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Die Evolution der virtuellen Sitzblockade

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 89-94)

Übersicht: Fallbeispiele digitalen Ungehorsams 7

1. Symbolischer digitaler Ungehorsam. Politik in einer Welt der Zeichenin einer Welt der Zeichen

2.6. Die Evolution der virtuellen Sitzblockade

Das Critical Art Ensemble war, wie erläutert, nicht die erste Gruppierung, die für sich beanspruchen konnte, zivilen Ungehorsam – in diesem Verständnis als disruptiver und blockierender digitaler Akt – in die Tat umgesetzt zu haben.

Im September des Jahres 1995, also vor der Entstehung des CAE-Buches über elektronischen zivilen Ungehorsam, ereignete sich in Italien und Frankreich eine digitale Protestaktion, die unter dem Namen Netstrike bekannt wurde und für die beansprucht wurde, die Taktik der Sitzbockade ins Netz zu übertragen (Nr.

13). Eine Gruppe italienischer Aktivisten aus Florenz namens StranoNet orga17 -nisierte eine DDos-Aktion gegen verschiedene Seiten der französischen Regie-rung, um gegen die nuklearen Tests zu protestieren, die der damalige Präsident Jacques Chirac angekündigt hatte (vgl. Milan 2012: 4; European Counter Net-work 1995).

Wie Armin Medosch beschreibt, waren »Querverbindungen zwischen politi-schem Aktivismus, der DIY Kultur und der künstlerischen und kreativen

Nut-Anscheinend ereignete sich der erste bekannte Fall, der als politisch motivierte digitale Blo

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-ckade beschrieben wird, bereits am 5. November 1994 – interessanterweise dem Guy Fawkes Day. Laut Wikipedia war die sogenannte Intervasion of the UK die erste Antizipation der Idee des digitalen Ungehorsams und wurde umgesetzt als politische ›Distributed Denial of Service‹- (DDoS) Aktion, also auf Deutsch als sogenannte verteilte Dienstblockade. Bei einer solchen Aktion wird ein Server durch verschiedene mögliche technische Mechanismen gezielt überlas-tet, beispielsweise indem von verschiedenen Rechnern so viele Datenpakete versendet wer-den, dass der Server für legitime Dienstanfragen nicht mehr erreichbar ist. The Yippies aus San Francisco, die wir bereits aus der Kollaboration mit den Phone-phreakern kennen, protestierten damit gegen ein lokales Gesetz, welches Tanzfestivals im Freien sowie das Spielen von »music with a repetitive beat« (Wikipedia.org) untersagte. Die durchgeführte DDoS-Aktion wurde in Form einer sogenannten E-Mail-Bomb gegen britische Regierungsserver gerichtet. Ziel war eine Überlastung von Mailservern durch zu große simultan per E-Mail versendete Datenmen-gen. Anscheinend wurde der Server, der auch mehrere Webseiten der britischen Regierung hostete, für über eine Wochebeeinträchtigt, wodurch auch die Webseiten für diesen Zeitraum nicht zugänglich waren (vgl. ebd.). Der Vorfall wurde vom EFF und anderen Stimmen kritisiert, da die Yippies keine zeitliche Begrenzung der DDoS-Aktion geplant hatten und eine militante Sprache verwendeten (vgl. ebd.).

zung der neuen Medientechnologien […] von entscheidendem Einfluss nicht nur für Italien und StranoNet, sondern für viele Gruppen international, die sich Formen des politischen Aktivismus im Netz verschrieben« (Medosch 2003: 5).

Ihr Aufruf sprach von einer »demonstration of 1,000, 10,000, 100,000 netusers all together making part of a line crossing French Government’s sites. The re-sult of this strike will be to stop for an hour the network activities of the French Government« (Tozzi 1995). Am 21. Dezember 1995 wurden zehn Webseiten der französischen Regierung simultan von Tausenden von Nutzern immer wieder neu geladen, was die Webseiten für eine kurze Zeit für andere Nutzer unzu-gänglich machte. Laut den Aktivisten war diese Aktion »the networked version of a peaceful sit-in« (Milan 2013a: 47).

Die Aktivisten des StranoNet veröffentlichen ein Manifest und ein NetStrike-StarterKit für Nachahmer. Neben genauen Anleitungen zeigen ihre Ausführun-gen, dass die Zusammenkunft einer Gemeinschaft für sie tragend ist. »Kom-munikation im Internet soll helfen, gesellschaftlicher Isolation zu entkommen, Gleichgesinnte zu finden und mit ihnen Formen kollektiven Handelns zu erpro-ben‚ unter Benutzung aller Medien, auf die man Zugriff bekommen kann« (Me-dosch 2003: 9). 2001 wurde die Seite www.netstrike.it, deren Betreiber diese digitalen Protestaktionen organisierten, von der italienischen Justiz vom Netz genommen (vgl. Nowak 2001).

Von einigen Mitgliedern des CAE wurde indes 1997 ein weiteres künstlerisches Kollektiv ins Leben gerufen: das Electronic Disturbance Theater (EDT), »a small group of cyber activists and artists engaged in developing the theory and prac-tice of Electronic Civil Disobedience« (Wray 1998b). Das EDT bestand aus Ste-fan Wray und Ricardo Dominguez, Brett Stalbaum und Carmin Karasic. Eine Gruppierung, die sich als Anonymous Digital Coalition bezeichnete, hatte als Unterstützung der Zapatistas einen Aufruf zu einer DDoS-Aktionen gegen fünf Webseiten von mexikanischen Finanzunternehmen gestartet, dem sich das Electronic Disturbance Theater anschloss. Unter dem Aktionsnamen Digital Zapatismo (Nr. 14) rief das EDT öffentlich dazu auf, an den Aktionen teilzu-nehmen: »In solidarity with the Zapatista movement we welcome all netsurfers with ideals of justice, freedom, solidarity and liberty within their hearts, to a vir-tual sit-in. On January 29, 1998 from 4:00 p.m. GMT (Greenwich Mean Time) to

5:00 p.m. (in the following five web sites, symbols of Mexican neoliberalism)« (Dominguez 1998).

Das EDT entwickelte ein Tool namens Floodnet, welches die Abfragen der Zielwebseiten der DDoS-Aktion automatisiert. Das Floodnet-Tool basiert auf einer Java-Applikation »[which] performs automatic reloads of the site in the background, slowing or halting access to the targeted server, FloodNet also encourages interaction on the part of individual protesters« (Stalbaum). Darauf folgten weitere DDoS-Aktionen des EDT, die längste ereignete sich am 9. Sep-tember 1998 als Performance auf der Ars Electronica, einem Kunstfestival in Linz, wobei etwa 10.000 Teilnehmer die Webseiten des mexikanischen Präsi-denten, der Frankfurter Börse und des Pentagons mit Anfragen fluteten. An-scheinend ergriff das Pentagon gegen diese Aktion Gegenmaßnahmen, was jedoch nie endgültig bestätigt wurde (vgl. Meikle 2002a: 152ff.).

Die Applikation ermöglicht weitere Interaktion über das Tool, indem über eine Suche auf dem Server eine Nachricht im Server Error Log hinterlassen werden kann. Hierfür kann der Nutzer beispielsweise in einem Suchfeld »human_-rights« eingeben, wodurch im Server Error Log erscheint: »human_rights not found on this server«. Dieser Prozess, den das EDT als künstlerischen Aspekt des Floodnet-Tools ansah, basiert auf der automatisierten Abfrage, die ein Server für unbekannte Serveradressen durchführt. Im Januar 1999 machte das EDT das Floodnet-Tool per Download verfügbar, wodurch es von verschie-densten Akteuren und in verschiedenen Kontexten genutzt werden konnte (vgl.

ebd.: 162). Auch weitere Praktiken, die das Electronic Disturbance Theater als elektronischen zivilen Ungehorsam versteht, wie Mail Bombings und Web De-facements, wurden von anderen Gruppierungen, etwa den Elektrohippies an-lässlich der Alter-Globalisierungsproteste gegen die World Trade Organisation in Seattle (1999), adaptiert und begannen sich als Optionen des digitalen Pro-tests zu etablieren (siehe hierzu Sauter 2014: 39; Electrohippies 1999).

Erwähnenswert ist, dass die Aktivisten des EDT ihre Namen (jedoch nicht jene aller Mitstreiter) im Zuge ihrer Aktionen öffentlich bekanntgaben, da diese Pra-xis von späteren Gruppierungen nicht selbstverständlich fortgesetzt wurde.

Das EDT hat außerdem die Teilnehmer ihrer Aktionen ausdrücklich vor Konse-quenzen gewarnt: »This is a protest, it is not a game, it may have personal consequences as in any off-line political manifestation on the street« (Stalbaum

& Karasic). Die Gruppierung warnte ferner davor, dass IP-Adressen von Regie-rungen gesammelt werden könnten.

Die Aktivisten des EDT stellen jedoch in einem Interview klar, dass es sich bei ihren DDoS-Aktionen mithilfe des Softwaretools Floodnet zu Beginn ihrer Ak-tionen keineswegs um einen klaren Rechtsbruch handelte (was ebenfalls eine Diskontinuität mit dem bisherigen Verständnis von zivilem Ungehorsam ist).

»When we were doing the first FloodNet actions they were not illegal. Hence, there was no way that the right-wing media could have considered us as crimi-nals. I remember the time when the Electronic Frontier Foundation contacted us and said that our actions are actually going to change cyber-laws and pro-bably reduce cyber civil liberties. I certainly did not realise this long-term pos-sibility back then« (Tanczer 2015). Obwohl es noch nicht um einen klaren Rechtsbruch ging, sah sich das EDT durch seine Handlungen in der Tradition des zivilen Ungehorsams. Wie die Aktivisten selbst schreiben, haben ihre Ak-tionen ironischerweise eher zur Kriminalisierung von DDoS-AkAk-tionen beigetra-gen.

In einer Selbstbeschreibung verortet sich Dominguez in einem Spannungsfeld zwischen seiner Einbindung in eine Bildungsinstitution, nämlich als Professor an der Universität San Diego, und seinen politischen Aktionen; zugleich betont das EDT seine vornehmlich künstlerische Ausrichtung: »We are artists first, ar-tists who work with technology, and who also seek to amplify activist work« (ebd.).

Paradoxerweise wurden Dominguez’ subversive politische Experimente einer-seits durch staatliche Fördermittel finanziert, anderereiner-seits sah er sich bis 2012 mit drei Anklagen wegen seiner Aktionen konfrontiert. Die Anklagen wurden fal-lengelassen, doch musste er eine Erklärung unterschreiben, virtuelle Sitzblo-ckaden und auch andere aktivistische Tätigkeiten zukünftig zu unterlassen (Blas 2011).

Dominguez erläutert sehr explizit, dass die Prägung des Begriffs der virtuellen Sitzblockade vor allem strategisch war: »I think it’s much easier for people to manifest themselves if they can consider that it’s somehow bound to a history that they know. If I said ›virtual sit-in‹, it had a kind of pedagogical usefulness that the term that I would prefer – ›electronic civil disobedience‹ did not have« (zitiert nach ebd.). Die Erfindung des Begriffs des virtuellen Sit-ins lässt

sich als kommunikative Strategie verstehen, die das kulturelle Kapital nutzt, das mit der Etablierung von Sitzblockaden als Taktik zivilen Ungehorsams auf-gebaut wurde. Ungeachtet dessen, was technisch vor sich geht, ermöglicht die Metapher der virtuellen Sitzblockade den Eindruck, es handle sich um eine wohlbekannte, akzeptierte und gerechtfertigte Aktionsform (vgl. Sauter 2014:

32). Diese Übertragung einer bekannten Inszenierungsform zivilen Ungehor-sams ins Virtuelle bezeichnet Meikle als »backing into the future« (Meikle 2002a: 143), also als einen Versuch, durch die Adaption gesellschaftlich tra-dierter Inszenierungen Anschlussfähigkeit an den politischen Diskurs und sei-nen historischen Kontext herzustellen.

Der strategische Begriff der virtuellen Sitzblockade konnte sich als Beschrei-bung einer DDoS-Aktion etablieren und spielte auch bei einem Fall in Deutsch-land (Nr. 15) eine Rolle. Wie bereits oben anhand des Beispiels der Webseite 18 der Deportation Class erwähnt, führte das aktivistische Netzwerk Kein Mensch ist illegal unter der Führung der Organisation Libertad! im Jahr 2001 einen Pro-test unter dem Titel Stop Deportation Class an, der sich gegen die Beteiligung des Luftfahrtunternehmens Lufthansa an Abschiebungsflügen von Asylsuchen-den richtete. Hintergrund des Protests war ein Vorfall, der sich im Mai 1999 er-eignet hatte. Aamir Ageeb, der zuvor aus dem Sudan nach Deutschland geflo-hen war, verstarb aufgrund der Knebelung durch Grenzpolizisten während ei-nes Abschiebungsflugs, der durch die Lufthansa ausgeführt wurde. Über 13.000 Menschen partizipierten an dieser deutschen DDoS-Aktion gegen die Lufthansa, die auch mithilfe von Ricardo Dominguez und einer abgewandelten Version des Floodnet-Tools umgesetzt wurde (vgl. Sauter 2014: 53). Die Orga-nisatoren mussten sich 2005 wegen Nötigung vor Gericht verantworten,

Der deutschen Wikipedia zufolge fand in Deutschland angeblich am 29. Juni 2000 zwischen

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21:15 und 22 Uhr die erste politische DDoS-Aktion unter dem Namen Active Link Demonstrati-on statt, die vDemonstrati-on einer Stuttgarter Initiative und den Betreibern der Seite Odem.org organisiert wurde, einer »Plattform zur Veranstaltung von Online-Demonstrationen und Initiative zur Wah-rung der Menschen- und Grundrechte in einem freien Internet« (ODEM Online-Demonstrations-Plattform für Menschen- und Bürgerrechte im digitalen Zeitalter). Entstanden war das Vorhaben aus einem Semesterprojekt der Merz Akademie in Stuttgart (vgl. Pifan 2000). Die Initiatoren planten die Aktion als Protest für die sogenannte Linkfreiheit, also gegen die Abmahnung von Internetseitenbetreibern, die aufgrund von Hyperlinks in ihren privaten Webseiten erfolgten. Die geplante DDoS-Aktion sollte sich, wie der Spiegel schreibt, gegen »den Server der Bundesjus-tizministerin Herta Däubler-Gmelin« (ebd.) richten und diesen 45 Minuten blockieren. Ob die Aktion tatsächlich stattfand, gegen welchen Server sie sich richtete und inwiefern sie einen tatsächlichen Effekt hatte, lässt sich nicht vollends rekonstruieren.

den jedoch in zweiter Instanz freigesprochen, da die Tatbestandsmerkmale der Nötigung nicht gegeben waren und die damalige Rechtsprechung DDoS-Ak-tionen noch nicht als Computersabotage verurteilte, was heute nach neuer Ge-setzeslage der Fall wäre (siehe hierzu Marxen 2005; Valerius 2008).19

Sowohl der Gerichtsprozess als auch die gesamte Kampagne um diesen Fall verdienen eine ausführliche Auseinandersetzung, die ich im Kapitel 7.1 nach-holen werde. Hier soll es zunächst weiter darum gehen, nachzuvollziehen, wie sich DDoS-Aktionen als politische Praxis etabliert haben. Der folgende Ab-schnitt widmet sich jenem Phänomen, das entscheidend dazu beigetragen hat, dass DDoS-Aktionen auch in der Wissenschaft nahezu als Äquivalent des zivi-len Ungehorsams im Internet diskutiert werden.

2.7. Anonymous und die zweite Generation der

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 89-94)