per-sönlichkeitsentwicklung betont im folgenden auch Thomae, wenn er einerseits auf die Kritik an Sozialisationstheorien eingeht, „welche das Kind als passives Objekt der Sozialisationsbedingun-gen sehen“, und andererseits feststellt:

„Ein aktiver Organismus steht in Interaktion mit bestimmten Entwicklungsbedingungen - das ist ein in sehr vielen Forschungsansätzen bestimmendes Interpretationsmodell von entwick-lungspsychologischen Zusammenhängen, das gerade in der populären Diskussion oft vernach-lässigt wird.“637

Thomaes Ausführungen zur „primären Formung des Menschen durch Sozialisation“ enthalten ei-ne Problematisierung des Verhältnisses von anthropologischen und methodologischen Grundauf-fassungen der modernen Psychologie, die er im Kontext des Problems von „Determination und Freiheit“ ansiedelt. Er problematisiert insbesondere (a) die Formulierung von

633 Stärkere Worte findet Tillmann. Er bezeichnet die Annahme einer genetischen „Fixierung von

Charak-tereigenschaften“ als „eine wissenschaftlich durch nichts zu belegende Spekulation“. Vgl. Tilllmann, K.-J.: Sozialisationstheorien. Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung. Reinbek 1994, S. 13.

634 Thomae 1991, S. 115. Thomae bezieht sich auf folgende Untersuchungen: Gottschaldt, K.: Das Problem der Phänogenetik der Persönlichkeit. In: Lersch, Ph. und Thomae, H. (Hrsg.): Handbuch der Psychologie. Band 1. Göttingen 1960, S. 22-280. Vandenberg, S. G.: The contributions of twin re-search to psychology. In: Psychol. Bull. 66 (1966), S. 327-352. Als Untersuchungen zu diskordan-tem Verhalten bei eineiigen Zwillingen nennt er: Bracken, H. v.: Über die Sonderart der subjektiven Welt von Zwillingen. In: Arch. ges. Psych. 97 (1936), S. 97-105. Zazzo, R.: Les Jumeneaux. Le cou-ple et la personne. Paris 1960.

635 Thomae 1991, S. 115.

636 Vgl. etwa Hurrelmann 1993, insbesondere S. 14ff. und Tillmann 1994, insbesondere S. 11ff.

637 Thomae 1991, S. 117.

hängen und deren Überprüfung mittels statistischer Verfahren und (b) das Ziel der „Vorhersag-barkeit von psychischer Entwicklung“.

(a) Nach Thomae gibt es keinen notwendigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Ent-wicklungsumständen und Entwicklungsergebnissen:

„Immer stärker ist in den letzten Jahren die Forderung erhoben worden, statt nach allgemei-nen ‘Entwicklungsgesetzen’ forschen zu wollen, die Bedingungen zu analysieren, unter deallgemei-nen diese oder jene Form psychischer Entwicklung in Kindheit, Jugend- und Erwachsenenwelt auf-tritt. Bei der Erfüllung dieser Forderung aber wird sich stets die Frage stellen, ob wir bestimm-te Korrelationen zwischen Entwicklungsumständen und Entwicklungsergebnissen als Hinweise auf Ursache-Wirkungs-Beziehungen sehen dürfen. Die statistischen Verfahren, mit denen wir solche Zusammenhänge überprüfen, lassen zunächst einmal keineswegs eine Aussage über Kausalbeziehungen zu. Sie sagen nur aus, ob ein gefundener Zusammenhang zwischen Varia-ble A und B zufällig ist oder nicht. Von hier aus gesehen ist bei allen biologischen, sozialen und psychologischen Korrelaten bestimmter Entwicklungsformen festzustellen, daß sie nicht als Ursachen anzusehen sind, die notwendigerweise zu dieser oder jener Wirkung führen müs-sen.“638

(b) Vor diesem Hintergrund ist die „Vorhersagbarkeit von psychischer Entwicklung“ prinzipiell eingeschränkt. Aber:

„Der Entwicklungspsychologe als Wissenschaftler muß ... von der Vorhersagbarkeit von psy-chischer Entwicklung überzeugt sein. Steht er aber damit nicht im Gegensatz zu der Idee der Person, deren Eigenart nicht allein Resultat biologischer oder sozialer Einflüsse, sondern je-weils ‘personaler Entscheidungen’ ist?“639

Thomae „glaubt“, es handle sich um einen nur scheinbaren Gegensatz:

„Erstens stellt jede Voraussage über menschliches Verhalten im theoretischen wie im prak-tisch-klinischen Bereich nur ein Wahrscheinlichkeitsurteil dar. Es ist eher ein Zeichen von kritikloser Unterschätzung der Komplexität der Lenkung des Entwicklungsgeschehens, wenn man aus bestimmten erkannten Entwicklungsumständen notwendige Verhaltenskonsequenzen ableitet. Das trifft auf die Entwicklung im frühen Kindesalter in gleicher Weise zu wie auf jene in der Jugendzeit oder im Erwachsenenalter. Auch wenn wir Einblick in alle inneren und äußeren Entwicklungsbedingungen hätten und sogar die Situation vorhersagen könnten, in die ein Individuum gestellt wird, so bleibt es doch schwierig vorherzusagen, wie das Individuum diese Situation erleben wird. Die Situation, so, wie sie wahrgenommen, erlebt wird, erwies sich aber als die wesentlichste Variable, welche über die Wahl zwischen verschiedenen Verhaltensweisen entscheidet. Diese Wahrnehmung wird vor allem durch Überzeugungen, Werthaltungen, d. h. mehr oder minder übergreifende kognitive Systeme bestimmt. Insofern ist es nicht die dumpfe Gewalt von Trieben und Affekten, welche den Menschen in diese oder jene Richtung treibt, sondern der Aufbau, die Einbeziehung oder Ausschaltung bestimmter Grundüberzeugungen und Grundwerte. Dies ist, wie aufgewiesen, keine idealistische Philosophie, sondern Resultat empirischer Untersuchungen über Entscheidungsverhalten.“640

Diese pragmatische Perspektive einer Verknüpfung des nomothetischen und des idiographischen Ansatzes tritt in Thomaes Fazit noch einmal sehr deutlich hervor:

638 Thomae 1991, S. 116f.

639 Thomae 1991, S. 117.

640 Thomae 1991, S. 117.

„Von diesen Einsichten aus erscheint uns ein Gegensatz zwischen dem wissenschaftlichen Ziel einer Entwicklungsprognose und einer Philosophie der Person heute nicht mehr zu beste-hen. Denn jede Entwicklungsprognose muß durchaus nicht erst beim Jugendlichen und Er-wachsenen Raum für jene personalen Entscheidungen lassen, deren Verlaufsform und Ergeb-nisse nur in bestimmten Annäherungsgraden erfaßt werden.“641

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 157-160)