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Wulfs Ansatz einer historisch-pädagogischen Anthropologie (1994)

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 62-75)

5. Der implizite Ansatz begreift den Menschen als: imago hominis. Der Mensch erscheint im Modus des Bildes (Scheuerl)

2.4 Wulfs Ansatz einer historisch-pädagogischen Anthropologie (1994)

In drei Buchveröffentlichungen des Jahres 1994, an denen Christoph Wulf als Autor, alleiniger oder Mitherausgeber beteiligt war, entwirft der Autor einen neuen Ansatz pädagogischer bzw.

allgemeiner Anthropologie, der sich je nach Buchkontext als „historisch-pädagogische“224, als

„plurale-historische“ oder als „Anthropologie nach dem Tode des Menschen“ ausweist. Am deut-lichsten skizziert Wulf den von ihm mitvertretenen Ansatz in seinem gemeinsam mit Zirfas he-rausgegebenen Sammelband:

„Der plurale-historische Ansatz begreift den Menschen als: homo absconditus. Der Mensch er-scheint im Modus der Pluralität, Reflexivität und doppelten Historizität (Kamper & Wulf, Wün-sche, Mollenhauer, Lenzen, Wulf).

Mit dem pluralen-historischen Ansatz ist keine einheitliche Position gemeint, sondern es sind Denkansätze angesprochen, die mehr oder weniger deutlich gesellschaftliche Bedingungen, ideologische Befangenheiten, pädagogische und bildungstheoretische Implikationen, Machtef-fekte, Genealogien bearbeiten und sich die Frage nach den Grenzen und Widersprüchlichkeiten pädagogisch-anthropologischen Wissens in historischen Kontexten stellen.“225

„Pluralität“ bzw. das „‘Prinzip’ des Pluralismus“ trägt der (synchronen) Heterogenität pädagogi-scher Anthropologie Rechnung:

„Kein Modell, keine Theorie, kein Paradigma der Erziehungswissenschaft kann für sich allein in Anspruch nehmen, das für die Erziehung erforderliche Wissen zu produzieren. ... Weder eine

‘integrative’, durch eine ‘realistische Wendung in der Erziehungswissenschaft’ (Roth ...) ge-wonnene Einsicht noch eine ‘philosophisch’ orientierte pädagogische Anthropologie kann be-anspruchen, die pädagogische Anthropologie zu repräsentieren.“226

„Historizität“, genauer: „‘doppelte’ Historizität“ bezeichnet die (diachrone) Variabilität des Objek-tes „Mensch“ und die theoretische wie metatheoretische Variabilität „pädagogischer Anthropolo-gie und anthropologischer Reflexion“227:

„Pädagogisch-anthropologisches Wissen hat eine zweifache Historizität. Einmal hat das bear-beitete Thema seine spezifische Geschichtlichkeit, zum anderen hat derjenige, der ein

222 Vgl. Meinberg 1988, S. 249-256. Als Vertreter einer „Phänomenologischen Pädagogik“ nennt Mein-berg u. a. Fischer, Langefeld, Bollnow, Loch und Lippitz.

223 Meinberg 1988, S. 252.

224 Wulf, Chr. (Hrsg.): Einführung in die pädagogische Anthropologie. Weinheim/Basel 1994. Wulf, Chr.

und Zirfas, J. (Hrsg.): Theorien und Konzepte der pädagogischen Anthropologie. Donauwörth 1994.

Kamper, D. und Wulf, Chr. (Hrsg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit. Frankfurt a. M. 1994. Zur Vereinfachung der Zitation werde ich die einzel-nen Titel in dieser Reihenfolge als Wulf 1994 a, b und c bezeicheinzel-nen.

225 Wulf 1994b, S. 20.

226 Wulf 1994b, S. 26.

227 Vgl. Wulf 1994b, S. 26.

pologisches Problem untersucht und erforscht, seine jeweilige historisch bedingte Perspekti-ve.“228

Diese beiden Prinzipien, „Pluralität“ und Historizität“, stehen nun nicht für eine Fortführung tradi-tioneller pädagogischer Anthropologie oder deren Reformulierung, sondern:

„Indem wir ‘Pluralität’ und ‘Historizität’ aufeinander beziehen, und somit die Diachronie der Historizität in die Synchronie der Pluralität, und die Synchronie der Pluralität in die Diachronie der Historizität einführen, erzeugen wir bewußt Spannungen zwischen der Geschichte und den Humanwissenschaften, die nach unserer Auffassung zu neuen komplexen Formen pädago-gisch-anthropologischen Wissens führen. Pluralisierung und doppelte Historisierung bezeichnen die Abkehr vom Fundamentalismus einer normativen Pädagogik und die Anerkennung der Re-lativität von Paradigmata sowie die Hinwendung zu einem begründeten Perspektivismus. Päd-agogische Anthropologie läßt sich von hier aus als den Versuch verstehen, die Geschichte des Zusammenhangs von Mensch(engeschichten) und Erziehung(sgeschichten) zu bearbeiten.“229

Diese Bearbeitung von Geschichten (z. B. Benjamins) von Menschen und von der Erziehung ist dann auch Anliegen des „Mimesis in der Erziehung“ betitelten thematischen Beitrags Wulfs zu seiner „Einführung“.230 Diese Demonstration einer möglichen praktischen pädagogisch-anthropologischen Arbeitsweise verdeutlicht, was Wulf mit theoretischen Ansprüchen wie der

„Dekonstruktion zentraler pädagogischer Begriffe“231 oder der „Steigerung der Komplexität an-thropologischen Wissens“232 meint. Im Kontext meiner Arbeit sind die praktischen Arbeitweisen und Ergebnisse, so erfolgversprechend sie zu sein scheinen, weniger interessant. Von vorrangi-gem Interesse ist für mich der Zusammenhang zwischen Menschenbild- und metatheoretischen Aspekten, den Wulf, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Hinblick sowohl auf herkömmliche pädagogische Anthropologie, als auch auf den eigenen Neuansatz thematisieren.

Es ist bereits deutlich geworden, daß Wulf von der Figur des „homo absconditus“ ausgeht, von der „Perspektive der prinzipiellen Unergründbarkeit des Menschen“.233 Dies entspricht der Per-spektive Plessners, der, so Meinberg, allerdings der Auffassung war, ein „Gesamtbild“ des „gan-zen“, „unergründlichen“ Menschen zeichnen zu können234 - freilich mit diesem einen entschei-denden Unterschied: Ziel historisch-pädagogischer Anthropologie

„ist nicht die Untersuchung des Menschen oder des Kindes als Gattungswesen, sondern die Untersuchung menschlicher Erscheinungs- und Ausdrucksweisen unter bestimmten historisch-gesellschaftlichen Bedingungen. Aus dieser Untersuchungsperspektive ergibt sich konsequen-terweise der Verzicht auf ein Gesamtbild des Menschen.“235

228 Wulf 1994a, S. 8.

229 Wulf 1994b, S. 27.

230 Vgl. Wulf, Chr.: Mimesis in der Erziehung. In: Wulf 1994a, S. 22-44.

231 Vgl. Wulf 1994a, S. 15.

232 Vgl. Wulf 1994a, S. 16.

233 Wulf 1994a, S. 18.

234 Vgl. Meinberg 1988, S. 260 und 273.

235 Wulf 1994a, S. 14f.

Die Möglichkeit eines „Gesamtbildes“, die bei Plessner bejaht, bei Wulf verneint wird, rekurriert auf die Unterscheidung Kants zwischen „physiologischer“ und „pragmatischer“ Anthropologie und den mit dieser Unterscheidung gegebenen Dualismus, den Dilthey in seiner Verstehen-Erklären-Dichotomie begrifflich faßte. Plessner begründete - so wenigstens scheint Meinberg zu argumentieren - sein „Ja“ mit der Behauptung einer Überwindbarkeit dieses Dualismus durch das Aufzeigen von „Wesensgesetzen“ mit Hilfe der phänomenologischen Methode.236 Unter anderem auf diese Konstruktion und vor allem die ihr implizite Ahistorizität scheint sich Wulfs und Zirfas’

Vorwurf vom „Fundamentalismus einer normativen Pädagogik“237 zu beziehen. Kampers und Wulfs „Nein“, das sich auf die von Spaemann reformulierte „Unvereinbarkeit“ zwischen der „Au-ßenansicht“ „des“ Menschen „als Natur“ (bzw. als „empirisches Ich“) und der „Innenansicht“

„des“ Menschen „als Person“ (bzw. als „intelligibles Ich“) bezieht, ist in eine (wissen-schafts)historische und im Unterton ideologiekritische Problematisierung „des“ Menschen und

„der“ Anthropologie eingebettet.238

Diese historische Problematisierung trägt dem Umstand Rechnung, daß „die Rede von dem Men-schen und der Anspruch, ihn global verkörpern zu können“ als zentrale anthropologische Themen bzw. Topoi „erst mit dem Bürgertum und seinen spezifischen Abstraktionsleistungen“ beginnen.

„Erst seitdem“ werde „ausdrücklich eine Anthropologie politisch investiert“, werde sie „aus-drücklich bestritten, bekämpft, verteidigt, hochgehalten“.239 In der Folge hätten sich zwei Tradi-tionslinien herausgebildet: eine naturwissenschaftlich orientierte Anthropologie „als eine auf das Bleibende der menschlichen Natur gerichtete Erkenntnis ..., die eher konservativen Zeitströmun-gen entspringt und auch zugute kommt“, und - als „GeZeitströmun-genlager“ - die Geschichtsphilosophie.240 Und:

„Es ist unverkennbar, daß nacheinander und nebeneinander vielfältige Ansätze der Anthropo-logie stark programmatische und projektartige Züge haben und in der Tradition der bürgerli-chen Gesellschaft auf eine zukünftige Vervollkommnung des Mensbürgerli-chen drängen. So ist An-thropologie fast immer mit ... Pädagogik assoziiert ...“241

Sowohl wissenschaftsökonomisch als auch wissenschaftsperspektivisch sei diese Vervollkomm-nungsstrategie obsolet geworden:

„Die Frage ist aufgetaucht, ob die Fortschritte der Zivilisation unter dem Zeichen einer ab-strakten Anthropologie noch in einem sinnvollen Verhältnis zum Aufwand stehen.“242

Und, so ließe sich Gadamer interpretieren:

236 Vgl. Meinberg 1988, S. 260.

237 Vgl. Wulf 1994b, S. 27.

238 Vgl. Kamper, D. und Wulf, Chr.: Einleitung: Zum Spannungsfeld von Vervollkommnung und Unver-besserlichkeit. In: Wulf 1994c, S. 7-11, insbesondere S. 8.

239 Wulf 1994c, S. 7.

240 Wulf 1994c, S. 7f.

241 Wulf 1994c, S. 8.

„Die fortgeschrittene Theoretisierung der Lebenswelt erzwinge geradezu eine Potenzierung der anthropologischen Reflexion und ihre Versetzung auf eine Ebene des Nachdenkens, die es er-laubt, Theorien statt Daten zu interpretieren.“243

Ferner, um mit Gadamers Überlegungen zur Methodologie-Problematik zurückzukommen:

„Überhaupt geht die ‘Neue Anthropologie’ (Gadamer, Vogler) entschieden über die These von den zwei Kulturen hinaus. Naturwissenschaft (Erklären) und Geisteswissenschaft (Verstehen) sind mittels ihrer Gegenstände in ein diskontinuierliches Kontinuum der reflexiven Anthropolo-gie eingelassen, das nun bedacht sein will. ‘Die alte wissenschaftstheoretische Unterschei-dung von Erklären und Verstehen oder von nomothetischer und idiographischer Methode reicht nicht aus, um die methodische Basis einer Anthropologie auszumessen.’“244

Mit diesem Diktum Gadamers und dem Hinweis Kampers und Wulfs, die divergierenden wissen-schaftstheoretischen und methodologischen Positionen könnten in der „Historischen Anthropolo-gie“ „eine neue Mischung eingehen“245, ist eine mögliche Perspektive angesprochen, die so aller-dings auf der Anspruchsebene stehenbleibt. Die Frage ist, ob und wie sich dieser Anspruch realisieren läßt.

Meines Erachtens stellt Wulfs Benjamin-Interpretation246, die offensichtlich als exemplarische Vorführung praktisch historisch-pädagogischer Forschungsarbeit gedacht ist, eine rein hermeneu-tische Leistung dar, die allerdings die mühselige und bescheidene Annäherungsweise textimma-nenter Interpretation zugunsten der Einbringung eines motiv- und themenreichen Kontextes hin-ter sich läßt. Die keineswegs stringente Trennung von Text- und Kontextebene läßt so oft nicht erkennen, ob nun Standpunkte des Erzählers oder Ansichten des Interpreten vorgetragen wer-den. Ein Beispiel: In dem Satz „Indem das Kind mit seinem Körper zur ‘Windmühle’ wird, macht es sich mit einer ersten Form der Maschine und dem Maschinen-Charakter des menschlichen Körpers vertraut.“247 bleibt offen, wer vom „Maschinencharakter“ des menschlichen Körpers ausgeht: Benjamin oder Wulf. Eine keineswegs unwichtige Frage, denn die Annahme dieses

„Maschinen-Charakters“ läßt schwerwiegende Rückschlüsse auf das Menschenbild dessen zu, der sie konstruiert.

Was dieses Beispiel mit der Menschenbildproblematik zu tun hat, auf die es mir ankommt, ist ganz offensichtlich: Nicht nur jeder, der erzieht (oder erzogen wird), auch jeder, der sich über

„den“ Menschen (oder auch den und jenen Menschen) äußert, legt seiner Äußerung - bewußt und gewollt oder nicht - irgendein Menschenbild zugrunde, sei es ein „Gesamtbild“ oder sei es noch so rudimentär. Und dieses Konstrukt bedingt die Perspektive mit. Wulf fordert den 242 Wulf 1994c, S. 7.

243 Wulf 1994c, S. 9.

244 Wulf 1994c, S. 8.

245 Wulf 1994c, S. 9.

246 Vgl. Wulf 1994a, S.27-41.

247 Wulf 1994a, S. 29.

zicht auf ein Gesamtbild des Menschen“, aber irgendein Menschenbild liegt auch seinen theoreti-schen und forschungspraktitheoreti-schen Ausführungen zugrunde. Allgemein formuliert, verunmöglicht die Nicht-Offenlegung des zugrundegelegten Menschenbildes aber, daß die stillschweigenden an-thropologischen Basisannahmen einer Überprüfung zugeführt werden können; dies führt in jedem neuen Forschungs- bzw. Interpretationsdurchgang - zumindest tendenziell - zu einer

quasi-“automatischen“ Verifizierung der Ausgangsannahmen, die sich sukzessive - ich übertreibe be-wußt - z. B. zu einem mystischen Menschenbild verdichten können. Diese zentrale methodolo-gisch-anthropologische Kritik Jüttemanns an methodengemachten Menschenbildern, die sich im Kontext des Forschungsprogramms Subjektive Theorien wiederfindet248, bezeichnet kein spezi-fisch psychologisches, sondern ein allgemeines methodologisches Problem und ist nicht hinter-gehbar. Eine Antwort auf die Frage, wie mit diesem Problem forschungsstrategisch umzugehen sei, kann ich bei Wulf und seinen Mitautorinnen und -autoren nicht finden.

Vermutlich ist der plurale-historische Ansatz pädagogischer Anthropologie zu jung und zu wenig entwickelt und erprobt, um heute schon das nicht eben umfangreiche Forschungsmaterial nach (spezifischen oder unspezifischen) Menschenbild-Implikationen zu durchforsten.249 Daß aber schon der Programmstart mit einigen Irritationen verbunden ist, mahnt zur Skepsis. Auf eine er-ste Irritation habe ich im Zusammenhang der Wulfschen Benjamin-Interpretation hingewiesen, auf eine zweite im Hinblick auf die offensichtlich nicht lückenlose methodologische Fundierung.

Eine dritte, zugleich eine einzige Irritation erkenne ich im Beitrag von Marie-Anne Berr zu Wulfs

„Einführung“250, soweit es um die zum Großteil nur angedeuteten Menschenbild-Implikationen geht. Die - mit Sicherheit provokative - Frage, die mir bei der Lektüre dieses Beitrages gekommen ist, möchte ich voranstellen: Kann es sein, daß Berr und vielleicht auch Wulf zwar zum „Verzicht auf ein Gesamtbild des Menschen“ aufrufen, insgeheim aber ihrer auf „Komplexitätssteigerung“

zielenden Forschungsstrategie bereits ein dezidiertes Menschenbild unterlegt haben, das nur des-halb nicht gesamtbild-tauglich ist, weil es mit (zu) weitreichenden Reduktionen „des Menschli-chen“ verbunden ist? Ich werde diese Frage, die ihren Zweck dann erfüllt, wenn sie provoziert, nicht beantworten; ich möchte sie nur exemplifizieren und ausführlicher erörtern.

Beispielzitat 1:

„Die Maschine als Speicher-, Textverarbeitungs- und -übertragungsmedium, vor allem als Zei-chen- und Bildproduktionsmaschine, stellt die Differenz von Mensch und Technik infrage, da

248 Vgl. Jüttemann, G.: Psyche und Subjekt. Für eine Psychologie jenseits von Dogma und Mythos.

Reinbek 1992. Vgl. auch Groeben, N. u. a.: Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Ein-führung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen 1988. Vgl. ferner Abschnitt 4.2 dieser Arbeit.

249 Daran hat sich m. E. auch nach Veröffentlichung des von Wulf herausgegebenen „Handbuchs Histo-rische Anthropologie“ mit seinen zahlreichen eher essayistischen Beiträgen nichts Wesentliches ge-ändert. Vgl. Wulf, Chr. (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Weinheim und Basel 1997.

250 Berr, M.-A.: Anthropologie der medialen Technologie. In: Wulf 1994a, S. 70-97.

sie damit nicht mehr wie die mechanische Maschine über die Transmission von Kraft/Energie, sondern über die bloße Transformation von Sprache/Zeichen begriffen werden muß. Mit dieser Veränderung der technischen Funktionslogik rührt die Maschine aber an einem Kriterium des Menschlichen schlechthin.

Im folgenden Beitrag gehe ich deshalb der These nach, daß die Realisierung des Computers nicht nur neue Bestimmungen für die Technik und die Medien erlaubt, sondern auch das Selbstverständnis des Menschen in entscheidender Weise verändert. Denn mit der Realisie-rung des Computers läßt sich nicht nur die Maschine als symbolische Maschine denken, son-dern damit wird es möglich, den Menschen als bloß formales System zu bestimmen ...“251

Natürlich kann ich mir (fast) alles denken und, wenn ich möchte, den Menschen als „bloß forma-les System“ bestimmen. Aber was wäre sinnvoll an dieser Reduktion? Textverarbeitungssysteme sind versuchte Nachbildungen kognitiv-sprachlicher Strukturen des Menschen auf mathematisch-informationstheoretischer Grundlage unter Zuhilfenahme technologischen, linguistischen usw.

Know-hows. Daher die Analogie der Strukturen. Selbst die besten Textverarbeitungssysteme er-reichen genau dort ihre Grenzen, wo spezifisch menschliche Strukturen sich als nicht rekonstru-ierbar erweisen. Als Mitte der 90er Jahre die neueste Version eines vor allem bei Behörden und im naturwissenschaftlichen Bereich geschätzten Textverarbeitungssystems auf den Markt kam, wurde insbesondere das integrierte Stilkorrekturprogramm werbeträchtig lanciert. Ein kritischer Redakteur mit vermutlich literaturwissenschaftlichem Hintergrund gab u. a. einen Text Hermann Hesses ein. Die „Reaktion“ des Programms beinhaltete die Aufforderung, der Verfasser möge sich „eindeutig“ ausdrücken. Klar, worum es geht: Selbst die denkbar besten „interaktiven“

Computerprogramme verstehen, handeln, interagieren, entwickeln „sich“, leben nicht. Sie funk-tionieren aufgrund der Nachbildung menschlicher Strukturen als isolierte, „bloß formale“ Struktu-ren, sie sind als reduktive Abziehbilder aufzufassen, es sei denn, man bemühe ein metaphysi-sches Tertium comparationis. Wenn ich nun dieses reduktive Abziehbild des Menschen auf den Menschen „rück“projiziere, reduziere ich ihn u. a. um die biographischen, ethischen, affektiven Dimensionen, die daran beteiligt sind, daß aus langweiligen formalsprachlichen Kompetenzstruk-turen interessante Performanz in Form von stilistisch wertvollen und gehaltvollen Texten „gene-riert“ wird. (Und dies gilt keineswegs nur für den Bereich ästhetischer Performanz.) Die „Diffe-renz von Mensch und Maschine“ kann vor diesem Hintergrund niemals „obsolet“252 werden.

Beispielzitat 2:

„Mit dem Modell der Kybernetik wird die materiale Welt, werden die Körper-Funktionen zum Gegenstand operationalisierender Verfahren. Mensch und Maschine werden hier zum kogniti-ven System, zur Sprache als Gedächtnis, das mit seinem Körper über die für die Spracherzeu-gung notwendigen Wahrnehmungssensoren verfügt. Sprechen und Schreiben, ebenso wie die visuelle und akustische Wahrnehmung werden zur Empfangsstufe, die als Vorstufe zu den für die sinnvolle Sprachentwicklung notwendigen Begriffen und Abstraktionen definiert ist. Der Körper, das Nervenzentrum kann - als informationeller Übertragungsmechanismus der psychi-schen und kinästhetipsychi-schen Funktionen verstanden - damit in den angewandten Informations-wissenschaften, ebenso wie in den Geistes- und SozialInformations-wissenschaften, als formales Modell generiert werden, ohne dem Vorwurf der Destruktion und Begrenzung der materialen Welt

251 Berr in Wulf 1994a, S. 72.

252 Vgl. Berr in Wulf 1994a, S. 75.

durch den abstrakten Begriff ausgesetzt zu sein, wie dies im metaphysischen Denken der Fall war.“253

Berr entwickelt diese Ansicht aus der Gegenüberstellung von Positionen der philosophischen An-thropologie (vor allem Plessners und Gehlens) einerseits und des „kybernetischen Menschenbil-des“ andererseits, dem sie sich offensichtlich anschließt254. Bei genauerem Hinsehen zeichnet sich „der Körper“ in diesem Bild als „Mechanismus“ oder „Modell“ ab, dem bestimmte Funktio-nen zugewiesen werden. Thematisiert wird offensichtlich ein lineares, unidirektionales Verhältnis zwischen einer sprachlich-kognitiven und einer „materialen“ Struktur. Der Körper als Befehlsemp-fänger und -ausführer neigt aber dazu - die psychosomatische Medizin lehrt es - „seinen Geist aufzugeben“ (dieses Wortspiel sei mir gestattet), wenn er nur noch als ausführendes Organ ge-sehen und gebraucht wird. Der Körper als nur ausführendes Organ, das man nun als Leib, als

„Fleisch“ oder als „das Materielle“ unter- und geringschätzen kann, wird dem Input-Organ ganz im Gegensatz zur durchkonstruierten Maschine auch nicht jede Störung in eindeutig identifizier-barer Weise rückmelden, er wird sich nicht so funktionalisieren lassen wie „andere“ Mechanis-men. Er kann auf Dauerstreß in Form einer chronischen Gastritis antworten, die sich unter Um-ständen zur Krebserkrankung auswächst, oder - allgemein - in Form („nur“) eines Symptoms, eines Syndroms oder eines diffusen Krankheitsbildes mit auch psychischen Komponenten. Die Anamnese ist auf intuitive Interpretation verwiesen, in die zweifellos im weitesten Sinn „empiri-sche“ Befunde eingehen. Die Frage ist dann, ob (nicht derselbe Mensch, sondern) dieselbe kogni-tive Struktur, die die Erkrankung verursacht hat, sie auch diagnostizieren und therapieren kann.

Um die Explizierung meiner Frage aufgrund des Gesagten mit ein wenig mehr Provokation abzu-schließen: Kann es sein, daß die These „vom Tod des Menschen“ den Charakter einer Selffulfil-ling prophecy aufweist, die - sozusagen anatomisch - dadurch herbeigeführt wird, daß das ky-bernetische Bild vom Menschen mit seinen nach wie vor mechanistischen Implikationen „den“

Menschen dadurch tötet, daß es ihn in einzelne Strukturen auflöst und ihn selbst trotz der aus-geklügeltsten systemtheoretischen Konstruktionsbemühungen à la Interpenetration nicht wieder als lebendiges Wesen zusammenfügen kann?

2.5 Zusammenfassung

Die Kritik einer pluralen-historischen pädagogischen Anthropologie an (herkömmlicher) Pädagogi-scher Anthropologie bestreitet völlig zu Recht die Effektivität einer Forschungsstrategie und -pra-xis, die (a) ahistorisch operiert und sich (b) auf der Grundlage großenteils metaphysischer, stets aber in ihrem Kern spekulativer Basisannahmen vom „Wesen“ oder der „Natur“ oder der

253 Berr in Wulf 1994a, S. 88f.

254 Berr bezieht sich mit Norbert Wiener und Heinz von Foerster auf beide Generationen bzw. „Ordnun-gen“ der Kybernetik.

„Einheit“ „des“ Menschen verewigt und sich immer weiter von der Realität des Menschlichen entfernt.255 Dabei erweisen sich, wie aus Lenzens Kritik256 gefolgert werden kann, die expliziten oder impliziten Menschenbildannahmen von unzureichend problematisierten Konstrukten wie

„Kind“, „Zögling“, „Mündigkeit“, „Selbstbestimmung“ im Verein mit ohne Not reduzierten Erzie-hungskonzeptionen als Ursache für eine Perspektivenverengung, die Forschungsarbeit zum Selbstläufer werden läßt. Hier ist in der Tat Dekonstruktionsarbeit mit dem Ziel angezeigt, „neue Bezugspunkte für pädagogisches Denken und Handeln“257 zu gewinnen.

Nur: Die methodologisch-anthropologischen Prämissen dieser Dekonstruktions- und Rekonstruk-tionsarbeit sind nicht beliebig; jedem theoretischen Ansatz liegt - wie mit besonderem Nachdruck Meinberg festgestellt hat258 - ein Menschenbild zugrunde, und die Kritik an schein-hermeneutisch oder empiristisch methodengemachten259 mystischen oder dogmatischen Menschenbildern260 ist unhintergehbar.261 Das Konstrukt Mensch in der Form des Menschenbildes ist offenzulegen und auf seinen heuristischen Wert oder Unwert zu hinterfragen, um im jeweiligen Forschungsdurch-gang für diskursive Überprüfung und - wenn nötig - Revision262 zur Verfügung zu stehen. Dies erfordert zuallererst den Verzicht auf spekulativ-metaphysische, „idealanthropologische“ Grund-annahmen menschlicher „Bestimmung“, die den wichtigsten Grundkonzeptionen Pädagogischer Anthropologie (evident bei Roth, virulent bei Gerner263 und allzeit gegenwärtig in der „Leitbild“-These Meinbergs und „seiner“ philosophischen Anthropologie) gemeinsam sind. Positiv formu-liert: Revidierbar sind nur „realanthropologische“ Hypothesen in ständigem Austausch zwischen phänomenologisch-hermeneutischer Reflexion einerseits und empirischen Forschungen anderer-seits. Wo immer ein wissenschaftstheoretisch begründbarer Methodologien- bzw. Methoden-Mix

255 Vgl. Kamper, D. und Wulf, Chr.: Einleitung: Zum Spannungsfeld von Vervollkommnung und Unver-besserlichkeit. In: Dies. (Hrsg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit. Frankfurt a. M. 1994, insbesondere S. 7.

256 Vgl. Lenzen, D.: Das Kind. In: Ders. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1994, S. 341-361, insbesondere S. 342f.

257 Vgl. Wulf, Chr.: Zur Einleitung: Grundzüge einer historisch-pädagogischen Anthropologie. In: Ders.

(Hrsg.): Einführung in die pädagogische Anthropologie. Weinheim/Basel 1994, S. 7-21, insbesondere S. 16.

258 Vgl. Meinberg, E.: Das Menschenbild der modernen Erziehungswissenschaft. Darmstadt 1988, ins-besondere S. 307f.

259 Vgl. Schlee, J.: Menschenbildannahmen: vom Verhalten zum Handeln. In: Groeben, N., Wahl, D., Schlee, J., Scheele, B.: Das Forschungsprogramm Subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psy-chologie des reflexiven Subjekts. Tübingen 1988, S. 11-17, insbesondere S. 12.

260 Vgl. Jüttemann, G.: Psyche und Subjekt. Für eine Psychologie jenseits von Dogma und Mythos.

Reinbek 1992.

261 Vgl. Abschnitt 4.3 dieser Arbeit.

262 Vgl. Roth, H.: Empirische Pädagogische Anthropologie (1965). In: Wulf, Chr. und Zirfas, J. (Hrsg.):

Theorien und Konzepte der pädagogischen Anthropologie. Donauwörth 1994, S. 154-170, insbeson-dere S. 169.

263 Vgl. Gerner, B.: Einführung in die Pädagogische Anthropologie. Darmstadt 1974, insbesondere S.

263 Vgl. Gerner, B.: Einführung in die Pädagogische Anthropologie. Darmstadt 1974, insbesondere S.

Im Dokument Widmung und Dank (Seite 62-75)