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Der zivile Ungehorsam in einer fast gerechten Gesell- Gesell-schaft

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 193-197)

Zweitens: Warum wir trotzdem von zivilem Ungehor- Ungehor-sam im Digitalen reden sollten

4. Digitaler ziviler Ungehorsam im liberalen Verständnis

4.1. Der zivile Ungehorsam in einer fast gerechten Gesell- Gesell-schaft

Als Teil seiner Theorie der Gerechtigkeit entwickelt Rawls ein Verständnis von zivilem Ungehorsam als nicht-idealem Spezialfall seiner idealtheoretischen Be-trachtungen zur Gerechtigkeit und demnach für die Umstände einer »fast ge-rechten Gesellschaft« (Rawls 1979: 399). Er gliedert seine Überlegung zu zivi-lem Ungehorsam in drei Teile: die Definition, die Rechtfertigung und die Be-schäftigung mit der Rolle des zivilen Ungehorsams in der (fast gerechten) Ge-sellschaft. Durch einen Exkurs innerhalb dieses Dreischritts grenzt er zivilen Ungehorsam von der sogenannten Weigerung aus Gewissensgründen ab. 50 Rawls beginnt seine Überlegung zu zivilem Ungehorsam mit dessen Definition

»als einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber politischen gesetzwidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll«, jedoch drücke diese Handlung »Ungehor-sam gegenüber dem Gesetz innerhalb der Grenzen der Gesetzestreue« aus (Rawls 1979: 401, 403). Ziel des zivilen Ungehorsams ist daher für Rawls die Schaffung und Beförderung gerechterer Institutionen. Die Treue gegenüber dem Gesetz zeige sich dadurch, dass ein ziviler Gehorsamsverweigerer bereit-willig die Strafe für seine Tat anerkennt und verbüßt. Diese Beschreibung von Rawls geht mit der Haltung einher, dass der Ungehorsame etwas dafür »bezah-len« müsse, »andere davon zu überzeugen, daß unsere Handlungen nach sorg-fältiger Erwägung eine ausreichende moralische Grundlage in den politischen Überzeugungen der Gesellschaft haben« (ebd.: 404).

Rawls stellt drei Kriterien für die Rechtfertigung von zivilem Ungehorsam auf:

Das erste Kriterium besagt, dass ziviler Ungehorsam nur in Fällen »wesentli-cher und eindeutiger Ungerechtigkeit« (ebd.: 409) gerechtfertigt sei. Nach sei-nem Verständnis von Gerechtigkeit bedeutet dies eine »Beschränkung des zivi-len Ungehorsams auf schwere Verletzungen des ersten Gerechtigkeitsgrund-satzes, des Grundsatzes der gleichen Freiheit, und auf eklatante Verletzungen

Als Weigerung aus Gewissensgründen kann beispielsweise die Kriegsdienstverweigerung

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gesehen werden. Ronald Dworkin betrachtet, anders als Rawls, auch eine Verweigerung aus Gewissensgründen als zivilen Ungehorsam. Er beschreibt diese als zivilen Ungehorsam des integritätsbasierten Typs, den er von zwei weiteren Modellen unterscheidet, die er als gerech-tigkeitsbasiert und als Policy-basiert bezeichnet (Dworkin 1985: 108).

des zweiten Teils des Grundsatzes, des Grundsatzes der fairen Chancen-gleichheit« (ebd.: 409).

Das zweite Kriterium, man könnte es das Ultima-ratio- oder Last-resort-Kriteri-um nennen, besagt, ziviler Ungehorsam sei erst dann gerechtfertigt, wenn zu-vor legale Protestmittel gescheitert seien und keine andere Möglichkeit bleibe, um auf diese wesentliche Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen (vgl. ebd.:

408).

Drittens hat der zivil Ungehorsame nach Rawls abzuwägen, ob seine Aktion nicht zu viel Unruhe stifte. Gebe es, selbst durch gerechtfertigten Protest ver-schiedener Gruppen, zu viel Ungehorsam auf einmal, könne »das Funktionieren einer gerechten Verfassung gefährdet werden« (ebd.: 429). In einem solchen Fall sei, obwohl der Akt des Ungehorsams möglicherweise für sich gerechtfer-tigt ist, eine andere Strategie oder ein anderer Zeitpunkt vorzuziehen, da die Öffentlichkeit nur eine bestimmte Anzahl an Konflikten gleichzeitig verarbeiten könne. Rawls argumentiert einerseits, »wenn berechtigter ziviler Ungehorsam den Bürgerfrieden zu gefährden scheint, dann trifft die Verantwortung nicht die Protestierenden, sondern diejenigen, deren Machtmißbrauch einen solchen Widerstand rechtfertigt« (ebd.: 429). Jedoch zeigt dieses einschränkende Krite-rium der Rechtfertigung, die Begrenzung des gleichzeitigen Ungehorsams, dass Rawls der Stabilität und dem Funktionieren des Systems einen höheren Stellenwert zumisst. Dem zivilen Ungehorsam wird keine störende, sondern eine stärkende Rolle für dieses System zugeschrieben (vgl. ebd.: 421; vgl.

Smith 2013: 39).

Ein wichtiges Element für Rawls’ Theorie ist eine gemeinschaftlich geteilte Vor-stellung von Gerechtigkeit, die zum einen darauf beruht, dass jeder Bürger

»das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten [hat], das mit dem glei-chen System für alle anderen verträglich ist« (Rawls 1979: 81). Der zweite Grundsatz seines Gerechtigkeitsverständnisses ist substantiellerer Art und be-zieht sich auf die gerechte Verteilung von sozialen Gütern wie »Freiheit, Chan-cen, Einkommen, Vermögen und soziale Grundlagen der Selbstachtung, […]

soweit nicht eine ungleiche Verteilung jedermann zum Vorteil gereicht« (ebd.:

83). Rawls geht davon aus, dass jeder einigermaßen demokratische Staat auf dieser öffentlichen, geteilten Gerechtigkeitsvorstellung beruhe und dass sie die gemeinsame Interpretationsgrundlage der Verfassung sei. Auf eben diese

Grundsätze der Verfassung müsse sich auch der zivil Ungehorsame beziehen.

Der zivile Ungehorsam sei ein »Appell vor dem Forum der Öffentlichkeit« (ebd.:

413), der sich an die politische Mehrheit wende.

Beide Gerechtigkeitsgrundsätze sind als Hinweise darauf zu deuten, was Rawls unter einer nahezu gerechten Gesellschaft versteht, doch bestehen bei der Bestimmung ihrer genauen Beschaffenheit gewisse interpretatorische Spielräume. Rawls baut sein Staatsverständnis zwar auf dem gedanklichen Konstrukt eines Gesellschaftsvertrages auf, doch setzt er weiter eine grund-sätzliche und natürliche moralische Pflicht des Menschen zur Gerechtigkeit als Grundlage von staatlichen Ordnungen voraus (vgl. ebd.: 137; vgl. Smith 2013:

38). 
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Daraus leitet Rawls eine prinzipielle Pflicht der Bürger zum Gehorsam ab oder, wie David Lyons es ausdrückt, »a moral presumption favoring obedience to law (political obligation)« (Lyons 1998: 31). Diese Pflicht zum Gehorsam impliziert, dass jeder Verstoß eine angemessene Erklärung und Rechtfertigung verlangt.

Die selbstgegebene Verfassung einer Demokratie ist für Rawls der entschei-dende Bezugspunkt des zivilen Ungehorsams. Sofern »die demokratische Mehrheitsregel als beste Form eines gerechten Rechtsetzungsverfahrens ak-zeptiert [ist]«, sollen sich alle Bürger »aufgrund ihrer natürlichen Pflicht zur Un-terstützung gerechter Institutionen […] auch ungerechten Gesetzen fügen […], wenn sie auf demokratischem Wege zustande gekommen sind und eine be-stimmte Grenze nicht überschreiten« (Forst 1998: 197).

Im Fall von nahezu gerechten Verhältnissen geht Rawls also von einer Pflicht des Bürgers zum Gehorsam auch gegenüber ungerechten Gesetzen aus und betrachtet die Beachtung dieser Pflicht als den Normalfall. Erst wenn eine ge-setzliche Ungerechtigkeit ein bestimmtes Maß überschreite, sei Ungehorsam zu rechtfertigen (vgl. Rawls 1979: 392). Allein in diesem Fall brauche sich nie-mand, dem schweres Unrecht geschehe, zu fügen (vgl. ebd.: 421). Nach Rawls ist die Kernfrage für den Ungehorsamen eine Pflichtenkollision zwischen

Dennoch baut Rawls seine Theorie der Gerechtigkeit auf einem kontraktualistischen Ansatz

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auf, wobei er den Schleier des Nichtwissens als Moment der Vereinbarung eines gesellschaftli-chen Zusammenlebens versteht. Dieser Schleier verhindert als hypothetisches Denkkonstrukt, dass Menschen die Umstände ihres Lebens kennen (wie ihr Geschlecht oder den Ort ihrer Ge-burt), weshalb sie nach Rawls’ Ansicht Prinzipien einer gerechten Gesellschaft neutral und ohne Rücksicht auf partikulare Interessen begründen können.

setzesgehorsam und Widerstand gegen Ungerechtigkeiten (vgl. ebd.: 401), und dieser Konflikt veranschauliche die Grenzen der Mehrheitsregel, da trotz eines öffentlichen Gerechtigkeitssinns Minderheiten überhört werden könnten. »Mit zivilem Ungehorsam zwingt eine Minderheit die Mehrheit, zu prüfen, ob sie ihre Handlungen so aufgefaßt wissen möchte, oder ob sie angesichts des gemein-samen Gerechtigkeitssinnes, die berechtigten Forderungen der Minderheit an-erkennen möchte« (ebd.: 402).

Ziviler Ungehorsam stärke die Verfassungsgrundsätze, indem durch den Pro-test auf ihre Durchsetzung gepocht werde (vgl. ebd.: 421). Dabei geht es nicht zwangsläufig um einen Bruch des gleichen Gesetzes, gegen das protestiert wird. Rawls unterscheidet, wie viele weitere Theoretiker, direkten von indirek-tem zivilem Ungehorsam (ebd.: 401), wobei letzterer stellvertretend gegen ein anderes Gesetz verstößt. Rawls hält beide Formen für prinzipiell rechtferti-gungsfähig.

Nach Rawls ist ziviler Ungehorsam keine Taktik zur Veränderung eines Staats-systems, sondern werde bei voller Anerkennung der Verfassung ausgeübt, um die Mehrheit einer Gesellschaft auf eine Ungerechtigkeit aufmerksam zu ma-chen. Es sei ein mahnender Appell, keine Drohung, und dieser Appell sei un-vereinbar mit Gewalt. Seine Grundsätze seien in der Verfassung eines Staates festgeschrieben, nicht durch Religion oder individuelle Moral (was beispiels-weise für Thoreau die Rechtfertigungsgrundlage darstellt), und sie seien eben-so wenig durch Gruppen- oder Eigeninteressen zu begründen (vgl. ebd.: 423).

Bemerkenswert ist Rawls’ Einschätzung, wie vor Gericht mit zivilem Ungehor-sam umzugehen sei. Gerichte sind für ihn keineswegs zwangsläufig unfehlbare Entscheidungsinstanzen über Recht und Unrecht des zivilen Ungehorsams. Er geht davon aus, dass über die Rechtfertigung eines Aktes von zivilem Unge-horsam selbst vor Gericht nicht unbedingt korrekt entschieden werde; gegebe-nenfalls solle der Angeklagte über das Urteil hinaus auf seinem ungehorsamen Appell beharren. Rawls appelliert an die Gerichte, sie »sollten bei Protesten beachten, ob es sich um zivilen Ungehorsam handelt, der sich (jedenfalls an-scheinend) mit den politischen Grundsätzen der Verfassung rechtfertigen läßt, und aus diesem Grund die Strafe senken und in einigen Fällen ganz darauf ver-zichten« (ebd.: 425). Damit schlägt Rawls eine Prüfung von zivilem Ungehor-sam vor staatlichen Strafgerichten vor, die mit Sicherheit nicht deren

Alltagsge-schäft darstellt und rechtliche Herausforderungen mit sich bringt. Rawls räumt ein, auch ein Gericht sei »starken politischen Einflüssen keineswegs entzogen, die es zu einer Änderung seiner Verfassungsauslegung zwingen könnten« (ebd.: 428).

Die Beeinflussung von Gerichten stellt jedoch alles andere als den Normalfall innerhalb einer fast gerechten Gesellschaft dar, sondern deutet auf ein gravie-rendes Demokratiedefizit innerhalb eines Rechtsstaates hin. In dieser Wider-sprüchlichkeit deutet sich eine bekannte Kritik der idealtheoretischen Grundla-ge der liberalen Theorie an. Im FolGrundla-genden werde ich tiefer auf das grundleGrundla-gen- grundlegen-de Dilemma grundlegen-der Igrundlegen-dealtheorie eingehen und darauf aufbauend zeigen, welche Probleme sich daraus für das Verständnis von zivilem Ungehorsam ergeben.

4.2. Zur Problematik einer idealtheoretischen Grundlage für

Im Dokument Reload Disobedience (Seite 193-197)