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Ziviler Ungehorsam in Wissenschaft und Recht

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 29-34)

Die gängige Herangehensweise der Erörterung von zivilem Ungehorsam in der politischen Philosophie folgt John Rawls, indem zunächst die Begriffsdefinition, dann die Frage der Rechtfertigung diskutiert wird, worauf in einem dritten Schritt Überlegungen zur Rolle des zivilen Ungehorsams in der Gesellschaft folgen (vgl. Rawls 1979: 399ff.). Im Anschluss daran werden häufig die Frage nach einem Recht auf zivilen Ungehorsam und mögliche Sanktionen diskutiert (siehe beispielsweise Brownlee 2007). Die beiden wichtigsten und am grundle-gendsten diskutierten Kernfragen sind jedoch: »What makes a breach of law an act of civil disobedience? When is civil disobedience morally justified?« (ebd.), also jene nach der Definition und der Rechtfertigung von zivilem Ungehorsam.

Viele Definitionen von zivilem Ungehorsam setzen ausdrücklich oder implizit einen staatlichen Handlungsrahmen voraus. Damit verstehen sie zivilen Unge-horsam als ein Konzept, das ausschließlich das Verhältnis zwischen den Bür-gern eines Staates und institutionellen Instanzen desselben Staates betrifft.

Abgesehen davon, dass dieses Modell heute so in der Praxis nicht mehr ganz zutreffend ist, ist auch die Grundannahme bereits verkürzt, da dem zivilen Un-gehorsam an sich ein kommunikatives Dreiecksverhältnis zugrunde liegt: zwi-schen dem Ungehorsamen, dem Adressaten des Protestes und der politizwi-schen Gemeinschaft von Mitmenschen (Smith 2010: 153). Einige Definitionen gehen zusätzlich davon aus, dass ziviler Ungehorsam »historisch und begrifflich an die Existenz demokratisch-rechtsstaatlicher Rahmenbedingungen moderner Prägung gebunden« (Laker 2005: 162) sei. Andere wiederum sprechen von zivi-lem Ungehorsam als politischer Protestform auch in ungerechten und nicht-demokratischen Staaten (vgl. 2008: 1366).

Stillschweigend wird in der alltäglichen Kommunikation häufig ein allgemein geteiltes Verständnis des Begriffs des zivilen Ungehorsams vorausgesetzt, ob-wohl ein solches nach einer empirischen Studie von Behr et al. keineswegs gegeben ist (Behr et al. 2014). Die Untersuchung zu Haltungen der Bürger zu zivilem Ungehorsam im internationalen Vergleich von sechs Nationen zeigt au-ßerdem, dass auch die Frage der legitimen Mittel des zivilen Ungehorsams und jene der situativen Angemessenheit sehr umstritten sind. Gleichzeitig werden global betrachtet zunehmend diverse Protestformen mit dem Begriff des zivilen

Ungehorsams bezeichnet, wodurch sich die Annahme, es gebe eine unstrittige Lesart des Begriffs, womöglich noch verfestigt. Vielen bekannten Definitionen ist gemein, dass sie zivilen Ungehorsam als einen Schutz- und Legitimations-begriff verstehen; wie Henning Hahn es ausdrückt, ist ziviler Ungehorsam ein

»moralisch legitimationsfähiger Rechtsbruch« (Hahn 2008: 1365). Ziviler Unge-horsam ist demnach kein normativ neutraler Begriff, sondern im Gegenteil ohne eine normative Wertung gar nicht zu bestimmen (vgl. Celikates 2011b).

Allerdings ist ein Rechtsbruch, der als ziviler Ungehorsam bezeichnet wird, da-durch nicht per se gerechtfertigt. Kommt man zu der Ansicht, dass es sich bei einem Protestakt um zivilen Ungehorsam handelt, so ist damit die Debatte um die Rechtfertigung erst eröffnet. Schließlich geht es bei zivilem Ungehorsam um einen mit dem positiven Recht konfligierenden Akt, dessen Rechtfertigung möglich ist, nicht um einen per se gerechtfertigten Rechtsbruch.

In vielen Theorien zu zivilem Ungehorsam sind jedoch beide Ebenen, die be-griffliche und die Ebene der Rechtfertigung, schwer voneinander zu trennen.

Diese zweite Perspektive, also die Perspektive einer Rechtfertigung von zivilem Ungehorsam, ist jedenfalls nicht selbstverständlich, da sich leicht argumentie-ren lässt, dass für zivilen Ungehorsam in einer Demokratie gar kein Platz sei;

schließlich handelt es sich um eine Gesetzwidrigkeit. Im Rahmen eines forma-len Verständnisses des politischen Systems, dem zufolge positives Recht aus demokratischen Prozessen resultiert, ist ziviler Ungehorsam nicht zu legitimie-ren, da legitimes Recht und legitimer Rechtsbruch in unauflöslichem Wider-spruch zueinander stehen. Man könnte der Meinung sein, dass Konflikte, ab-weichende Meinungen und Einfluss auf Entscheidungen in einer funktionieren-den Demokratie über rechtskonforme Institutionen ausgetragen werfunktionieren-den müs-sen. Folgt man dieser Ansicht, wozu bräuchte eine Demokratie zivilen Unge-horsam?

Folgt man einer solchen Argumentation, steht ziviler Ungehorsam schnell im Verdacht, nur Instrument einer »Diktatur der Minderheit« (ebd.) zu sein, eine Protestform, die die institutionellen Wege der Einflussnahme scheut und eigene Interessen auf andere Weise durchsetzen möchte. So könnte man den zivil Un-gehorsamen den Vorwurf machen, ihre Rechte über die der anderen Mitbürger zu stellen und eine höhere Bedeutung ihrer Partizipation für sich zu beanspru-chen. Mehr noch, zivil Ungehorsame stellen sich scheinbar auch über das

Ge-setz, da sie es brechen und dafür eine Rechtfertigung zu haben beanspruchen, die aus den Gesetzen selbst nicht folgt. Wiederkehrend richten sich daher Stimmen gegen die Anerkennung von zivilem Ungehorsam als notwendige po-litische Praxis einer Demokratie (vgl. Quill 2009: 7). Manche Autoren betrach5 -ten zivilen Ungehorsam im Falle gut ausgebauter demokratischer Institutionen als »überflüssig« (Nescher 2013) und befürchten eine im Rechtsstaat unnötige Gefährdung der Stabilität eines Staatssystems. Andere erachten zivilen Unge-horsam gar als bedeutungslose, ineffektive Form der Kritik (vgl. Storing 1991).

Dennoch herrscht unter vielen politischen Philosophen oder Theoretikern, die zwar im Detail über zivilen Ungehorsam streiten mögen, Einigkeit darüber, dass er ein unabdingbares, teils stabilisierendes, teils transformierendes Element ei-ner reifen, lebendigen Demokratie ist und »notwendiger Bestandteil ihrer politi-schen Kultur« (Habermas 1983b: 32). Diese Vorstellung einer grundlegenden Notwendigkeit zivilen Ungehorsams folgt aus einer anderen gedanklichen Her-angehensweise. In der Debatte der politischen Philosophie wird die Rechtferti-gung von zivilem Ungehorsam nicht in einem formellen rechtsdogmatischen Sinne diskutiert, sondern allein in einer moralisch-politischen Dimension, die sich keineswegs deckungsgleich im positiven Recht oder in demokratischen Prozessen abbildet.

Dennoch ist ein Rechtsbruch, egal ob er als ziviler Ungehorsam verstanden wird oder nicht, strafbar. Auch unter Juristen wird daher der Begriff des zivilen Ungehorsams diskutiert, wenngleich es sich nicht um einen juristischen Tatbe-stand im engeren Sinne handelt. Es gibt weder ein formales Recht auf zivilen Ungehorsam noch kann andererseits jemand aufgrund des Tatbestandes des zivilen Ungehorsams angeklagt werden. Dennoch wird der Begriff auch seitens der Rechtswissenschaft kontrovers diskutiert, da er zur Praxis des Straf- und Zivilrechts gehört und darüber hinaus von einigen Rechtstheoretikern mit dem Widerstandsrecht in Verbindung gebracht wird (vgl. Dreier 1983).

Grundsätzlich sieht das Gesetz bei gleicher Handlung das gleiche Strafmaß vor. Demnach sind prinzipiell Rechtsbrüche, die politisch als ziviler

Jürgen Habermas beispielsweise richtete 1983 seine Rede vor dem Forum der SPD gegen

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solche Stimmen, insbesondere gegen die Regierungsvertreter Zimmermann und Spranger so-wie die FAZ, die damals über Monate die Aussage »Gewaltloser Widerstand ist Gewalt« so- wie-derholte (Habermas 1983b: 9).

sam eingeordnet werden, genauso zu bestrafen wie vergleichbare kriminelle Rechtsbrüche (vgl. Hahn 2008: 1367). Die Frage, ob dies in der Rechtspraxis stets so gehandhabt wird, ist schwer zu beantworten. Hahn weist darauf hin, dass es, sofern die zugrundeliegende Straftheorie auf Abschreckung basiert, denkbar wäre, dass der Rechtsbruch, der mit dem zivilen Ungehorsam einher-geht, eher härter bestraft wird als eine vergleichbare unpolitische Tat. Schließ-lich, so Hahn, setze sich der oder die Ungehorsame über das Gesetz hinweg, und darüber hinaus habe der Akt des zivilen Ungehorsams eine symbolische Wirkung, die nach dieser Ansicht besonders hart bestraft werden müsse (vgl.

ebd.). Philosophen wie beispielsweise Ronald Dworkin haben sich gegen diese auf Abschreckung beruhende Straftheorie ausgesprochen und ganz im Gegen-teil gefordert, dass der zivile Ungehorsam von den Gerichten so weit wie mög-lich zu tolerieren sei, da es um einen gesellschaftmög-lich wichtigen Interpretations-streit um Grundrechte gehe, über den ein Gericht nicht eigenmächtig urteilen solle (vgl. ebd.: 1367).

Die stets entscheidende Frage bleibt jedoch, was unter zivilem Ungehorsam verstanden werden soll – zumal wenn auf dieser Grundlage bestimmte gesetz-widrige Handlungen straffrei bleiben sollen. Diese Frage eröffnet in der politi-schen Theorie ein weites Feld, da es so zahlreiche im Detail unterschiedliche Verständnisse von zivilem Ungehorsam gibt, dass es hier nicht zielführend wäre, alle Autoren zu erwähnen oder alle möglichen Sichtweisen darzulegen.

Stattdessen soll der nächste Abschnitt einen groben Überblick über die Debat-te geben.

Der Großteil der vorhandenen Literatur zu zivilem Ungehorsam stammt aus den 1960er und frühen 1970er Jahren und war eine Reaktion auf Kritiker der Bür-gerrechtsbewegung wie der Bewegung gegen den Vietnamkrieg in den USA (vgl. Lyons 1998: 31). Zunächst wurde die Debatte stark durch amerikanische Autoren geprägt, was mit der Beobachtung von Ronald Dworkin oder Hannah Arendt einhergeht, ziviler Ungehorsam sei ein in erster Linie amerikanisches Phänomen (vgl. Arendt 2000: 306; Dworkin 1985: 104f.). In Deutschland wurde der Diskurs um zivilen Ungehorsam besonders in den 1980er Jahren, im Zuge von Protesten gegen die Stationierung amerikanischer Atomwaffen, virulent (vgl. Altnöter 2012: 12). Die wohl einflussreichste Abhandlung zu zivilem Unge-horsam stammt von John Rawls und ist in seiner Theorie der Gerechtigkeit zu

finden, die als politisch-liberale Theorie eingeordnet wird (vgl. Rawls 1971). Die weitreichende Bekanntheit dieses Ansatzes könnte auch damit zusammenhän-gen, dass Rawls’ Ausführungen wohlstrukturiert, umfassend und eingängig sind – was nicht auf alle bekannten Auseinandersetzungen mit zivilem Unge-horsam zutrifft.

Rawls bietet eine Definition, Rechtfertigung, Reflexion und Abgrenzung an, die es erleichtert, das ambivalente Phänomen des zivilen Ungehorsams zu fassen.

Weitere bekannte, wenn auch teilweise weniger systematische Auseinander-setzungen stammen beispielsweise von Jürgen Habermas (Habermas 1983b), Ronald Dworkin (Dworkin 1984), Howard Zinn (Zinn 1991a), Joseph Raz (Raz 1994), Hannah Arendt (Arendt 2000) sowie Michael Walzer (Walzer 1970a), wo-bei vor allem den wo-beiden letzteren Ansätzen im Laufe der Arwo-beit wesentliche Aufmerksamkeit zukommen wird.

Auch die jüngere Philosophie setzt sich im Anschluss an diese Ansätze mit der Bedeutung zivilen Ungehorsams für heutige Gesellschaften auseinander. Nam-hafte zeitgenössische Denkerinnen und Denker, die sich mit dieser Materie auseinandergesetzt haben, sind u.a. David Lefkowitz (Lefkowitz 2007), Andrew Sabl (Sabl 2001), Kimberly Brownlee (Brownlee 2012), William Scheuerman (Scheuerman 2015), William Smith (Smith 2011), Daniel Markovits (Markovits 2005) sowie Robin Celikates (Celikates 2010).

Der philosophische Diskurs um zivilen Ungehorsam ist weit entfernt von einer vollumfänglich einheitlichen Definition oder anerkannten Rechtfertigungskriteri-en. Im Gegenteil gehen mit verschiedenen Auslegungen des Begriffs gravie-rende Meinungsverschiedenheiten einher; so beispielsweise bezüglich des Ver-ständnisses von Demokratie, von politischer Öffentlichkeit oder bürgerlichen Rechten und Pflichten.

Neben diesem ohnehin kontroversen theoretischen Diskurs befindet sich ziviler Ungehorsam auch in der Praxis in einem Wandel. Er spielt eine prominente Rolle als Teil eines in der Tendenz allgemein zunehmenden zivilen Protests weltweit, der besonders im Laufe der letzten Jahrzehnte mit verschiedensten Anliegen öffentlich sichtbar wurde. Phänomene wie die Occupy-Bewegung, die sich an unzähligen Orten der Welt zeigt, verdeutlichen die Aktualität zivilen Un-gehorsams als eines politischen Konzepts von globaler Bedeutung (vgl. Juris 2012). Auch der Arabische Frühling wird von manchen Autoren als Bewegung

im Zeichen des zivilen Ungehorsams gesehen (vgl. Howard 2012), wobei diese Einordnung die Grenze zwischen zivilem Ungehorsam und revolutionären Um-brüchen womöglich in problematischer Weise überdehnt. Was sich jedoch zeigt, ist, dass der Begriff des zivilen Ungehorsams rege Verwendung findet und in den unterschiedlichsten neuen Kontexten, von lokal begrenzten Ausprä-gungen bis hin zu globalen BeweAusprä-gungen, eine neue Bedeutung erhält.

Der Wandels zivilen Ungehorsams steht in Zusammenhang mit vornehmlich zwei paradigmatischen Faktoren der globalen Ordnung, deren Verständnis je für sich genommen die Größenordnung dieser Arbeit übersteigen würde: der Globalisierung und der Digitalisierung der heutigen Lebenswelt. Beide Faktoren sind kaum getrennt zu betrachten, da sich zahlreiche Synergien, parallele Ent-wicklungen und Verflechtungen zwischen ihnen erkennen lassen. In dieser Ar-beit liegt auf der Frage, wie sich ziviler Ungehorsam im Zuge der Digitalisierung verändert hat, das Hauptaugenmerk. Dem Internet als Plattform, Werkzeug und Schauplatz kommt im Wandel des zivilen Ungehorsams eine tragende Rolle zu, die ich im Folgenden einleitend vorstelle.

Wie der Ungehorsam das Netz erreichte. Digitaler Ungehorsam

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 29-34)