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Beispiele digitalen Ungehorsams in sozialen Medien

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 55-61)

Übersicht: Fallbeispiele digitalen Ungehorsams 7

1. Symbolischer digitaler Ungehorsam. Politik in einer Welt der Zeichenin einer Welt der Zeichen

1.2. Beispiele digitalen Ungehorsams in sozialen Medien

Soziale Medien stehen in zahlreichen Untersuchungen als Werkzeuge und Plattformen der Mobilisierung und Kommunikation von Protestbewegungen im Fokus der Wissenschaft (siehe hierzu Poell 2014; Coenen et al. 2012; Gerbau-do 2012; Hands 2011; MacDonnell 2014; Smith 2009; Swenson 2011). Für digi-talen Ungehorsam erweisen sich soziale Medien als jene partizipative und de-zentrale Infrastruktur, die es – teils unter hohem persönlichen Risiko – erlaubt, ein verbotenes Angebot an »counter-expertise and counter-information« zu machen, »not least in the form of alternative interpretation of current events« (Van de Donk 2004: Xii).

Handlungen, die vielerorts durch das Recht auf freie Meinungsäußerung ge-schützt sind, stellen in anderen nationalen Kontexten je nach geltender Juris-diktion einen gravierenden Akt des sozialen Widerstands dar und je nach na-tionalem Rechtskontext ggf. auch einen Akt des zivilen Ungehorsams. Nach Schätzungen der Organisation Freedom House für das Jahr 2015 leben von 3

Milliarden Internetnutzern 47 % »in countries where individuals were attacked or killed for their online activities since June 2014«, und »58 % live in countries where bloggers or ICT users were jailed for sharing content on political, social, and religious issues« (Freedom House 2015). Öffentliche politische Kritik über soziale Medien, die in repressiven Verhältnissen massive Konsequenzen nach sich ziehen kann, wird möglicherweise nicht aktiv als ziviler Ungehorsam be-zeichnet, da die Handelnden ihre Kritik damit aktiv als Rechtsbruch deklarieren würden – was die zu erwartenden Konsequenzen noch verschärfen könnte.

Dennoch gibt es Fälle, die als »acts of social media based civil disobedience« (George Stroumboulopoulos Tonight 2014) Aufmerksamkeit er-regt haben.

Ein solcher Fall (Nr. 2), der paradigmatisch für unzählige vergleichbare Akte des symbolischen digitalen Ungehorsams in sozialen Medien steht, ist jener von Gopalan Nair. Der Jurist und US-amerikanische Staatsbürger, der damals in der Nähe von San Francisco lebte, kehrte 2008 geschäftlich in sein Heimat-land Singapur zurück, da er als Anwalt einen Oppositionspolitiker vor Gericht vertrat. Nair äußerte sich fortlaufend kritisch über die Regierung Singapurs in seinem Blog Singapore Dissident, so auch bezüglich dieses Gerichtsprozes-ses, dessen Verlauf er als gezielte Unterdrückung oppositioneller Stimmen in-terpretierte. So hieß es unter anderem in dem Blog: »The judge Belinda Ang was throughout prostituting herself during the entire proceedings, by being nothing more than an employee of Mr. Lee Kuan Yew and his son and carrying out their orders. There was murder, the rule of law being the repeated victim« (Nair 2008). Er schrieb dort auch über die führenden Köpfe der Regie-rung, sie seien »nothing more than tin pot tyrants who remain in power by abusing the courts to eliminate [their] political opponents« (George 2013: 386).

Für diesen Blogbeitrag wurde er wegen Beleidigung der Richterin angeklagt und zu drei Monaten Haft verurteilt. Zwei der drei Monate wurde Nair inhaftiert, da er sich in Reichweite der exekutiven Kräfte des Landes befand (vgl. George 2012: 183). Nair dokumentierte den Verlauf seiner Anklage über Youtube-Vi-deobotschaften, die bis zu 20.000 Zuschauer erreichten. 11

Siehe beispielsweise https://www.youtube.com/watch?v=XD7HWzgI97w (abgerufen am

11

15.08.2016).

Cherian George, der Nairs Fall wissenschaftlich aufarbeitet, deutet dessen kommunikatives Vorgehen in Gene Sharps Terminologie als »political jiu-jitsu« (ebd.: 185). Wie in der Kampfkunst des Jiu-Jitsu werde im politischen Kontext die Angriffskraft des Gegners gegen ihn selbst gewendet.

»Civil disobedience as a form of non-violent political struggle is most effective when it is mounted on behalf of a popular cause, and when the government’s response is obviously and disproportionately violent. In such situations, mem-bers of the public have been known to throw caution to the wind and join the struggle. If the authorities escalate their use of violence, the state itself can fracture, as the rulers’ loss of legitimacy prompts non-cooperation within the bureaucracy and even mutinies within the police and army« (ebd.: 196).

Nair versuchte demnach mit seiner öffentlich bekannten Inhaftierung Aufmerk-samkeit zu erregen und die Regierung Singapurs aufgrund ihrer unverhältnis-mäßigen Reaktion öffentlich zu beschämen.

Doch auch wo Meinungsäußerungen in sozialen Medien keinen oder zumindest keinen eindeutigen Rechtsbruch darstellen, ist die Rede von zivilem Ungehor-sam. Für den Fall (Nr. 3) der jungen ägyptischen Bloggerin Aliaa Magda El-mahdy aus Kairo, die 2011 ein Nacktfoto von sich selbst in ihrem Blog veröf-fentlichte, um gegen »a society of violence, racism, sexism, sexual harassment and hypocrisy« (Buss 2011) zu protestieren, ist die Linie zwischen kommunika-tivem Ungehorsam als Form des sozialen Widerstands und zivilem Ungehor-sam beispielsweise schwer zu ziehen. Der Post in ihrem Blog A Rebel’s Diary zog eine Phase heftiger Polemik während der ägyptischen Revolution nach sich. Kritische Stimmen forderten ihre Bestrafung, aber auch wenn Elmahdy heftige Beschimpfungen und Drohungen erdulden musste, scheint ihre Tat gleichwohl keine offizielle Strafverfolgung nach sich gezogen zu haben (vgl.

Kraidy 2012). Allerdings erfuhr Elmahdy massive Sanktionen in Form von To-desdrohungen und sogar einer Entführung, wie Presseberichte behaupten, wobei unklar ist, wie sie wieder freikam und wer die Entführer waren (vgl. Asad 2013). Elmahdy erhielt infolgedessen Asyl in Schweden, wo sie mit der feminis-tischen Aktionsgruppe Femen in Kontakt kam.

Ein weiterer Grenzfall symbolischen Ungehorsams (Nr. 4) ist die Reaktion, die auf eine Aussage des türkischen Premierministers Bülent Arinç im Juli 2014 folgte. Der Minister verkündete in einer Rede über die moralische Korruption des Landes seine Ansicht, dass es für Frauen unsittlich sei, in der Öffentlichkeit zu lachen. »[Women] will know what is haram and not haram. She will not laugh out loud in public. She will not be inviting in her attitudes and will protect her chasteness« (Journal 2014). Als Reaktion auf diese Aussage entstanden Stel-lungnahmen in sozialen Netzwerken wie Twitter, Facebook und Instagram unter dem Hashtag #direnkahkaha und #direnkadin, was so viel bedeutet wie Wider-standGelächter bzw. WiderstandFrauen. Dazu posteten Tausende Frauen Smi-leys und Bilder, auf denen sie lachend zu sehen sind (vgl. Letsch 2014). Die Bewegung hatte auch männliche Mitstreiter, wie unter anderen den Präsident-schaftskandidaten Ekmeleddin Ihsanoglu, der über seinen Twitter-Account schrieb: »Our country needs women’s and everyone’s laughter more than any-thing« (Journal 2014).

In einem Kontext, in dem Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen zur alltäg-lichen Lebenswelt gehört, konnte sich über soziale Netzwerke eine Gegenöf-fentlichkeit formieren, die bei vergleichbar provokativen Äußerungen auf öffent-lichen Plätzen vermutlich harsche Konsequenzen hätte fürchten müssen. Das Posten eines Bildes, auf dem eine lachende Frau zu sehen ist, ist auch in der Türkei kein Rechtsbruch und stellt eher einen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen oder einen Akt des Widerstands gegen kulturelle Repression dar.

So kommen manche Beobachter trotz der faktischen Legalität zu dem Schluss:

»The decision to show themselves happy, laughing and free on the Internet was the perfect act of peaceful civil disobedience« (Journal 2014). Auch wenn in der Presse in Bezug auf politische Proteste auf Facebook und Twitter die Rede von ›zivilem Ungehorsam in sozialen Medien‹ ist, lässt sich fragen, ob diese Bezeichnung hier tatsächlich immer Sinn ergibt. Um zivilen Ungehorsam weiterhin als spezifische Form des Protests zu verstehen, ist es sinnvoll, am Merkmal des absichtlichen Rechtskonflikts festzuhalten und ihn als Hand-lungskategorie gegen legale Formen des Widerstands abzugrenzen. Die Ein-ordnung von legalen Protesten als zivilem Ungehorsam und damit als einer verbotenen Protestform, die im Konflikt mit dem Recht steht, kann strategisch schädlich sein, da legalen Protesten hierdurch ein Anklang des

Außergewöhnli-chen und Riskanten beigelegt wird, während sie in einer lebendigen politisAußergewöhnli-chen Auseinandersetzung ohne jede rechtliche Folge zum kontroversen Diskurs der Öffentlichkeit gehören sollten.

Wie das Beispiel von Gopalan Nair zeigt, kann jedoch auch ein Akt der Mei-nungsäußerung in bestimmten Regimen, in denen der Ausdruck einer opposi-tionellen Kritik untersagt ist, einen Rechtskonflikt provozieren, so dass ziviler Ungehorsam in sozialen Medien keineswegs kategorisch auszuschließen ist.

Der Ungehorsam in sozialen Netzwerken kann sich jedoch nicht nur mit diesen entfalten, sondern sich auch dezidiert gegen die Regelsetzungen derselben sozialen Netzwerke richten. Wie eine Reihe von Fallstudien von Youmans und York zeigt, kann der technologisch-kommerzielle Fokus sozialer Netzwerke mit den Interessen von Aktivisten (und Bürgern) massiv kollidieren. »[T]he policies and user agreements of social platforms, including those of Facebook, You-Tube, and Twitter, have resulted in the banning of anonymous activist users, the removal of activist content, and the handing over of sensitive activist user information to governments« (Poell 2014). Nutzer unterzeichnen im Internet zwangsläufig umfassende Geschäftsbedingungen, sofern sie gängige Dienste nutzen wollen, und haben keine Möglichkeit des Einspruchs gegen einzelne Punkte derselben. Darüber hinaus behalten sich viele soziale Netzwerke vor, Inhalte, die von Nutzern veröffentlicht werden, nach eigenen, teilweise intrans-parenten Regeln zu regulieren (vgl. Rosen 2013). Auch wenn ein Verstoß gegen allgemeine Geschäftsbedingungen im deutschen Recht keinen strafrechtlich pönalisierten Rechtsbruch darstellt, kann von einem Vertragsbruch im zivil-rechtlichen Sinne gesprochen werden. Ein konkretes Beispiel hierfür (Nr. 5) ist der Protest gegen die Zensur von Bildern stillender Mütter auf Facebook, den man als Form symbolischen digitalen Ungehorsams verstehen kann. Ein Para-graph der allgemeinen Geschäftsbedingungen der Plattform untersagte das Einstellen von Nacktbildern, und diese Regel führte bis 2014 dazu, dass Bilder stillender Mütter ›explizitem Material‹ gleichgesetzt wurden, was zur Löschung solcher Posts und auch zur Sperrung des jeweiligen Accounts führen konnte (vgl. Mintz 2009). Die postenden Mütter empfanden diese Zensurakte als mas-siven Eingriff und unpassend, da sie der Meinung waren, dass Stillen keines-wegs obszön sei und auch in der digitalen Öffentlichkeit durchaus sichtbar sein dürfe. Es entwickelten sich mehrere Protestgruppen, wie beispielsweise im

De-zember 2008 jene von Stefanie Muir, für die nach Muirs Angaben mehr als 11.000 Mütter ihre Profilbilder durch Stillbilder ersetzten. Im Jahr 2014 änderte Facebook seine Geschäftsbedingungen. Dort heißt es seitdem: »Wir sind auch der Meinung, dass Stillen etwas Natürliches und Schönes ist, und freuen uns, dass es den Müttern wichtig ist, diese Erfahrung mit anderen auf Facebook zu teilen. Die überwiegende Mehrheit dieser Fotos entspricht unseren Richtlinien« (Facebook 2014). Nach wie vor zensiert Facebook jedoch Bilder, auf denen weibliche Brustwarzen sichtbar sind. Diese und auch andere Eingrif-fe des sogenannten private ordering, also der Regelsetzung durch privatwirt-schaftliche Akteure, geraten in verschiedensten Kontexten in die Kritik, jedoch entziehen sie sich bislang, teilweise auch aufgrund der Intransparenz privater Regelungs- und Durchsetzungsmechanismen, der direkten Einflussnahme der Nutzer. Der Protest der Mütter ist als symbolischer Akt zu sehen, da ihr Protest gegen die Zensur von Stillbildern symbolisch für allgemeinere politische Ziele steht, nämlich für die Forderung nach Gleichberechtigung der Geschlechter. Im Kontext der weltweiten Bewegung Free the nipple, die sich gegen die sexuelle Objektivierung von Frauen richtet, erweisen sich die Stillbilder auf Facebook als eine mögliche Artikulationsform dieser Forderung. Auf der Webseite der Bewegung kommunizieren die Initiatoren ihre Überzeugungen folgendermaßen:

»Free the nipple is a global campaign of change, focused on the equality, em-powerment, and freedom of all human beings. Free the nipple has become a premiere voice for gender equality, utilizing all forms of modern mediate to rai-se awareness and effect change on various social issues and injustices« (Free the Nipple). Nicht nur Facebook wird hier Medium des Protests, sondern eben-so der weibliche nackte Oberkörper. In vielen US-Bundesstaaten steht das Zeigen eines weiblichen nackten Oberkörpers bis heute unter Strafe, wohinge-gen männliche nackte Oberkörper toleriert werden. Die nackte weibliche Brustwarze steht also paradigmatisch für eine systematische Ungleichbehand-lung von Geschlechtern, die mit einer sexuellen Objektivierung des weiblichen Körpers einhergeht. Damit verhielten sich die Protestierenden zwar faktisch ungehorsam gegenüber den Nutzungsbestimmungen eines privaten Unter-nehmens, ihre Kritik richtet sich jedoch nur stellvertretend gegen Facebook selbst und adressiert in viel weitreichenderem Ausmaß eine grundlegende ge-sellschaftliche Ungerechtigkeit.

Die Beispiele, die ich als Nächstes vorstellen möchte, nehmen das Spielfeld symbolischer Politik noch in einer anderen Weise in Anspruch. Ungehorsame Inhalte werden hier nicht auf der bestehenden Plattform eines sozialen Medi-ums inszeniert, sondern auf einer eigens geschaffenen Webseite. Auch die In-halte, die bereitgestellt werden, unterscheiden sich von Kampagnen in sozialen Medien, und zwar dadurch, dass sie häufig Kritik über ein fiktives Narrativ zum Ausdruck bringen, indem sie nicht allein beschreiben, wie die politische Wirk-lichkeit, die sie kritisieren möchten, ist, sondern ein provokatives Szenario dar-stellen, das zeigt, wie sie sein könnte.

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 55-61)